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Text |
Quellenangaben |
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Wahrhafftigkeit,
Lat.
Veracitas, oder Veritas
moralis, ist ein Bemühen, die
Wahrheit zu
reden,
und nicht etwas anders in dem Munde, als in dem
Hertzen zu haben. Diese Wahrhafftigkeit nehmen
wir theils bey
GOtt, theils bey den
Menschen
wahr.¶ |
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I Von der Wahrhafftigkeit GOttes.¶ |
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Hierunter verstehen wir die allerhöchste und
beständige Übereinstimmung der
Thaten und
Reden GOttes, oder diejenige Vollkommenheit
seines
Willens, da er denen
vernünfftigen
Geschöpffen alle nöthige
Erkänntniß zureichend
und nach vollkommener Wahrheit, zu ihrer
Seligkeit und seiner
Ehre, offenbahret. Nach
dieser Wahrhafftigkeit, sind GOttes
Worte nichts
anders, als gewisse unbetrügliche Ausdrücke
seiner
Begriffe und Vorstellungen. Da heisset es
Johann. XVII, 17: Dein Wort ist Wahrheit. |
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Und zwar ist die Wahrhafftigkeit in Ansehung
der Göttlichen Worte in folgenden Stücken
anzutreffen: |
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a) |
In den Erzehlungen die er
seinen Worten inseriret hat, in welchem kein
eintziger
erdichteter
Umstand ist. |
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b) |
In Verkündigung
zukünfftiger Dinge, |
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c) |
In Auslegung der
heilsamen Wahrheiten, |
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{Sp. 883|S. 455} |
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Psalm XIX, 8, |
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da alle Glaubens- und
Lebens-Lehren, die er uns in seinem Worte lehret,
der Wahrheit gemäß sind. |
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d) |
In den Verheissungen der
Wohlthaten. |
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e) |
In den Drohungen der
Straffen. |
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Diese Wahrhafftigkeit wird auch sonst die
Treue GOttes
genennet. Dieser Wahrhafftigkeit
und Treue GOttes sind folgende
Dinge
entgegen: |
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(a) |
Alles
Falsche, falsche
Reden und Lügen. |
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Hebr. VI, 18. |
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Es ist
unmöglich, daß
GOtt lüge. |
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(b) |
Alle List, Ränke und
Betrügereyen, welche in den
Handlungen der
Heydnischen Götzen hervorleuchten. |
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(c) |
Alle Heucheley und
Verstellung. Wenn zwar die Verstellung darinnen
gesetzet wird, wenn jemand seinen wahren
Sinn
und Absichten eine Zeitlang verbirget, daß ein
anderer dieselben aus seinem äusserlichen
Bezeigen nicht sogleich und gewiß
errathen kan;
So möchte es in den Handlungen GOttes mit den
Menschen zuweilen das Ansehen haben, als ob er
sich verstelle; Da er z.E. dem Abraham befahl, seinen
Sohn
Isaac zu opffern, so verbarg er ihm
seine wahre Absicht. |
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Allein diese Verstellung
stritte weder wider die
Wahrheit, als welche uns
nicht verbindet, bey allerley Umständen ohne
Unterscheid alle Wahrheiten zu entdecken u.s.w.
Noch wieder die Güte, in dem durch diesen
Befehl
weder dem Abraham, noch Isaac geschadet
werden solte, sondern vielmehr Abrahams
Glaube
und Isaacs
Gehorsam offenbahret und aller
Welt
zu der Nachfolge vorgestellet werden solte. Das
kan also keine eigentliche Verstellung bey GOtt
genennet werden. |
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Betrügliche und
schädliche
Verstellungen, da man sich äusserlich freundlich
und liebreich anstellet, damit man dem andern
desto gewisser schaden könne, können bey dem
höchst wahrhafftigen und aufrichtigen GOtt nicht
statt finden. Es ist ein teufflisches Laster, |
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Johann VIII, 44, |
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welches mit der Höchsten
Vollkommenheit GOttes gar nicht bestehen
kan. |
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Und das ist der
Begriff, den wir uns von der
Wahrhafftigkeit GOttes zu machen haben. Nun
folget, daß wir sie auch aus ihren
Gründen
herleiten, und
beweisen. Die Quelle der göttlichen
Wahrhafftigkeit ist, |
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a) |
die Höchst vollkommenste
Wahrheit seiner unendlichen Erkänntniß. Diese
verursacht, daß er auch vollkommlich die
Wahrheit offenbaren kan. |
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b) |
Seine
Liebe und Heiligkeit
bringet zu wege, daß er nur nach Vollkommenheit
handelt, und von allem, was Unvollkommenheit
heisset, sich auf das weiteste entfernet. Da nun
aber Falschheit und Lügen unter die
Unvollkommenheiten gehöret, so muß er sich
auch von dieser Unvollkommenheit nothwendig
entfernen. Folglich sind Liebe und Heiligkeit der
Grund, daß GOtt will die Wahrheit sagen. |
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c) |
Nach seiner
Weisheit
erwehlt er die besten
Mittel, und |
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d) |
nach seiner Liebe und
Gnade gegen die
Menschen thut er, was zu seiner
Ehre und ihrer Seligkeit gereichen kan. Darum
offenbahret er ihnen seinen
Willen mit
Verheissungen und Drohungen. |
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Also gründet sich die Wahrhafftigkeit GOttes
auf unbewegliche Stützen, und man siehet, wie
sicher man sich darauf verlassen könne. |
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Die
H. Schrifft behauptet die Wahrhafftigkeit
GOttes erstlich positiv, indem er der wahre,
wahrhafftige und getreue GOtt genennet wird.
Treu ist GOtt, u. kein |
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{Sp. 884} |
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Böses (keine
Falschheit) an ihm, |
5 Mos. XXXII, 4. |
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Solte der Menschen Unglaube GOttes
Glauben (oder Treue) aufheben? Das sey ferne!
Es bleibe vielmehr also, daß GOtt sey wahrhafftig
und alle Menschen falsch, |
Röm. III, 3, 4. |
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Die Wege des Herrn sind lauter Güte und
Wahrheit, |
Psalm XXV, 10. |
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Des Herrn Wort ist wahrhafftig, und was er
zusagt, das hält er gewiß. |
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Zweytens negativ. Es wird alle Lügen, Betrug
und Falschheit von ihm abgelehnet. Der Held in
Israel leuget nicht. |
1 Sam. XV, 26. |
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Und Tit. I, 2, wird er GOtt, der nicht leugt,
(apseudēs Theos) genennet. |
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Wir leiten hieraus folgende
Wahrheiten
her: |
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1) |
Ist
GOtt wahrhafftig, so
bekommt sein
Wort eine vollkommene Gewisheit,
Glaubwürdigkeit und Infallibilität. Daher wird es
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Coloss. I, 5, |
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Johann XVII, 17, |
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2) |
Wir können uns auf sein
Wort, und insonderheit auf seine Treue und
Verheissungen, sicher verlassen, wie |
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2 Sam. VII, 28, |
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Röm. IV, 20, |
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ja wir sind solches zu thun
schuldig, sonst machen wir ihn, durch Unglauben
zum Lügner, |
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1 Johann. V, 10. |
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Ist es nun unter den
Menschen ein grosses Unrecht, einen ehrlichen
Mann für einen Lügner zu halten, wie vielmehr,
wenn wir GOtt davor halten. |
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3) |
Wir haben
Ursache, uns
für seinen Drohungen zu
fürchten, die eben so
gewiß, als seine Verheissungen erfüllet
werden. |
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Jos. XXIII, 14. 16. |
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Es sind also dieselben
kein blinder Schrecken. |
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4) |
Wir sind
verbunden, uns
nach GOttes Exempel der Wahrheit zu
befleissigen, und alle Lügen, sie haben
Nahmen,
wie sie wollen, abzulegen, auch alle Heucheley,
Falschheit und Verstellung zu vermeiden, |
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Jacob. V. 12. |
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Paulus hatte Ephes. IV
von der Erneuerung zu GOttes Bilde geredet,
Lügen aber gehöret zu dem Bilde des Teuffels.
GOtt ist ein GOtt der Wahrheit, und nach dessen
Bilde müssen wir erneuert werden. Der Satan
aber ist ein Lügner, in dessen Pfuhle alle Lügner
ihr Theil empfahen werden. Hieraus ziehet der
Apostel in dem 25 Verse diesen
Schluß: Darum
leget die Lügen ab, u.s.w.¶ |
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II Von der Wahrhafftigkeit der
Menschen.¶ |
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In dem
Stande der Unschuld war bey den
ersten Eltern eine vollkommene Wahrheit
(alētheia) und rechtschaffenes Wesen anzutreffen.
Denn wo sich Heiligkeit und Gerechtigkeit findet,
da kan keine Falschheit, Betrug und Heucheley,
Statt finden. In Christo, dem wesentlichen
Ebenbilde GOttes, ist alētheia, Wahrheit, oder ein
rechtschaffenes Wesen, |
Ephes. IV, 21. |
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Und so lange der
Mensch dessen Bild trug,
so waren alle seine äusserlichen
Handlungen
seiner innerlichen Gemüths-Beschaffenheit
gemäß. Und das heisset alētheia, Wahrheit. 2
Corinth. XI, 3, wird es aplotēs, eine Heilige Einfalt,
genennet. |
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Nach dem
Falle, ist diese Wahrhafftigkeit, als
eine
Tugend betrachtet, ein beständiges
Bemühen, alle
Reden, die wir mit dem Nächsten
von Göttlichen, oder menschlichen Dingen führen,
also einzurichten, daß zwischen unsern
Worten
und
Meynungen, wie auch der
Sache selbst, eine
accurate Übereinstimmung angetroffen werde.
Zu |
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{Sp. 885|S. 456} |
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dieser Tugend werden wir Zachar. VIII, 16.
Matth. V, 37. und Ephes. IV, 25. ermahnet, da es
heisset: Leget die Lügen ab, und redet die
Wahrheit ein Jeglicher mit seinem Nächsten,
sintemahl wir unter einander Glieder sind. |
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Das Gegentheil hiervon ist allerley
Art Lügen,
dahin auch schädliche Äqvivocationen, sinnliche
Reservationen, Verleumdungen, falsche
Zeugnisse, Schmeicheleyen u.s.w. gehören. |
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|
Die Wahrhafftigkeit der Menschen kan füglich
in zwey Gattungen eingetheilet werden. Die erste
davon ist die wahre Aufrichtigkeit in
Worten und
Wercken, welcher die Stellung und Verstellung,
Heucheley, und allzu grosse Einfalt, entgegen
stehet. Damit dieses unsern Lesern desto
deutlicher in die Augen leuchte, fügen wir |
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α) eine
Philosophische Erklärung
hinzu. |
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Die Wahrhafftigkeit der
Menschen, an und für
sich selbst betrachtet, ist weder eine
Tugend,
noch ein Laster, und muß ihre
moralische Natur
aus dem Gebrauche derselben, ob derselbe den
Regeln der
Billigkeit und
Klugheit gemäß,
beurtheilet werden. Denn die
Wahrheit
reden, kan
so wohl in Ansehung unserer
Obligation, als auch
unsers
Nutzens, der gesunden
Vernunfft so offt
zuwider, als gemäß seyn; Und dem andern die
Wahrheit verbergen, kan so offt der gesunden
Vernunfft, in Ansehung unserer Obligation und der
Klugheits-Regeln, gemäß seyn, als ist derselben
zuwider seyn kan. Hieraus erhellen folgende
Sätze:¶ |
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I. Es sind nicht alle Unwahrheiten
untersaget. |
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Denn nicht alle Unwahrheit ist eine Lügen, in
sofern diese, gebräuchlichermassen, für ein
Laster genommen wird: Indem jene in gewissen
Fällen mit höhestem
Rechte vergönnet, ja eine
Pflicht seyn kan. Eine Wahrheit, welche zu wissen
und von uns zu
erfahren der andere kein
gegründetes Recht hat, und durch deren
Verschweigung hingegen wir unsern eigenen,
oder eines dritten, oder auch desjenigen selbst,
dem wir sie verschweigen, wahren Nutzen
befördern können, sind wir zu verschweigen mit
höhestem Rechte befugt, ja, nach Befinden, durch
das natürliche Recht, und also in unserm
Gewissen,
verbunden, welche Pflicht die
Verschwiegenheit heisset; Zu welcher auch alle in
diesem Falle erforderliche Wahrheiten und
Verstellungen, in
Reden, Gebehrden und
Thaten,
gehören. |
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Wir sehen also, daß die Wahrhafftigkeit offt
zu dem schändlichsten Laster werden könne,
nehmlich in solchen Fällen, wenn man eine
Wahrheit
sagt, die man zu verschweigen
verbunden ist, oder auch nur, wenn man eine
Wahrheit, aus Einfalt, zu seinem
Schaden
entdecket, die man, nach den Regeln der
Billigkeit, oder unserer Obligation, zu entdecken
nicht verbunden war. |
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Ja es verdienet offt für eine lobwürdige-Tugend und
Geschicklichkeit eines sinnreichen
Kopffes gehalten zu werden, wenn man den
andern mit einer wohl ausgesonnenen Unwahrheit
betrügen kan, und dadurch eine Wahrheit
verschweiget, und, durch Verstellung, auf alle
Weise zu verdecken geschickt ist, welche man zu
verschweigen in seinem Gewissen verbunden ist,
als wenn man z.E. einem Feinde Unrecht saget,
wo der hingegangen ist, den er mit blossem
Degen verfolget; Oder auch nur, wenn man zu
seinem Nutzen eine Wahrheit mit guter Manier
verbergen, |
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{Sp. 886} |
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und unwahrscheinlich machen kan, welche
man dem andern auf die Nase zu binden in
seinem Gewissen, nach göttlichen und
weltlichen
Rechten, nicht verpflichtet ist. |
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Gleichwie es also alber seyn würde, allen
Gebrauch des Feuers, ohne Unterschied des
Zweckes, für
gut zu halten, es mag es nehmlich
ein Hauß-Vater,
zu der häußlichen
Nothdurfft,
oder ein Mordbrenner,
Städte und
Dörffer damit
anzustecken, gebrauchen: So würde es auch
alber seyn, allen Gebrauch der
Wahrheit und
Offenhertzigkeit für eine
Tugend zu halten, es
mag sie nehmlich ein ehrlicher Mann, zu seinem
und seines Nächsten wahren
Nutzen, oder ein
Judas, Christum, und ein Landes-Verräther, das
Vaterland zu verrathen, gebrauchen. Denn was
that jener Ischarioth anders, als daß er den
Jüden
die wahrhafftige Nachricht hinterbrachte, welcher
unter der
Gesellschafft Christus wäre? Und wird
ein jeder Verräther, eben dadurch ein Verräther,
daß er die Wahrheit saget? |
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So alber es ferner seyn würde, allen
Gebrauch des Gifftes, ohne Unterschied, für
sündlich zu halten, nehmlich nicht allein, wenn er
zu heimlichen Mordthaten sondern auch, wenn er
von einem Chymicus, oder andern Künstler, zu
dem menschlichen Nutzen angewendet wird:
Eben so alber ist es auch, alle Unwahrheit und
Verstellung für sündlich zu halten, es besitze sie
entweder ein Betrüger, oder ein kluger Staats-
Mann, der die Aufmercksamkeit der Feinde und
Spione, welche die auf dem Tapet seyenden
Absichten auszuforschen bemühet sind, durch
wohl ersonnene Finten, geschicklich hinter das
Licht zu führen weiß. |
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Demnach ist es keine wohlgegründete
Sittenlehre, wenn man saget, ein ehrlicher Mann,
oder auch ein Christ, müsse allezeit und ohne
Unterschied offenhertzig, und ohne alle
Verstellung seyn, er müsse allenthalben die
Wahrheit, und nie ein anders, als was er dencke,
reden. Es ist solches so viel gesagt, als, ein
ehrlicher Mann müsse unter vielerley
Mitteln,
deren bald das eine, bald das andere, den
Zweck
zu erhalten, nöthig, und deren jedes, nach dem
Unterschiede der Umstände, bald zu den Zwecke
dienlich, bald demselben zuwider ist, sich
dennoch nur an eines davon binden, und den
Gebrauch desselben, ohne allen
Verstand, es sey
nun zu den Zwecke dienlich, oder nicht, sich
beständig angewöhnen; Er müsse also, für
grosser vermeynter Ehrlichkeit, alle gute
Vernunfft
(wenn es auch die
Billigkeit
selber wäre, als welcher die Wahrhafftigkeit so schier zuwider, als gemäß seyn
kan) verleugnen. |
Hievon hat
Müller
über Gracians Oracul, in der 13 und 18 Maxime,
gehandelt. |
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Mit dieser philosophischen Erklärung wollen
wir |
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β) eine historisch-theologische
Anmerckung verbinden. |
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Die Christen des 1. und 2 Jahrhunderts
befliessen sich vor allen
Dingen der
Wahrheit, wie
sie denn vor eine Sünde hielten, wenn man nicht
in allen Dingen die Wahrheit redete. Also
bekannten sie öffentlich: |
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„Wir sind GOttes Nachfolger, und mit unserm
Zustand ist es dermassen beschaffen: Wie wir
etwas bey uns gedencken und überlegen, so
lauten auch unsere Worte, und wie die Worte sind,
so sind auch die Wercke, ja, wie |
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{Sp. 887|S. 457} |
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die Wercke, ist das gantze Leben, nehmlich,
das gantze Leben der Christen ist durchgehends
gut.„ |
(Clemens Alexandr. protrept.
ad gent. …) |
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Indem nun
Wort und Wandel bey ihnen so
richtig zusammen stimmeten, so hatten sie keines
Schwörens von nöthen, die Wahrheit zu
bestätigen, es war gnug, wenn sie Ja, oder Nein
sagten, oder noch hinzusetzeten: Ich rede die
Wahrheit! Damit konnten diejenigen, welche die
Unfehlbarkeit ihrer Worte nicht alsofort einsahen,
schon zu frieden und gnugsam versichert seyn;
Ob sie sich gleich nicht gäntzlich wegerten, bey
Erfordern der
Nothwendigkeit, einen
Eydschwur
abzulegen. |
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Doch, dieser Wahrheits-Liebe ohnbeschadet,
giebet Hermas (Lib. II. …) nicht undeutlich zu
verstehen, es sey zuweilen erlaubet, mit Worten
von der Wahrheit abzugehen. Die Väter des
andern und dritten Jahrhunderts bejahen solches
noch deutlicher. Als Clemens Alexandrinus und
Origines. Dem Origines sind in dieser
Meynung
sehr viele nachgefolget. Wir nennen hievon nur
den Verfasser der Recognitionum Clementis.
Plato nahm des Pythagoras Meynung an, und
lehrete, denen Vorstehern einer
Republick sey vor
andern erlaubet, der Feinde, oder
Bürger wegen,
zum Nutzen der Republick, zu lügen und zu
betrügen. Nun ist bekannt, daß die Christlichen
Lehrer des andern und dritten Jahrhunderts, und
insonderheit Origines und seine
Schüler, aus
Liebe zu dem Plato, vieles von ihm angenommen
haben. |
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Dieser Irrthum der Lehrer in den ersten
Jahrhunderten hat der Kirche grossen
Schaden
verursachet, und die Christl. Religion zu einem
Spotte der Feinde gemacht. Daher sind so viel
Wunder-Wercke erdichtet, so viel Fabeln in den
Geschichten der Heiligen eingestreuet, so viel
Bücher unter dem
Nahmen
Christi, der Apostel,
und grosser
Männer, an das Licht gebracht
worden. |
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Es kam endlich auch daher die
Disputir-Kunst, welche man in den 4 und 5 Jahrhunderte
kat' oikonomian zu nennen pflegte. Wer sich
derselben bediente, der meynte, es sey recht, die
Gegner mit Betrügereyen zu hintergehen, und mit
allerley List und Lügen der Wahrheit zu Hülffe zu
kommen. Hieronymus (Comment. ad ep. ad Galat.
…)
schreibt selbst: |
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„Es ist nicht zu verwundern, daß auch fromme
Leute nach Gelegenheit sich und andern zum
Besten etwas unwahres vorbringen; Da auch
unser Herr, welcher keine Sünde, auch kein
sündliches Fleisch hatte, die Gestalt des
sündlichen Fleisches angenommen, damit er die
Sünde im Fleische verdammete, und uns vor GOtt
gerecht machete.„ |
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|
Augustinus hat Hieronymus unterschiedene
mahl deswegen getadelt, er hat aber diese
Meynung nicht ablegen wollen. Chrysostomus hat
mit dem Origines eben diese Meynung
gehabt. |
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Die Priscillianisten gaben in dem 5
Jahrhunderte vor, ihre Lehrsätze zu verbergen, es
wären alle Lügen erlaubet, die einen
Nutzen
brächten. Ihr Sprüchwort ist bekannt: Jura,
perjura; secretum prodere noli. Einige Christen
wolten sich dieses Vortheils bedienen, und
suchten dieselben mit Lügen zu hintergehen,
dadurch hinter |
|
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{Sp. 888} |
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|
ihre Geheimnisse zu kommen. Es entstand
daher unter den Christen die wichtige Frage: Ob
man in gewissen Fällen wider die Wahrheit reden
könne? Augustinus widersetzte sich in zwey
Büchern de Mendacio, (von der Lügen). Es haben
einige vermeynt, Augustinus sey zu weit
gegangen, und haben das sogenannte
Mendacium Officiosum (die
Amts-Lügen)
entschuldiget. Dieses ward endlich für eine
problematische Frage gehalten und man durffte
auf beyden Theilen darwider
disputiren.
Heliodorus (Aethiopicorum …) schreibt: |
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„Eine Lüge sey gut, wenn sie dem nütze, der
sie sagt, und dem nichts schade, der sie
höret.„ |
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Johannes, der, nach dem
Titel seines
Buches, Climax, genennet wird, widerspricht ihm.
In der Lateinischen Kirche sagt Caßianus: (in
collationibus Patrum, …) Das Lügen sey, wie
Niesewurtz, im Nothfall allerdings heylsam. |
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Gregorius Magnus (in Moralibus in Job. …) ist
gantz anderer Meynung, und spricht, die
Egyptischen Wehmütter hätten bloß eine zeitliche
Belohnung empfangen, wären aber der ewigen
Seeligkeit dabey verlustig worden; Weil sie einen
Betrug, die
Söhne der Israeliten zu erhalten,
gebraucht. |
|
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Das Concilium Toletanum VIII, in dem
Jahr
653, und Troslejanum, in dem Jahr 909, lehren,
man müsse es in
Schrifften und öffentlichen
Versammlungen mit dem Augustinus halten; In
andern Fällen könne man aber doch gelinder
urtheilen. |
|
|
Bey denen Scholastickern war Augustinus in
grossem Ansehen, und also war auch desselben
Meynung in diesem Stücke beybehalten; Doch
nahm Hugo de St. Victore die schertzhafftigen
Lügen von den Lügen aus, und Gabriel Biel lehrete, eine falsche Rede, womit GOtt einen
andern zu betrügen befohlen, habe nicht die
Natur
einer Lüge. |
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In dem 12 Jahrhunderte bekräfftigte der
Römische Pabst, Innocentius der III, durch einen
Schluß, daß alle falschen Reden solten
verdammet seyn. |
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Die Verfasser des Tridentinischen
Catechismus, welcher in dem 16 Jahrhunderte auf
dem Concilio zu Trident gemein gemacht wurde,
sagen: (P. III. …) [vier Zeilen lateinischer Text] D.i.
Es ist überdieses, einen aus Spaß, oder
Amtshalber, mit einer Lügen zu hintergehen,
(obschon Niemand davon
Schaden, oder Nutzen,
hat) doch allerdings unanständig; Denn so
vermahnet uns der Apostel: Leget die Lügen ab,
und redet die Wahrheit. |
|
|
Die Römischen Theologen folgten dieser
Meynung einmüthig. Nicol. Abramus, ein Jesuit,
bemühete sich, die
Rechte der
Wahrheit wider die
Lügen zu vertheidigen, wolte aber doch dabey
beweisen, daß die Äqvivocationen oder
Zweydeutigkeiten, welchen viele Gesellen seines
Ordens hold sind, nach dem Exempel Christi,
erlaubet wären. |
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Carol. Ambrosius Cattaneus, ein
Meyländischer Jesuit, gab ein Buch, unter dem
Titel: Lezione Sacre. heraus, worinnen er auch
diese Lehre seiner Kirche gemäß vortrug; Er wolte
aber dabey die Einschrenckungen in dem
Gemüthe nicht verwerffen, und weil er sahe, daß
die Lügen einen |
|
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{Sp. 889|S. 458} |
|
|
Widerspruch der
Worte gegen das
Gemüth in
sich fasseten, so leitete er gleichsam diesen
Grundsatz daraus: Daselbst könne kein Beyfall
oder Widerspruch, Statt haben, wo keine
Anzeigung der Worte sey. Nach 20 Jahren griff
Joseph Augustinus Orsius, in einer kleinen
Schrifft, diese
Meynung an; worauf viele Streit-Schrifften gewechselt wurden, obgleich
Cattaneus
schon todt war. Ob schon die
Weltweisen eine
andere Meynung dißfalls vortragen, so werden sie
doch deswegen nicht unter die Ketzer
gezehlet. |
|
|
Gabriel Naudäus hat sich in einer besondern
Abhandlung bemühet, den
Ärtzten eine
Freyheit
zu betrügen beyzulegen. Cartesius (in
Meditationibus de prima Philosophia …) räumet
gar ein,
GOtt selbst könne, den Worten nach,
lügen. |
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Bey der Reformirten Kirche hat es anfangs
frey gestanden, die Meynung, welche ein jeder für
die Beste gehalten, zu erwählen. Johann Calvinus
(Institut. relig. Christ. …) scheinet selbst nur die
schädlichen Lügen zu verwerffen. Petrus Martyr (Loc. Comm. …) verdammet alle Lügen; hält aber
die Mendacia jocosa et officiosa (Spaß- und
Amts-Lügen) für peccata venialia, (erläßliche Sünden.)
Lambert Danäus hingegen machet (in Ethica
Christian. …) einen Unterscheid unter einem
guten und
bösen Betruge, und billiget jenen.
Nachdem aber der Heydelbergische Catechismus
geschrieben und von den meisten Reformirten
Gemeinen angenommen worden ist, hat diese
Freyheit aufgehöret. |
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Zacharias Ursinus (in Explicat. Catechismi)
verwirfft alle falsche Reden. Diesem folgen Joh. la
Placente, Ben. Pictetus, Joh. Hoornbeckius, Jac.
Bernardus, Phil. Naudäus, und andere. Pictetus
brauchte die Bescheidenheit, und trug die
Beweise von beyden Seiten vor, und ließ dem
Leser die Freyheit, davon zu urtheilen. Jac.
Saurin, ein berühmter Prediger der Wallonischen
Kirche, fügte seinen Discours Historiques,
Critiques, Theologiques, etc. nach Veranlassung
der Hure Rahab, eine Abhandlung von dem Lügen
bey, und wolte den Weg des Pictets gehen. Er
erhielt, dieser Abhandlung wegen, von den
Kirchen zu Arnheim und Breda eine Approbation.
Als aber diese Discourse in dem Drucke
erschienen, so hatte er diese Abhandlung bey
dem Vorfahren Samuels, da im GOtt befohlen, die
Haupt-Absicht seiner Ankunfft denen
Bethlehemiten zu verheelen, beygefüget. |
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In der Bibliotheque raisonnée … ward von
Saurin geurtheilet, man könne nicht sehen, ob,
nach seiner Meynung, GOtt den er ehre,
unschuldig, oder aber einiger Laster schuldig sey.
In der andern Ausgabe dieser Abhandlung, (Haag
1730 in 8.) bemühete sich Saurin, seine Meynung
auf bessere Weise vorzutragen. Endlich ward in
Haag ein Synodus angestellet, diese und andere
Streitigkeiten beyzulegen. Darinnen ward dem
Saurin einmüthig auferlegt, seine Abhandlung von
dem Lügen zu widerrufen. Er gab hierauf eine
Erklärung heraus, daß er in dieser Schrifft sich
blos als ein Geschichtschreiber aufgeführet und
seine Meynung, die er bereits in seinem
Catechismo ausgeführet, nicht entdecket habe.
Joh. Lud. Bonvoustio ward indeß aufgetragen, die-
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{Sp. 890} |
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sen Streit zu beschreiben, und die gemeine
Meynung der Reformirten zu behaupten. Dieses
that er auch in dem
Buche:
Le Triomphe de la
verité … a Utrecht, 1731 in 8. |
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Anjetzt will man fast die Gottesgelehrten,
welche öffentlich lehren, es sey erlaubt, die
Wahrheit, um ein grösser
Gut zu erlangen, zu
verlassen, von der Gemeinschafft ausschliessen.
Dieser Ernst unter denen Reformirten, sonderlich
in Holland, hindert nicht, daß nicht die
Rechtsgelehrten und
Weltweisen von der
gemeinen Meynung abgehen solten. Dieses
erhellet aus den Anmerckungen Joh. Barbeyracii, die er unter die
Frantzösische Übersetzung des
Pufendorffischen
Juris naturae et gentium …
gesetzet hat. Diesem fället Gravesand, ein
berühmter Holländischer Weltweiser, in einem
Briefe von dieser
Sache, in dem
Journal litteraire … bey. Denen Arminianern hat auch die sanffte
Erklärung, daß GOtt nicht eine so scharffe
Beobachtung der Wahrheit erfordere, gefallen.
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Dieser Streit wird in unserer Kirche für ein
Theologisches Problem gehalten, davon man auf
beyden Seiten disputiren kan. |
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Die gottsel. Bekenner haben in den
symbolischen Büchern die dreyfache Eintheilung
der Lügen mit Stillschweigen übergangen; dieses
hätten sie wohl nicht gethan, wenn sie
geglaubt,
daß eine Meynung unter diesen gefährlich
sey. |
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Martin Chemnitius (in loc. theol. …), Caspar
Erasmus Brochmann, (in System. Theol. …) und
Johann Hülsemann (in extensione breviarii theol.
…) geben denen Beyfall, welche meynen, die
Wahrheit könne zuweilen aus
Liebe verlassen
werden; doch sind sie nicht hart gegen diejenigen,
welche das Gegentheil behaupten. |
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Johann Gerhard (locor. comm. T. III, de lege
Dei) hat des Augustinus und der Scholasticker
Meynung, nebst andern bestärcket, er ist aber,
soviel uns bewust, von Niemanden deswegen
widerleget worden. |
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Die neuen Gottesgelehrten haben die
Eintheilung in die schertzhafftigen, Pflichtmäßigen
und schädlichen Lügen verworffen, einen
Unterschied unter denen Lügen (Mendaciis) und
Unwahrheiten (Falsiloquiis) gemacht, und die
letzten behauptet. Unsere Welt-Weisen stimmen
(wie aus der vorhergehenden Philosophischen
Erklärung zu ersehen ist) hiermit überein. Wir
halten davor, daß eine falsche Rede, oder
Unwahrheit, von einem Christen ohne Sünde
vorgebracht werden könne, wenn es die
Liebe des
Nächsten, oder eine tugendhaffte Liebe gegen
uns selbst, erfordert. |
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Weil uns
GOtt das
Vermögen zu
reden
deswegen
verliehen hat, daß wir andern, mit
denen wir umgehen, von unsern
Gedancken
Versicherung geben; so sind wir
verbunden zu
sorgen, daß unsere
Worte mit unserm
Sinne
übereinstimmen. Ist aber diese Übereinstimmung
allgemein, oder bedingt? Man kan hier 3. Fragen
machen: |
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(a.) |
Was sind das vor Fälle, in
welchen man die
Wahrheit nicht verlassen, oder
verheelen darff? |
(b.) |
Kan denn bey einigen
Umständen eine
gewisse Einschrenckung der
Verbindlichkeit
wahr zu
reden zugelassen
werden? |
(c.) |
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{Sp. 891|S. 459} |
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Sind denn Fälle, da diese
Obligation gar
aufhören, und die
Unwahrheit Statt finden kan? |
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Ein
Christ
muß allen
Fleiß anwenden,
Aufrichtigkeit gegen seinen Nächsten, so es zu
desselben Bestem dienet, zu
gebrauchen. Die
Wahrheit muß in den Gesprächen, welche die
Religion und Göttl. Dinge angehen, auf das
genaueste beobachtet und bekennet werden. |
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Was ist von denen so genannten heiligen
Betrügereyen (piis Fraudibus) zu halten? Diese sind
schädlich und verwerfflich.
GOtt fordert einen
vernünfftigen Gottesdienst, eine Überzeugung des
Verstandes von den Glaubens-Lehren, und gute
Wercke, welche aus dem
Glauben kommen, und
ihren
Grund in der Erlösung haben. Was kan vor
eine Überzeugung bey einem
Menschen entstehen,
welchem entweder
falsche Gründe, oder erdichtete
Zeugnisse und Wunder, die
Erkänntniß des Heyls
zu erlangen, eingepräget werden? Was wird er vor
Beweis-Gründe haben? Es muß ein knechtischer
Gottesdienst entstehen; es muß entweder
Unglaube, oder Aberglaube, erfolgen. Wenn nun
der Betrug entdecket wird, was wird für ein
Begriff
von der Religion übrig bleiben? Was vor
Schade
entstand nicht der Kirche in den ersten
Jahrhunderten daraus? |
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Daher verabscheuen auch diejenigen diese
heiligen Betrügereyen, (pias Fraudes) welche sonst
nicht alle
Unwahrheiten (Falsiloquia) verwerffen.
Leidet die
Verbindlichkeit, die Wahrheit zu reden,
bey gewissen Umständen eine Einschrenckung? Ja.
Bey einem freyen Bekänntnisse würden wir uns
zuweilen selbst, oder andern, schaden. Die
Moralisten
sagen, man könne so dann entweder die
Wahrheit verschweigen, oder zweydeutig reden.
Z.E. Es hätte einer eine
Reise vor sich, und es
würde ihm an seinem
Glücke hinderlich seyn, wenn
er es andern sagte. Muß er nun auf Befragen, wo er
hin reise, solches offenbahren? Nein; Es ist ihm
erlaubt, die Antwort abzuschlagen, oder einen
Ort
zu
nennen, da er durchreiset. |
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Es ist nun die
Frage: Ob man in den
Umständen, da unsere, oder anderer Leute
Vortheile, nicht anders erhalten werden können, die
Wahrheit so übergehen könne, daß man
offenbahrlich eine
Unwahrheit sagen dürffe? Einige
antworten, man habe entweder mit
Obrigkeitlichen
Personen, oder mit Leuten seines gleichen zu
thun.
In dem ersten Falle sey es nicht erlaubet, etwas
falsches zu reden, ob es schon in dem andern Falle
angehen könne. Weil man aber GOtt mehr, als den
Menschen gehorchen muß, so höret wohl auch
alsdenn die
Freyheit
nicht auf, wenn sie übrigens
nicht den Göttl. Gesetzen zuwieder läufft. Wie die
Obrigkeit nicht sündiget, wenn sie einen Menschen
tödten lässet; so begehet auch derjenige, welcher
bey gewissen Umständen unwahr redet, keine
Sünde. |
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Einige sonderlich derer
Alten, haben die
falschen
Reden zu den erläßlichen Sünden
gerechnet. Zu dem
Wesen einer erläßlichen Sünde
gehöret, daß sie wider mein
Wissen und wider
meinen
Willen begangen werden. Dieses aber
lässet sich hieher nicht deuten. Man hat folgende
Regeln zu mercken: |
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1.) Es muß durch eine falsche Rede entweder
ein
wahres
Gut
erlanget, oder etwas, so
würcklich
böse ist, vermieden werden. Z.E. Man kan zu einem
Wahnwitzigen, der einen Degen fordert, sagen, man
habe kei- |
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{Sp. 892} |
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nen. |
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2) Der
Nutzen, oder
Schaden, so aus einer
falschen Rede kommt, muß grösser seyn, als der
Nutzen, oder Schaden ist, den man
ordentlicher
Weise erlangen, oder vermeiden kan. Z.E. Ein
Tyrann will einen unschuldigen
Unterthanen tödten
lassen, und drohet andern mit der
Lebens-Straffe,
wo sie nicht sagen, wo er sey. Da ist eher die
Wahrheit zu melden, als zu verursachen, daß viele
hingerichtet werden. |
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3) Man muß nicht eher falsch reden, als bis
kein Mittel mehr ist, seine und anderer Wohlfahrth
zu befördern. Z.E. Es muß einer
sterben, oder muß
sein
Leben mit einer Unwahrheit retten. |
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Wir
beweisen, daß dergleichen falsche Reden
mit
Recht gebrauchet werden können: Wir haben
Pflichten gegen
GOtt, gegen uns, und gegen unsern
Nächsten. Diese fliessen aus der
Liebe gegen GOtt,
gegen uns und unsern Nächsten. Wenn wir diese
Liebe ausüben, so erfüllen wir das
Gesetz. |
- Matth. XXII, 37. u.ff.
- Rom. XIII, 9. u.ff.
- Coloss. III, 14.
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Die Liebe ist eine Bereitschafft, aus den
Vollkommenheiten eines andern ein Vergnügen zu
schöpffen. Erkennen wir GOttes Vollkommenheiten,
so entstehet ein Verlangen GOttes
Ehre, auch
unsere und des Nächsten Wohlfahrt zu befördern.
Nach dem
Sünden-Falle geschiehet es durch
anderer
Bosheit, daß die Haupt-Gesetze in
gewissen Fällen mit einander streiten, und nicht alle
zugleich beobachtet werden können. Daher
thun
wir unserer Pflicht ein Genüge, wenn wir das kleinere Gebot fahren lassen, und
das grössere beobachten. Die Pflichten gegen GOtt sind andern vorzuziehen, wenn
wir, oder andere, auch das Leben dabey
verliehren
solten. |
- Matth. X, 38. u.ff.
- Marc. VIII, 34. u.ff.
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Die Liebe gegen uns selbst ist die Regel, nach
welcher wir den Nächsten lieben sollen. |
Matth. XXII, 39. |
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Darum sind auch die Pflichten, die wir uns
selbst
schuldig sind, den Pflichten gegen andere
vorzuziehen. |
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Die Beobachtung der
Wahrheit verliehret ihr
Gewichte, wenn sie aufhöret, ein Mittel unserer und
unsers Nächsten
Glückseligkeit zu seyn. GOtt
verbeut die falschen Reden, so ferne sie wider die
Liebe gegen uns und unsern Nächsten streiten, und
in so ferne sind sie auch nur böse. In den
Worten:
Sey fern von falschen Sachen, 2 B. Mosis XXIII, 7.
werden die
Richter gewarnet, daß sie nicht durch
Lügen das
Recht und die Unschuldigen kräncken
lassen. Ps. V, 7. heisset es: Du bringest die Lügner
um; es werden aber v. 10. die Lügner beschrieben,
wer sie sind. |
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Paulus
befiehlet: Leget die Lügen ab, u.s.w.
Ephes. IV, 25; Er setzet aber diese
Ursach hinzu:
Weil wir unter einander Glieder sind, und einander
nicht schaden sollen. Coloss. III, 9. verbeut er:
Lüget nicht, es stehet aber dabey eis allēlous, wider
einander, oder zu Schaden. |
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Unsere
Meynung wird von
Exempeln, welche
der
H.
Geist selbst zuweilen gelobet hat, bestätiget.
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Wir nennen zuerst die Hure Rahab, |
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Samuel muste sagen, er wär gekommen dem
HErrn zu opffern, und das
vornehmste Absehen
war, einen neuen
König zu suchen, |
1 Sam. XVI, 2. |
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Elisa war ohne
Zweiffel von den Syrern
befraget worden, wo der Prophet wäre; er gab sich
aber ihnen nicht zu
erkennen, sondern
sprach, er
wolle sie zu dem Manne führen, |
2 Kön. VI, 14-20. |
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{Sp. 893|S. 460} |
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II. Obschon, wie wir anjetzo gezeiget haben,
nicht alle Unwahrheiten untersaget, sind doch alle
Lügen verboten, |
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Das heisset aber eine Lügen, welche, durch die
Gesetze der Friedfertigkeit, verboten ist, wenn man
den Nächsten dadurch
beleidiget, daß man ihm
solche Wahrheiten, die er zu seinem wahren
Nutzen
zu
wissen, und von uns zu
erfahren ein
gegründetes
Recht hat, nicht allein verschweiget, sondern auch
denselben, an statt solchenfals die Wahrheit zu
reden, mit Unwahrheiten hintergehet, und ihm
hierdurch unbefugter Weise schadet. Die
lobenswürdige Wahrhafftigkeit ist also eine
Pflicht,
dem andern die Wahrheit, die er, zu seinem wahren
Nutzen, zu wissen, und vermöge der Gesetze der
Geselligkeit, von uns zu erfahren ein Recht hat, zu
offenbahren. |
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Man wird leicht begreiffen, daß aus der
Wahrhafftigkeit für einen wahrhafftigen Menschen
viel
Gutes erfolget. Denn wie ein Lügner seinen
Glauben verliehret, so behält er ihn, und
Jedermann, der ihn kennet, trauet ihm. Niemand
darff sich befürchten, daß er ihn verleumden wird,
vielmehr ist er vergewissert, daß er alles zu dem
Besten kehret. Und demnach hat ihn Jedermann
gerne um sich. |
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Absonderlich folget auch dieses aus der
Verschwiegenheit, daß wir uns viel Freunde
machen: Gleichwie hingegen Unverschwiegenheit
viel Feindschafft erwecket. Verschwiegenheit
bringet dem Menschen auch den
Vortheil, daß er
nicht zu seinem eigenen Schaden ausschwatzet,
was ihm nachtheilig ist, und andere zu ihrer
Nachricht brauchen, ihm in seinem Vorhaben
hinderlich zu fallen. Und hier ist sonderlich
vonnöthen, daß man
fleißig darauf Acht hat, wie
vieles Unheyl die Menschen sich mit ihrem Maule
zugezogen haben, weil sie nicht verschwiegen
gewesen sind. |
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Dabey
müssen wir auch nicht vergessen daß
viele
Bedienungen in der
Welt sind, dabey man
Verschwiegenheit
nöthig hat, sich aber in grosse
Gefahr stürtzet, wenn man nicht schweigen kan. Absonderlich schicken sich auch diejenigen, die nichts
verschweigen können, in keine
Gesellschafften,
indem sie, durch ihr
Sagen und Wiedersagen, nichts
als Uneinigkeit unter andern stifften, und sie
Niemand zu ihren vertrauten Freunden verlanget,
oder gerne um sich hat. |
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Vornehmlich ist die
Tugend der Wahrhafftigkeit
und damit verknüpfften Verschwiegenheit den
Kindern
anzugewöhnen. Denn da ein Lügner seinen
Glauben verlieret, und Niemand gern mit ihm etwas
zu
thun hat, so können Kinder wenig in der Welt
unter Leuten fortkommen, woferne sie nicht
wahrhafftig sind; Als welches auch zu besorgen ist,
wenn sie nicht verschwiegen sind. Man muß ihnen
also nicht Anlaß geben, sich zu dem Lügen zu
gewöhnen, entweder, weil man ihnen ohne
Grund
zuverläßige
Lust versaget, oder sie wegen eines
Versehens gar zu harte anlässet, oder auch wohl
unterweilen nicht giebt, was sie zu ihrer
Nothdurfft
gebrauchen, und was dergleichen mehr ist. |
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Die andere Gattung der Wahrhafftigkeit der
Menschen, ist die dem Laster der Untreue, List und
Verrätherey entgegen gesetzte Tugend der Treue,
oder dasjenige Bestreben, da wir das Versprechen,
so wir andern, sie mögen seyn, wer sie |
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{Sp. 894} |
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wollen, gethan haben, treulich zu halten, bemühet
sind, welches dem
menschlichen
Geschlechte höchst nöthig ist. Denn weil die
Leutseligkeit und derselben Dienstbezeugung nicht
hinlänglich ist, daß die Menschen alle diejenigen
Dinge, deren sie von einander benöthiget sind,
vermittelst derselben erweisen können, so muß ein
Mensch dem andern sich
vollkömmlich durch
Versprechungen zu
verpflichten trachten, der ihm
sonst aus der Leutseligkeit ohne zulänglichen
Zwang
verbunden wäre. Und weil alle Menschen
ordentlich fähig sind, durch dergleichen
Versprechungen sich mit einander zu verbinden, so
erfordert die Gleichheit der menschlichen
Natur,
daß ein jeder das gethane Versprechen zu halten
schuldig sey. |
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Zum Versprechen, welches zur Wahrhafftigkeit
gehöret, wird erfordert, daß ein Mensch mit Wissen
und
Willen dem andern dasjenige, so in seinem
Vermögen ist, zu geben, und zu thun, zusaget, auf
welche Weise die
Sache, oder die
That unsere
natürliche Kräffte nicht übertreffen, noch durch die
Gesetze uns verboten, oder entzogen seyn muß,
daß wir uns folglich zu
möglichen und unzuläßlichen
Dingen nicht verbinden können, |
siehe
Pufendorf
de jure nat. et
gent. ... |
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Viel weniger kan man von andrer Leute
Sachen, oder Thaten etwas versprechen, noch von
unsern
eigenen
Thun und Lassen, welches schon
andern
verpflichtet ist. Gehöret aber zum
Versprechen, daß solches mit unserm Wissen und
Willen geschehe, so hat solches keine Gültigkeit,
wenn der
Verstand noch nicht zu
Kräfften kommen;
Die
Vernunfft durch Raserey, grossen und Haupt-Irrthum, oder auf andere Weise,
z.E. durch
Trunckenheit in ihren
ordentlichen
Wirckungen
gehindert gewesen, und auf Seiten des Willens eine
rechtmäßige
Furcht und
unrechter Zwang dabey
vorgegangen. |
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Hieraus können nun zwey
Fragen
erörtert werden: erstlich; ob dieses vor eine Treubrüchigkeit zu halten, wenn
man denjenigen, der durch eine offenbahr
ungerechte
Gewalt uns zur Zusage
gezwungen hat, die Leistung dessen, was man ihm
auf diese Weise versprochen, versaget? Grotius
glaubet, daß aus einer dergleichen Zusage der
versprechende
Theil gehalten sey, sein
Versprechen zu erfüllen; hingegen aber sey der
Gewaltthätiger
verbunden, demjenigen, so Gewalt
gelitten, die disfals ausgepreßte Sache wiederum
zuzustellen, weil er ihn durch die zugefügte Gewalt
gröblich beleidiget habe, und dannenhero ihm
billig
dieserwegen Genüge zu geben
schuldig sey, |
siehe de jure belli et pacis … |
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welche
Gedancken auf einer blossen und
unnützen Subtilität beruhen. |
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Andere, als schon vorlängst Cicero, und zu
unsern Zeiten
Pufendorf halten dafür, daß in
diesem Falle derjenige, den man zum Versprechen
gewaltthätiger Weise gezwungen habe, nicht
schuldig sey, dasselbe zu halten, weil man bey dem
Versprechen dahin sehen müsse, ob einer mit
Wissen und Willen etwas versprochen habe; ob der
andere dem das Versprechen geschehen, solches
aus dem natürlichen Rechte anzunehmen befugt
sey, und ob nicht die
Verbindlichkeit des
versprechenden Theils, wenn eine solte erwachsen
seyn, durch des andern seine
Schuld, krafft deren
er ver- |
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{Sp. 895|S. 461} |
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pflichtet ist, wegen des geschehenen
Unrechts dem ersten gnug zu thun, gleichsam
compensiret und aufgehoben werde. |
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Wider diese
Meynung hat ein anderer die
Dritte vertheidigen wollen, daß ein Mensch
allerdings schuldig sey, sein disfals gethanes
durch Gewalt erprestes Versprechen zu halten,
weil derjenige, der die Gewalt verübet, in
Verübung derselben zwar unrecht gethan; aber
gleichwohl dadurch nicht verhindert worden, das
Versprechen anzunehmen, und dadurch ein
Recht, die versprochene Sache einzutreiben,
erhalten. So könne auch hierinnen keine
Compensation statt finden, und sey vielmehr dafür
zu halten, daß der versprechende Theil bey dem
Versprechen sich des Rechts stillschweigend
begeben habe, daß er sonst gehabet hätte, die mit
Gewalt erpreste Sache wieder zu fordern, oder
Gnugthuung deswegen zu
begehren, |
siehe
Thomasius Jurisprud.
Divin. … und in Einleit. der Sittenlehre ... |
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Die andere Frage ist: ob den Ketzern Treu
und Glauben zu halten sey? Die Päbstler lehren,
man seyn nicht schuldig, solchen Glauben zu
halten, |
siehe
Buddei
Diss.
de
concord. relig. Christ. … |
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Allein auf solche Weise müste das
Band des
menschlichen Geschlechts
gantz und gar
aufgehoben werden: es müste auf solche Weise
nur zwischen Leuten von einer
Religion Treu und
Glauben gelten, und wo käme die allgemeine
menschliche Natur hin, welche bey allen
Menschen, die auch, es
möge seyn von was für
Dingen es wolle,
unterschiedene Meynungen
haben, gleich ist, und so gleiche Verpflichtungen
wircket. Können wir wohl überdis bey allen Fällen
der Leutseligkeit der Ketzer entbehren? also
werden wir eben so wenig derselben entrathen
können, daß wir ihr Versprechen von ihnen nicht
annehmen
solten; sollen sie aber uns ihr
Versprechen halten, so müssen wir es ihnen auch
halten. |
Siehe Buddei Diss. de ratione
status circa foedera … und
Ziegler
de juribus
majest. ... |
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Beyde Wahrhaftigkeit nennen die Aristotelici
Veracitatem homileticam, die Homiletische
Wahrhaftigkeit, welches eine
Griechische
Benennung ist, und auf den
Umgang mit andern
abzielet, da man sich derselben bedienen müste.
Denn Aristoteles setzte drey Homiletische
Tugenden, wie an gehörigen Orte von den
Tugenden mit mehrern
erinnert worden. |
- Horn philos. moral. …
- Müllers
instit. ethic. …
- Philaretus in ethic. …
- Walchs Philos. Lex. …
- Rambachs Dogmat. Theol.
Th. I. …
- Zimmermanns natürliche Erkänntniß
Gottes, Welt und Menschen …
-
Baylens Crit.
Wörter-Buch, Th. IV. …
- Müllers Philos.
Wissensch. Th. III. …
-
Wolffs gesellschafftl. Leb.
der Menschen …
- Desselben Thun und Lassen der
Menschen …
- Baumeisters Philosoph. definit. …
- Reuschii Metaphys. …
- Kemmerichs Acad. der
Wissensch. Eröffn. III. …
- Meisners Philos. Lex. …
- Gründl. Auszüge aus Disput. B. IV. …
- Heinsii
Kirchen-Hist. Th. I. …
- v. Rohrs Glaubens-Lehren
…
- Männlings Curiosit. Cab. Th. III. …
- Baumgartens Theol. Moral. …
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{Sp. 896} |
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Siehe auch den
Artickel:
Wahrheit, im 2
Abschnitte. |
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