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Quellenangaben |
praktische Betrachtung |
Bey der practischen Betrachtung der Rede setzen wir voraus, daß eine jede
Rede an und vor sich selbst, sie
mag
wahr oder
falsch seyn, indifferent ist, und
also die Wahrhaftigkeit, da man bemühet ist, nach seines Hertzens
Meynung zu
reden, an und vor sich weder eine
Tugend, noch
ein Laster seyn kan, sondern aus der Beschaffenheit des
Gebrauchs eins von
beyden werden
muß. Daher dieses die
moralische Natur der Rede ist, daß man sich
im Gebrauch derselben nach den
Regeln der
Billigkeit
und Klugheit richtet, oder nicht, wodurch sie entweder
vernünfftig oder
unvernünfftig wird. |
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Nemlich die Vernunfftmäßigkeit einer Rede bestehet
darinnen, daß solche in Ansehung eines andern mit den
Regeln der
Billigkeit,
oder
Obligation; in Ansehung aber mein selbst mit den Regeln der
Klugheit
übereinstimme; woraus im Gegentheil gar leicht zu schlüssen, worauf ihre
Unvernunfftmäßigkeit ankomme. |
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Unvernünfftig ist es, wenn ich zu des andern
Schaden was
sage, davon ich doch selbst keinen
Nutzen
habe; oder sage ihm die
Wahrheit nicht, da er doch ein
Recht hat,
solche zu wissen, wie wir mit mehrerm in dem
Artickel:
Lüge, im XIIX
Bande, p. 1073. u.ff. gezeiget,
und bald noch mit mehrerm weisen werden. |
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Man kan auch aus diesem
erkennen, worinnen das
Recht der
menschlichen Rede bestehe, nehmlich darinnen, daß ein jeder
Mensch
die Freyheit
zu reden, oder zu schweigen hat, nachdem er solches zur
Beförderung eines andern und seiner eigenen Wohlfahrth vor nöthig und nützlich
befindet. |
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Dieses voraus gesetzet, so müssen wir sehen, wie wir uns in Ansehung der
Rede zu verhalten haben? Diese Praxis kommet auf zwey Stück an, einmahl, wie wir
uns in Ansehung unserer selbst und unserer eigenen Rede; hernach in Ansehung
anderer und ihrer Rede aufführen sollen. |
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Unsere eigene Rede |
Die Aufführung in Ansehung unserer eigenen Rede beruhet auf zwey Stücke:
erstlich, wie wir uns gegen die Pflichts-Reden nach den
Regeln der
Billigkeit
oder
Obligation gegen einen andern, und gegen die
politischen Reden, nach den
Regeln der Klugheit unsern
Nutzen
bey der Rede zu beobachten, verhalten müssen. |
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Was |
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{Sp. 1596} |
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Verhalten nach der Billigkeit |
das erste, das Verhalten der Redenden, nach den
Regeln der
Billigkeit,
oder die
Pflichten der Redenden betrifft, so ist dieses allgemeine Gebot zu
mercken: Brauche die Rede, und andere
Zeichen des
Gemüths, die gemeine Ruhe menschlichen
Geschlechts zu
befördern. |
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1. Schweigen oder reden? |
Insbesondere hat man zu erwegen, erstlich: ob ich dasjenige, was ich im
Sinne habe, einem andern offenbahren soll? wobey nicht nur dieses Verbot:
schweige, wenn durch deine Rede andere
beleidiget, oder unschuldige in
Schaden
geführet werden; oder wenn die Gefälligkeit, oder ein Vertrag, oder gemeiner
Friede,
Verschwiegenheit erfordert: sondern auch das Gebot: rede, wenn du aus
Gefälligkeit, oder einem Vertrag zu reden verpflichtet bist; oder wenn dem
Schweigen andern Schaden oder Verachtung bringt, oder die gemeine Ruhe
verletzet, in Obacht zu nehmen. |
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Dieses Gebot übertreten diejenigen, welche eine der
Republic,
oder einem Mitbürger, oder insgemein ihrem Nächsten annahende Gefahr
verschweigen, ingleichen in ihrer Information nicht treulich lehren, und die
Untergebenen, wo es sich gehöret, nicht zur Rede setzen, oder
bestrafen, |
siehe
Thomasium c.l. §. 29. ff. der in Fundam. jur. nat. et gent. |
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diese Gebote also
kürtzlich ausspricht: schweige oder rede, so offt du durch deine
Verschwiegenheit oder Rede anderer Leute
Vortheil und
Nutzen befördern kannst,
und so offt durch Reden oder Schweigen eines andern
Rechte gekräncket werden,
daß also der erste Theil dieser Gebote eine Folgerung aus den
Regeln
der Anständigkeit, der andere aus den Regeln der Gerechtigkeit sey, |
wobey
Pufendorf
in jure nat. et gent. lib. 4. cap. 1. §. 7. und Willenberg
in Sicilim. lib. 3.
cap. 1. qu. 17. p. 429 zu lesen. |
2. Gebrauch anderer Zeichen? |
Zum andern, ob man in Erklärung dessen, was man gedencket, sich der
Zeichen,
so von andern erfunden sind, gebrauchen soll? Wobey folgende
Regeln zu
beobachten: brauche die
Worte
ohne erhebliche
Ursachen
nicht in anderer Bedeutung, als wie es die angenommene
Gewohnheit
mit sich bringt. Denn sonst würde durch den sonderlichen Gebrauch der Worte der
andere leicht beleidiget, und die gemeine Bewilligung, auf welche sich alle
Reden gründen, verletzet werden, |
siehe
Pufendorf
de officio hominis et civis, lib. I.
cap. 10. §. 2. mit
Titii Noten
p. 297. |
3. falsche Rede |
Drittens, ob die
Zeichen mit dem
Gemüth überein treffen müssen? Hierinnen haben wir ein
Gebot: rede, was mit deinem Gemüthe übereinkommt, wenn solches die
Billigkeit,
das ist, die Gefälligkeit, oder ein Vertrag, oder die allgemeine Ruhe erfordert.
Diesem stehet ein ander Verbot entgegen: enthalte dich von falscher Rede, wenn
dadurch ein anderer
beleidiget oder verachtet, und der
Friede
des menschlichen
Geschlechts gestöhret werden solte. Gehet aber dem andern
nichts ab, und mir ist viel daran gelegen, so kan ich meine Rede also
einrichten, daß sie etwas anders, als ich im Sinn habe, ausdrücke. Ja wenn wir
auch auf anderer Leute
Nutzen
sehen, welche also
geartet
sind, das, wenn wir ihnen die
Wahrheit
sagten, wir
ihnen dadurch Schaden thun würden, so sind wir in diesem Fall schuldig, eine
erdichtete, oder |
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{Sp. 1597|S. 808} |
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verblümte Rede zu gebrauchen, |
siehe Griebners
jurisprud. natural. lib. I. cap. 7. §. 3. p. 105. |
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wovon mit mehrern der
Artickel,
Lüge und
Wahrhafftigkeit, nachzusehen sind. |
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1. gegen Kinder u.a. |
Inzwischen machet man insgemein diese Anmerckungen vom Gebrauch falscher
Rede, daß man sich erstlich nicht ohne Unterscheid derselben gegen kleine
Kinder, und die, so ihrer Vernunfft beraubt sind, zu gebrauchen, weil sie eben
so wohl Menschen,
wie wir, und man sich also nicht ehe gegen dieselben erdichteter Reden zu
bedienen habe, als wenn ihr eigen Bestes dadurch mehr befördert werde, und so
ferne sie die blosse
Wahrheit nicht begreiffen könnten. |
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2. gegen Erwachsene |
Zum andern könne man gegen erwachsene eine erdichtete Rede zu einem guten
Endzweck, und zu ihrem
eigenen
oder dem
gemeinen Nutzen brauchen, welchen
Nutzen
man nicht hätte erreichen können, wenn man gleichzu
gesagt hätte; |
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3. zum Besten des Staats |
drittens könne man zum Besten der Republick
ihre Heimlichkeiten und Rathschläge, daran viel gelegen, daß man sie vor andern
verberge, mit erdichteter Rede verdecken, oder in zweifelhafftigen und duncklen
Sachen
einen Ausspruch thun, der einen nicht ums Hertze, die
Wahrheit zu erkundigen. |
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4. gegen Feinde |
Viertens könne man dem Feind durch erdichtete Avisen eine Nase drehen, wenn
es nur nicht in den Friedens-Schlüssen geschiehet, so wie mit dem Feinde
aufgerichtet, dieweil wir durch dieselben wo nicht gäntzlich doch etlicher
massen vom feindlichen
Stande
uns abgegeben. |
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5. kein Betrug |
Fünftens hält Grotius dafür l. 3. cap. 1.
§. 13. n. 1. de jure belli et pacis, es wäre keine Lüge, wenn
wir uns gegen jemand einer erdichteten Rede gebrauchen, welcher dadurch nicht
betrogen werde, obgleich der dritte
Mann daraus eine falsche
Meynung schöpffte, weil ich mit dem dritten nichts zu
schaffen habe; wobey andere meinen, daß dieses nicht so schlechterdings zu
sagen
sey, und allerhand Einschränkungen beyzufügen wären, wie
Pufendorf
gethan. |
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6. vor Gericht |
Sechstens fraget man: ob ein Beklagter, ohne vor einen eigentlichen Lügner
gehalten zu werden, seine Mißhandlung, deren er beschuldiget wird, läugnen, oder
mit erdichteten Beweißthümern die
Gerichte
betrügen könne? Die Antwort des |
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- Hobbesii de cive cap.
2. §. 19.
- Spinozä in tract. polit. cap. 3. §. 8.
- Pufendorfs
in jure nat. et gentium lib. 4. cap.
1. §. 20. wenn man dasjenige, was er im Capitel von
Straffen
schreibet,
conferiret,
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ist ja; |
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- des Herrn Thomasii aber in
jurisprud. divin. lib. 2. cap. 8. §. 85.
- und anderer
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ist nein, und nicht ohne Grund.
Denn hat der
Richter
Macht
und
Gewalt,
die
Wahrheit von dem Beklagten auf alle mögliche Art heraus zu bringen, so
folget aus dem Satze: daß man die Wahrheit reden soll, wenn derjenige, mit dem
ich zu thun habe, ein
Recht zu
derselben hat, von sich selbst, daß auch der Beklagte eine Schuldigkeit auf sich
habe, dem Richter die Wahrheit zu
sagen,
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siehe Dörings
Dissertation de obligatione delinquentis ad confessionem criminum propriorum
coram magistratu, Leipzig 1723. |
Zweideutige Reden |
Die zweydeutigen Reden und die Zurückhaltungen, oder die reservationes
mentales, wenn man etwas im Sinn behält, das zur Völligkeit des
Verstandes gehöret, sind nicht er- |
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{Sp. 1598} |
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laubet, wenn sie zum
Schaden des andern gereichen, da er nemlich ein
Recht der Rede
an mir hat. Die Jesuiten und etliche von denen so genannten Moralisten der
Römischen Kirche spannen die Sache gar zu hoch, wenn sie behaupten wollen, es
können solche Zweydeutigkeiten und Zurückhaltungen überall und ohne Unterscheid
statt haben, auch wenn der, so da frage, ein wohlgegründetes Recht dazu habe. Es
haben nicht nur die
Protestanten; sondern auch einige von den Papisten selbst diese Lehre
billig
als gottlos verworffen. |
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Man lese, was
- Montaltius in epistol. provinc. ep. 9. p.
236.
- Rivetus in explic. decalog. p. 297.
-
Pufendorf in jure naturae et gentium lib. 4.
cap. 1. §. 14.
- Hochstetter in colleg. Pufendorf. exerc. 7. §.
24.
-
Buddeus in institut. theol. morl. part. 2.
cap. 3. sect. 5. §. 33. not.
- Placette in divers traités sur des matieres de
conscience trait. 1. chap. 8. ff
- und andere
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erinnert. Ausser den schon angeführten und andern Scribenten
des
natürlichen Rechts lese man von dieser
Materie noch nach |
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- Uffelmann de obligatione hom. quae ex sermone
oritur.
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Titii Dissertation de officiis sermocinantium,
Leipzig 1695.
- Wernhers
Dissertation de officio hominis circa
sermonem,
Leipzig 1702.
- Simon Fr. Jägers
Disputation de officio circa
sermonem, Wittenb. 1691.
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nebst andern, welche in Hassens exercit. de peccato
silentii p. 5. angeführet werden. |
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