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Zedler: Materie [1] HIS-Data
5028-19-2028-8-01
Titel: Materie [1]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 19 Sp. 2028
Jahr: 1739
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 19 S. 1062
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Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Personen
  • Transkribierter griechischer Text der Vorlage

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Übersicht
Arten
allererste Materie
  Existenz
  Ursprung
  Wesen

Stichworte Text   Quellenangaben
  Materie, Stuffe, Zeug, Lat. Materia, Frantz. Matiere.  
  Das Wort Materie oder Materia wird insgemein von dem Lateinischen Worte Mater oder Mutter, hergeleitet, daß es also dasjenige bedeute, was ein Weib zur Zeugung einer Frucht beyträget. Nach der üblichen weitläuffigern Bedeutung aber zeiget es alles dasjenige an, woraus etwas gemacht wird. Als  z.E. auf solche Weise heissen Holtz und Steine die Materie eines Hauses, u.s.w.  
Arten Es wird aber hiervon in den Schulen der Weltweisen überhaupt auf zweyerley Art gehandelt. Und zwar erstlich in der Metaphysick oder Ontologie, da die Metaphysick-Lehrer, sonderlich die aus Aristoteles Schule sind, viererley Ursachen setzen, nemlich zwey innerliche, als die Materie und die Forme, und zwey äusserliche, die würckende und End-Ursache.  
  Von der Materie aber, als der ersten, machen sie wieder unterschiedene Arten. Und heißt also  
 
1) die Materia ex qua,
2) die Materia in qua,
3) und die Materia circa quam,
 
  von deren jeder an ihrem Orte.  
  Hernach wird von der Materie auch in der Physick oder Natur-Lehre gehandelt, da man die würckliche Materie, woraus die natürlichen Dinge bestehen, betrachtet; da hingegen die Metaphysick-Lehrer die Materie bloß in abstracto ansehen; wiewol die neuern Philosophen zum Theil auch diesen Punct in die Metaphysick bringen, ja man daselbst auch die Materie in physicam und pneumaticam eintheilet; siehe Materia pneumatica.  
  Gleichwie nun in künstlichen Sachen, z.E. der Tisch aus Holtz oder Stein, eine Uhr aus Holtz oder Metall, das Brod aus Mehl bestehet; also hat auch ein jeder natürlicher  
  {Sp. 2029|S. 1063}  
  Cörper seine Materie, daraus er bestehet. Was aber selbige sey, und worinnen ihr Wesen zu suchen, hierüber erklären sich die Philosophen auf mancherley Weise, welches unter andern daher kommt, daß man das Wort Materie auf unterschiedene Art nimmt. Denn da einige einen Unterscheid unter der Materie und dem Cörper machen, und die Materie nicht bloß ansehen, wie sie sich den äusserlichen Sinnen darstellet, sondern mit ihrer Vernunfft auch auf die allererste Materie kommen, also sehen sie andere nur bloß nach dem Zustand, wie wir sie äusserlich empfinden, an, und nehmen Materie und Cörper vor eins.  
  Der Ordnung wegen wollen wir die Lehre auf beyderley Art fürtragen.  
allererste Materie Was die allererste Materie der natürlichen Dinge betrifft, so findet man allerhand Meynungen der Natur-Lehrer davon, dabey sonderlich drey Stücke vorkommen, was nemlich ihre Existentz, Ursprung und Wesen betrifft.  
Existenz Wegen der Existentz solcher ersten Materie haben zu allen Zeiten die Philosophen dafür gehalten, daß man solche zugeben müste, weil man sonst in der Herleitung einer Materie unendlich fortgehen müste, so aber der gesunden Vernunfft zuwider, welches auch in Ansehung unserer Erkänntniß allerdings nöthig, indem wir uns die Sache nicht anders vorstellen können, ob schon GOtt vermöge seiner Allmacht die Dinge, wie sie ietzo sind, auf einmal hätte schaffen können.  
  Rüdiger in physica div. … will solche Existentz aus der Vereinigung des Cörpers mit der Seelen beweisen, welchen beyderseits eine Ausdehnung zukäme, doch so, daß weder des Cörpers, noch der Seelen Wesen darinnen zu suchen, folglich müste ein Subjectum da seyn, welchem die Ausdehnung wesentlich beyzulegen, und das sey nichts anders, als die erste Materie.  
  Wegen des Ursprungs derselben hats mehr Schwürigkeit gegeben. Denn die sogenannten Barbarischen Philosophen sowol, als die in Griechenland, nachdem sie das Principium unrecht angenommen: aus nichts kan nichts werden; konten sich nicht einbilden, daß GOtt in der Zeit die Welt erschaffen, oder aus nichts herfür gebracht, und glaubten daher, daß zwey gleich ewige ursprüngliche Wesen wären, deren keines das andere erschaffen hätte, nemlich GOtt und die Materie. GOtt hielten sie vor vernünfftig, die Materie aber für dumm und unvernünfftig; jenen sahen sie vor den Ursprung alles Guten, diese aber vor den Ursprung alles Bösen an, welches sonderlich Wolff in seinem Tr. de manichaeismo ante manichaeos ausgeführet.
Ursprung Wie aber aus der Materie die Welt entstanden, darinnen waren sie unterschiedener Meynung. Plato glaubte, GOtt habe sich aus freyen Willen mit der Materie vereiniget, und die Welt herfürgebracht, weswegen er sagen konte, daß die Welt nicht ewig gewesen sey. Aristoteles hingegen und Zeno behaupten, daß die Vereinigung GOttes mit der Materie aus einer Nothwendigkeit geschehen wäre, daher sie nothwendig die Welt vor ewig ausgeben musten. Nur war Aristoteles von dem Zeno darinnen unterschieden, daß, da Aristoteles sagte, GOtt habe die Materie nur gleichsam berühret, und durch seine lebendigmachende Krafft die Creaturen gleichsam daraus gezogen, so gab Zeno für, daß dieses durch eine rechte Vermischung geschehen wäre.  
  Epicur hielte die Materie auch vor ewig, stimmte aber, was die Hervorbringungen der Welt betraff, den andern Philosophen nicht bey. Er sonderte GOtt von der Materie gäntzlich ab, welche ihr Heil durch eine blindlinge Bewegung selbst versuchen müssen, und da die an-  
  {Sp. 2030}  
  dern die Materie für einen einigen Klumpen hielten, so bestund seine Materie aus unzehligen Atomis, welche sich von Ewigkeit her, wie etwa kleiner Staub, in einem gerüttelten Glase voll Wasser, so lange bewegt, bis endlich da eine Welt, und dorten wieder eine andere sich angesetzet, welches Jacob Thomasius de stoica mundi exustione diss. 2. sehr deutlich erkläret hat.
  Zu den neuern Zeiten hat der sonst scharffsinnige Bayle dafür gehalten, daß man mit der Vernunfft gar nicht begreiffen könte, wie aus nichts etwas werden könte; folglich müste man nach der Vernunfft auf die Ewigkeit der Materie fallen, wie Buddeus in thesib. de Atheismo et superstition. cap. I. p. 161. angemercket.
  Eben dieses ist der Haupt-Grund des dogmatischen Atheismi, worinnen alle Atheisten, wenn sie gleich auf unterschiedene Art ihre atheistischen Systemata eingerichtet, übereinkommen, daß die Materie allezeit gewesen, und gehöre eine nothwendige Existentz zu ihrem Wesen, daß, wenn dieses über einen Hauffen geworffen, so müssen alle Systemata der Atheisten dahinfallen.  
  Der Grund dieses Irrthums war das in der gantzen heydnischen und atheistischen Philosophie sehr bekannte Axioma: Aus nichts wird nichts; woraus sie denn schlossen, daß die Materie ewig seyn müsse. Allein aus dem Wesen GOttes so wohl, als aus der Materie hätten sie vielmehr schliessen können, daß dieses Principium grundfalsch sey, wenn man es von der würckenden Ursache, die mit einer unendlichen Krafft begabet ist, annimmt. Denn betrachtet man die Sache auf Seiten GOttes, sofern er ein allmächtiges Wesen, dessen Macht keine Grentze gesetzet sind, so muß die Vernunfft daraus schliessen, daß er aus nichts etwas hervorbringen könne, indem, wenn er dieses nicht könte, solches ein Mangel seiner Macht wäre. Ja es erkennt die Vernunfft noch weiter, daß GOtt die erste Materie aus nichts habe erschaffen müssen, und das schliesset sie aus dem Wesen der Materie. Denn da selbige keine nothwendige Existentz hat, so ist sie nicht von sich selber, sondern dependiret von GOtt, der sie daher aus nichts hat erschaffen müssen; und wenn dieses geschehen, so kan sie nicht ewig seyn.  
  Es kommt also die Sache darauf an, daß man beweise, die Materie habe keine nothwendige Existentz, und das siehet man aus ihrem Wesen, indem man keinen Grund der Nothwendigkeit antrifft. Denn wie man keine Ursachen geben kan, warum die Materie allezeit nothwendig habe seyn müssen; also siehet man viel mehr aus ihren Eigenschafften der Ausdehnung und des Vermögens, eine Bewegung anzunehmen, das Gegentheil. Wäre sie nothwendig, so müste sie die vollkommenste Substantz seyn; wenn wir sie aber gegen eine geistliche halten, so befinden wir, daß diese edler vor jener sey. Man lese, was
  • Jacob Abbadie in seinem Buch de veritat. et certitud. relig. christ. …
  • Gastrell von der Wahrheit, Gewißheit und Nothwendigkeit … und
  • Buddeus in thesib. de atheis. et superstition.
wider die nothwendige Existentz der Materie disputiret.
Wesen Doch auf das Wesen der ersten Materie zu kommen; so haben die Philosophi insgemein sich gar dunckel hierüber erkläret. In der Historie der Schöpffung sagt Moses, die Erde wäre gewesen [zwey Wörter Hebräisch], wüste und leer, wodurch viele die allerbeste Materie verstehen, bey welcher Meynung die Worte Himmel und Erde, wenn er sagt: im Anfang schuf GOtt Himmel und Erden, ihre eigentliche Bedeutung nicht haben können, zumal wenn der gewöhnliche Verstand des  
  {Sp. 2031|S. 1064}  
  Hebräischen Worts [ein Wort Hebräisch], das ist, aus nichts etwas herfürbringen, oder erschaffen, statt haben soll. Doch ereignen sich dabey noch allerhand Schwürigkeiten, sonderlich, warum nur von der Erde das wüste und leer gesagt werde, da doch auch die himmlischen Cörper aus der ersten Materie kommen, und wenn man fürgeben wolte, Moses verstünde durch Himmel und Erde die zwey Elementen, so kan [zwey Wörter Hebräisch] die allererste Materie nicht anzeigen, weil die Elementen ebenfalls aus der allerersten Materie entstanden.  
  Inzwischen sind verschiedene gewesen, welche dafür gehalten, daß die Heydnische Meynung von dem Chao aus dieser Mosaischen Redens-Art ihren Ursprung genommen. Es haben nemlich die alten Philosophen sehr viel von dem Chao, als der ersten Materie, geredet, welches rudis indigestaque moles, wie Ovidius metamorph. lib. 1. v. 7. sagt,
  gewesen.  
  Was die Phönicier diesfalls gelehret, berichtet Philo Biblius aus dem Sanchoniathone, daß sie dafür gehalten, der Anfang aller Dinge sey eine finstere Lufft und wüstes Chaos, bey dem Eusebio praparat. evangel. lib. 1. cap. 10.
  und daß die alten Griechen in gleichen Gedancken gestanden, erhellet aus Orphei, Hesiodi, Menandri, Aristophanis, Euripides und anderer, und in Ansehung der Lateinischen aus Ennii, Varronis, Ovidii, Lucretii Zeugnissen.  
  Wenigstens siehet man daher so viel, daß sie das Chaos vor etwas flüßiges gehalten, daß also dieses Wort vermuthlich von cheo oder cheio, das ist, ich giesse, herzuleiten ist. Denn da die heutigen mechanischen Natur-Kündiger lehren, die Natur würcke aus dem festen ins flüßige, so kehrtens die alten um, und behaupteten, daß der Proceß der Natur aus dem flüßigen ins feste gienge, wovon man mit mehrern
  • Grotium in not. ad libr. de verit. relig. Christian. …
  • Burner in archaeol. philosophic. …
  • Dickinson in physic. veter. et ver.
  • van der Muelen in Dissert. philolog. de die mundi
  • Poßner in Dissert. de chao
lesen kan.
  Wie aber eigentlich diese erste Materie, oder das Chaos beschaffen gewesen, oder unserem Gemüthe nach der Wahrscheinlichkeit könne fürgestellet werden, darinnen sind die Natur-Lehrer nicht einig. Aristoteles scheint seine Gedancken hierüber mit Fleiß verdunckelt zu haben, weil er sich nach dem einmal angenommenen Vorurtheil, daß sie ewig, und die Welt von Ewigkeit sey, selbst darinnen nicht finden konnte, denn metaphys. lib. 7. c. 3. spricht er: dico autem materiam, quae per se ipsam neque quid, neque quantum, neque aliud qudpiam dicitur, quibus ens determinatur, über welche Worte sich seine Ausleger über die Masse gemartert haben, daß auch die Commbricenser frey bekannten, sie wüsten nicht, was diese erste Materie wäre, die auch in der That so beschaffen sind, daß man sich keinen würcklichen Begriff davon machen kan, indem er die erste Materie nur als eine pure Leidenschafft, und nicht als ein würckliches Wesen angesehen, dahero sich dieser Meynung viele sowol von den alten Kirchen-Vätern, als neuern Philosophen entgegen gesetzet. Siehe Morhof in polyhistor. … nebst du Hamel de consensu vet. …
  Rüdiger in physica divina … setzet dieses daran aus, daß er die Materie vor ein pur leidendes Wesen gehalten, da er doch vielmehr das Wesen der Materie in der Ausdehnung hätte setzen sollen, aus der ihre leidende Beschaffenheit flösse. Es käme dieses aus dem gemeinen Vorurtheil, als mache das Wesen des Cörpers die  
  {Sp. 2032}  
  Ausdehnung aus, da doch selbige nicht nur dem Cörper, sondern auch dem Geist zukomme.  
  Die alten Democriteer und Epicuräer sagen, daß die erste Materie, aus welcher hernach alle Cörper entstanden, anzusehen sey als unzehlig gleichsam unendliche kleine Stäublein, die sie Atamos heissen, welcher Meynung auch Gassendus ist, der zu den neuern Zeiten die Epicuräische Philosophie wieder hervor gesucht. Cartesius kommt in der Haupt-Sache mit den Epicuräern und Gassendisten überein, daß er die erste Materie als kleine Cörpergen ansiehet, folglich sey selbige in Ansehung der Quantität von andern daher entstandenen Cörpern unterschieden.  
  Wider den Gassend so wohl als Cartesium sucht der schon angeführte Rüdiger in physic. div. … zu beweisen, daß die allererste Materie keine Cörpergen könten gewesen seyn, erstlich, weil die Cörper nach der physischen Betrachtung in Ansehung der Quantität unterschieden; wolte man sie aber nach ihrem mathematischen Unterscheid, wie sie von ungleicher Grösse seyn, ansehen, so müste ja daraus folgen, daß an allen Cörpern einerley Eigenschafften wahrzunehmen. Denn es wären zwey gantz unterschiedene Dinge, wenn ich den Cörper mathematisch und physisch betrachtete, da nach der Mathematick zwar ein Unterscheid zwischen einem kleinen und grössern Cörper, nicht aber nach der Physick sey, indem einem klein Stückgen von einem Magnet eben die Eigenschafften, wie ein grosses, an sich hätte.  
  Hernach meynet er, es hätte diese Meynung auch die Schwürigkeit, daß man auf solche Weise mit der Bewegung der Cörper nicht könne zurecht kommen, und müste nothwendig die allererste Materie dem Cörper, und zwar wesentlich entgegen stehen. Er selbst setzet das Wesen der ersten Cörper, in der Extension, die nun gantz kleine physische Puncte beweglich, und von GOtt aus nichts herfürgebracht. Aus dieser Materie sey so wohl der Geist als Cörper entstanden, welchen beyderseits die Extension zukomme, daß folglich das Wesen des Cörpers nicht in der Extension, sondern in der Elastizität bestehen soll.  
  Es läst sich also von der ersten Materie und deren Beschaffenheit nicht viel philosophiren, und wenn man gleich dencket, man habe in seinen Gedancken die Sache noch so wohl abgefasset; so kan man doch nicht sagen, ob sichs in der That so verhalte, als man sich es einbildet. Manche sind darüber auf solche Subtilitäten gerathen, daß sie gar dem Concept einer Materie verlohren, wenn sie sich selbige als was einfaches fürgestellet.  
     

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Stand: 22. April 2012 © Hans-Walter Pries