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Zedler: Wahrhafftigkeit HIS-Data
5028-52-882-17
Titel: Wahrhafftigkeit
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 52 Sp. 882-896
Jahr: 1747
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 52 S. 454-461
Vorheriger Artikel: Wahrhafftige Zusage
Folgender Artikel: Wahrhaftigkeit Gottes
Siehe auch:
Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Personen, Bibel
  • : Absatz in der Vorlage vorhanden
  • Transkribierter griechischer Text der Vorlage

  Text Quellenangaben
  Wahrhafftigkeit, Lat. Veracitas, oder Veritas moralis, ist ein Bemühen, die Wahrheit zu reden, und nicht etwas anders in dem Munde, als in dem Hertzen zu haben. Diese Wahrhafftigkeit nehmen wir theils bey GOtt, theils bey den Menschen wahr.  
  I Von der Wahrhafftigkeit GOttes.  
  Hierunter verstehen wir die allerhöchste und beständige Übereinstimmung der Thaten und Reden GOttes, oder diejenige Vollkommenheit seines Willens, da er denen vernünfftigen Geschöpffen alle nöthige Erkänntniß zureichend und nach vollkommener Wahrheit, zu ihrer Seligkeit und seiner Ehre, offenbahret. Nach dieser Wahrhafftigkeit, sind GOttes Worte nichts anders, als gewisse unbetrügliche Ausdrücke seiner Begriffe und Vorstellungen. Da heisset es Johann. XVII, 17: Dein Wort ist Wahrheit.  
  Und zwar ist die Wahrhafftigkeit in Ansehung der Göttlichen Worte in folgenden Stücken anzutreffen:  
 
a) In den Erzehlungen die er seinen Worten inseriret hat, in welchem kein eintziger erdichteter Umstand ist.
 
 
b) In Verkündigung zukünfftiger Dinge,
 
c) In Auslegung der heilsamen Wahrheiten,
 
  {Sp. 883|S. 455}  
  Psalm XIX, 8,
 
da alle Glaubens- und Lebens-Lehren, die er uns in seinem Worte lehret, der Wahrheit gemäß sind.
 
 
d) In den Verheissungen der Wohlthaten.
 
 
e) In den Drohungen der Straffen.
 
  Diese Wahrhafftigkeit wird auch sonst die Treue GOttes genennet. Dieser Wahrhafftigkeit und Treue GOttes sind folgende Dinge entgegen:  
 
(a) Alles Falsche, falsche Reden und Lügen.
Hebr. VI, 18.
 
Es ist unmöglich, daß GOtt lüge.
 
 
(b) Alle List, Ränke und Betrügereyen, welche in den Handlungen der Heydnischen Götzen hervorleuchten.
 
 
(c) Alle Heucheley und Verstellung. Wenn zwar die Verstellung darinnen gesetzet wird, wenn jemand seinen wahren Sinn und Absichten eine Zeitlang verbirget, daß ein anderer dieselben aus seinem äusserlichen Bezeigen nicht sogleich und gewiß errathen kan; So möchte es in den Handlungen GOttes mit den Menschen zuweilen das Ansehen haben, als ob er sich verstelle; Da er z.E. dem Abraham befahl, seinen Sohn Isaac zu opffern, so verbarg er ihm seine wahre Absicht.
 
 
Allein diese Verstellung stritte weder wider die Wahrheit, als welche uns nicht verbindet, bey allerley Umständen ohne Unterscheid alle Wahrheiten zu entdecken u.s.w. Noch wieder die Güte, in dem durch diesen Befehl weder dem Abraham, noch Isaac geschadet werden solte, sondern vielmehr Abrahams Glaube und Isaacs Gehorsam offenbahret und aller Welt zu der Nachfolge vorgestellet werden solte. Das kan also keine eigentliche Verstellung bey GOtt genennet werden.
 
 
Betrügliche und schädliche Verstellungen, da man sich äusserlich freundlich und liebreich anstellet, damit man dem andern desto gewisser schaden könne, können bey dem höchst wahrhafftigen und aufrichtigen GOtt nicht statt finden. Es ist ein teufflisches Laster,
Johann VIII, 44,
 
welches mit der Höchsten Vollkommenheit GOttes gar nicht bestehen kan.
 
  Und das ist der Begriff, den wir uns von der Wahrhafftigkeit GOttes zu machen haben. Nun folget, daß wir sie auch aus ihren Gründen herleiten, und beweisen. Die Quelle der göttlichen Wahrhafftigkeit ist,  
 
a) die Höchst vollkommenste Wahrheit seiner unendlichen Erkänntniß. Diese verursacht, daß er auch vollkommlich die Wahrheit offenbaren kan.
 
 
b) Seine Liebe und Heiligkeit bringet zu wege, daß er nur nach Vollkommenheit handelt, und von allem, was Unvollkommenheit heisset, sich auf das weiteste entfernet. Da nun aber Falschheit und Lügen unter die Unvollkommenheiten gehöret, so muß er sich auch von dieser Unvollkommenheit nothwendig entfernen. Folglich sind Liebe und Heiligkeit der Grund, daß GOtt will die Wahrheit sagen.
 
 
c) Nach seiner Weisheit erwehlt er die besten Mittel, und
 
 
d) nach seiner Liebe und Gnade gegen die Menschen thut er, was zu seiner Ehre und ihrer Seligkeit gereichen kan. Darum offenbahret er ihnen seinen Willen mit Verheissungen und Drohungen.
 
  Also gründet sich die Wahrhafftigkeit GOttes auf unbewegliche Stützen, und man siehet, wie sicher man sich darauf verlassen könne.  
  Die H. Schrifft behauptet die Wahrhafftigkeit GOttes erstlich positiv, indem er der wahre, wahrhafftige und getreue GOtt genennet wird. Treu ist GOtt, u. kein  
  {Sp. 884}  
  Böses (keine Falschheit) an ihm, 5 Mos. XXXII, 4.
  Solte der Menschen Unglaube GOttes Glauben (oder Treue) aufheben? Das sey ferne! Es bleibe vielmehr also, daß GOtt sey wahrhafftig und alle Menschen falsch, Röm. III, 3, 4.
  Die Wege des Herrn sind lauter Güte und Wahrheit, Psalm XXV, 10.
  Des Herrn Wort ist wahrhafftig, und was er zusagt, das hält er gewiß.  
  Zweytens negativ. Es wird alle Lügen, Betrug und Falschheit von ihm abgelehnet. Der Held in Israel leuget nicht. 1 Sam. XV, 26.
  Und Tit. I, 2, wird er GOtt, der nicht leugt, (apseudēs Theos) genennet.  
  Wir leiten hieraus folgende Wahrheiten her:  
 
1) Ist GOtt wahrhafftig, so bekommt sein Wort eine vollkommene Gewisheit, Glaubwürdigkeit und Infallibilität. Daher wird es
 
 
  • das Wort der Wahrheit,
Coloss. I, 5,
 
  • ja die Wahrheit selbst,
Johann XVII, 17,
 
genennet.
 
 
2) Wir können uns auf sein Wort, und insonderheit auf seine Treue und Verheissungen, sicher verlassen, wie
 
 
  • David,
2 Sam. VII, 28,
 
  • Abraham,
Röm. IV, 20,
 
ja wir sind solches zu thun schuldig, sonst machen wir ihn, durch Unglauben zum Lügner,
1 Johann. V, 10.
 
Ist es nun unter den Menschen ein grosses Unrecht, einen ehrlichen Mann für einen Lügner zu halten, wie vielmehr, wenn wir GOtt davor halten.
 
 
3) Wir haben Ursache, uns für seinen Drohungen zu fürchten, die eben so gewiß, als seine Verheissungen erfüllet werden.
Jos. XXIII, 14. 16.
 
Es sind also dieselben kein blinder Schrecken.
 
 
4) Wir sind verbunden, uns nach GOttes Exempel der Wahrheit zu befleissigen, und alle Lügen, sie haben Nahmen, wie sie wollen, abzulegen, auch alle Heucheley, Falschheit und Verstellung zu vermeiden,
Jacob. V. 12.
 
Paulus hatte Ephes. IV von der Erneuerung zu GOttes Bilde geredet, Lügen aber gehöret zu dem Bilde des Teuffels. GOtt ist ein GOtt der Wahrheit, und nach dessen Bilde müssen wir erneuert werden. Der Satan aber ist ein Lügner, in dessen Pfuhle alle Lügner ihr Theil empfahen werden. Hieraus ziehet der Apostel in dem 25 Verse diesen Schluß: Darum leget die Lügen ab, u.s.w.
 
  II Von der Wahrhafftigkeit der Menschen.  
  In dem Stande der Unschuld war bey den ersten Eltern eine vollkommene Wahrheit (alētheia) und rechtschaffenes Wesen anzutreffen. Denn wo sich Heiligkeit und Gerechtigkeit findet, da kan keine Falschheit, Betrug und Heucheley, Statt finden. In Christo, dem wesentlichen Ebenbilde GOttes, ist alētheia, Wahrheit, oder ein rechtschaffenes Wesen, Ephes. IV, 21.
  Und so lange der Mensch dessen Bild trug, so waren alle seine äusserlichen Handlungen seiner innerlichen Gemüths-Beschaffenheit gemäß. Und das heisset alētheia, Wahrheit. 2 Corinth. XI, 3, wird es aplotēs, eine Heilige Einfalt, genennet.  
  Nach dem Falle, ist diese Wahrhafftigkeit, als eine Tugend betrachtet, ein beständiges Bemühen, alle Reden, die wir mit dem Nächsten von Göttlichen, oder menschlichen Dingen führen, also einzurichten, daß zwischen unsern Worten und Meynungen, wie auch der Sache selbst, eine accurate Übereinstimmung angetroffen werde. Zu  
  {Sp. 885|S. 456}  
  dieser Tugend werden wir Zachar. VIII, 16. Matth. V, 37. und Ephes. IV, 25. ermahnet, da es heisset: Leget die Lügen ab, und redet die Wahrheit ein Jeglicher mit seinem Nächsten, sintemahl wir unter einander Glieder sind.  
  Das Gegentheil hiervon ist allerley Art Lügen, dahin auch schädliche Äqvivocationen, sinnliche Reservationen, Verleumdungen, falsche Zeugnisse, Schmeicheleyen u.s.w. gehören.  
  Die Wahrhafftigkeit der Menschen kan füglich in zwey Gattungen eingetheilet werden. Die erste davon ist die wahre Aufrichtigkeit in Worten und Wercken, welcher die Stellung und Verstellung, Heucheley, und allzu grosse Einfalt, entgegen stehet. Damit dieses unsern Lesern desto deutlicher in die Augen leuchte, fügen wir  
  α) eine Philosophische Erklärung hinzu.  
  Die Wahrhafftigkeit der Menschen, an und für sich selbst betrachtet, ist weder eine Tugend, noch ein Laster, und muß ihre moralische Natur aus dem Gebrauche derselben, ob derselbe den Regeln der Billigkeit und Klugheit gemäß, beurtheilet werden. Denn die Wahrheit reden, kan so wohl in Ansehung unserer Obligation, als auch unsers Nutzens, der gesunden Vernunfft so offt zuwider, als gemäß seyn; Und dem andern die Wahrheit verbergen, kan so offt der gesunden Vernunfft, in Ansehung unserer Obligation und der Klugheits-Regeln, gemäß seyn, als ist derselben zuwider seyn kan. Hieraus erhellen folgende Sätze:  
  I. Es sind nicht alle Unwahrheiten untersaget.  
  Denn nicht alle Unwahrheit ist eine Lügen, in sofern diese, gebräuchlichermassen, für ein Laster genommen wird: Indem jene in gewissen Fällen mit höhestem Rechte vergönnet, ja eine Pflicht seyn kan. Eine Wahrheit, welche zu wissen und von uns zu erfahren der andere kein gegründetes Recht hat, und durch deren Verschweigung hingegen wir unsern eigenen, oder eines dritten, oder auch desjenigen selbst, dem wir sie verschweigen, wahren Nutzen befördern können, sind wir zu verschweigen mit höhestem Rechte befugt, ja, nach Befinden, durch das natürliche Recht, und also in unserm Gewissen, verbunden, welche Pflicht die Verschwiegenheit heisset; Zu welcher auch alle in diesem Falle erforderliche Wahrheiten und Verstellungen, in Reden, Gebehrden und Thaten, gehören.  
  Wir sehen also, daß die Wahrhafftigkeit offt zu dem schändlichsten Laster werden könne, nehmlich in solchen Fällen, wenn man eine Wahrheit sagt, die man zu verschweigen verbunden ist, oder auch nur, wenn man eine Wahrheit, aus Einfalt, zu seinem Schaden entdecket, die man, nach den Regeln der Billigkeit, oder unserer Obligation, zu entdecken nicht verbunden war.  
  Ja es verdienet offt für eine lobwürdige-Tugend und Geschicklichkeit eines sinnreichen Kopffes gehalten zu werden, wenn man den andern mit einer wohl ausgesonnenen Unwahrheit betrügen kan, und dadurch eine Wahrheit verschweiget, und, durch Verstellung, auf alle Weise zu verdecken geschickt ist, welche man zu verschweigen in seinem Gewissen verbunden ist, als wenn man z.E. einem Feinde Unrecht saget, wo der hingegangen ist, den er mit blossem Degen verfolget; Oder auch nur, wenn man zu seinem Nutzen eine Wahrheit mit guter Manier verbergen,  
  {Sp. 886}  
  und unwahrscheinlich machen kan, welche man dem andern auf die Nase zu binden in seinem Gewissen, nach göttlichen und weltlichen Rechten, nicht verpflichtet ist.  
  Gleichwie es also alber seyn würde, allen Gebrauch des Feuers, ohne Unterschied des Zweckes, für gut zu halten, es mag es nehmlich ein Hauß-Vater, zu der häußlichen Nothdurfft, oder ein Mordbrenner, Städte und Dörffer damit anzustecken, gebrauchen: So würde es auch alber seyn, allen Gebrauch der Wahrheit und Offenhertzigkeit für eine Tugend zu halten, es mag sie nehmlich ein ehrlicher Mann, zu seinem und seines Nächsten wahren Nutzen, oder ein Judas, Christum, und ein Landes-Verräther, das Vaterland zu verrathen, gebrauchen. Denn was that jener Ischarioth anders, als daß er den Jüden die wahrhafftige Nachricht hinterbrachte, welcher unter der Gesellschafft Christus wäre? Und wird ein jeder Verräther, eben dadurch ein Verräther, daß er die Wahrheit saget?  
  So alber es ferner seyn würde, allen Gebrauch des Gifftes, ohne Unterschied, für sündlich zu halten, nehmlich nicht allein, wenn er zu heimlichen Mordthaten sondern auch, wenn er von einem Chymicus, oder andern Künstler, zu dem menschlichen Nutzen angewendet wird: Eben so alber ist es auch, alle Unwahrheit und Verstellung für sündlich zu halten, es besitze sie entweder ein Betrüger, oder ein kluger Staats- Mann, der die Aufmercksamkeit der Feinde und Spione, welche die auf dem Tapet seyenden Absichten auszuforschen bemühet sind, durch wohl ersonnene Finten, geschicklich hinter das Licht zu führen weiß.  
  Demnach ist es keine wohlgegründete Sittenlehre, wenn man saget, ein ehrlicher Mann, oder auch ein Christ, müsse allezeit und ohne Unterschied offenhertzig, und ohne alle Verstellung seyn, er müsse allenthalben die Wahrheit, und nie ein anders, als was er dencke, reden. Es ist solches so viel gesagt, als, ein ehrlicher Mann müsse unter vielerley Mitteln, deren bald das eine, bald das andere, den Zweck zu erhalten, nöthig, und deren jedes, nach dem Unterschiede der Umstände, bald zu den Zwecke dienlich, bald demselben zuwider ist, sich dennoch nur an eines davon binden, und den Gebrauch desselben, ohne allen Verstand, es sey nun zu den Zwecke dienlich, oder nicht, sich beständig angewöhnen; Er müsse also, für grosser vermeynter Ehrlichkeit, alle gute Vernunfft (wenn es auch die Billigkeit selber wäre, als welcher die Wahrhafftigkeit so schier zuwider, als gemäß seyn kan) verleugnen. Hievon hat Müller über Gracians Oracul, in der 13 und 18 Maxime, gehandelt.
  Mit dieser philosophischen Erklärung wollen wir  
  β) eine historisch-theologische Anmerckung verbinden.  
  Die Christen des 1. und 2 Jahrhunderts befliessen sich vor allen Dingen der Wahrheit, wie sie denn vor eine Sünde hielten, wenn man nicht in allen Dingen die Wahrheit redete. Also bekannten sie öffentlich:  
  „Wir sind GOttes Nachfolger, und mit unserm Zustand ist es dermassen beschaffen: Wie wir etwas bey uns gedencken und überlegen, so lauten auch unsere Worte, und wie die Worte sind, so sind auch die Wercke, ja, wie  
  {Sp. 887|S. 457}  
  die Wercke, ist das gantze Leben, nehmlich, das gantze Leben der Christen ist durchgehends gut.„ (Clemens Alexandr. protrept. ad gent. …)  
  Indem nun Wort und Wandel bey ihnen so richtig zusammen stimmeten, so hatten sie keines Schwörens von nöthen, die Wahrheit zu bestätigen, es war gnug, wenn sie Ja, oder Nein sagten, oder noch hinzusetzeten: Ich rede die Wahrheit! Damit konnten diejenigen, welche die Unfehlbarkeit ihrer Worte nicht alsofort einsahen, schon zu frieden und gnugsam versichert seyn; Ob sie sich gleich nicht gäntzlich wegerten, bey Erfordern der Nothwendigkeit, einen Eydschwur abzulegen.  
  Doch, dieser Wahrheits-Liebe ohnbeschadet, giebet Hermas (Lib. II. …) nicht undeutlich zu verstehen, es sey zuweilen erlaubet, mit Worten von der Wahrheit abzugehen. Die Väter des andern und dritten Jahrhunderts bejahen solches noch deutlicher. Als Clemens Alexandrinus und Origines. Dem Origines sind in dieser Meynung sehr viele nachgefolget. Wir nennen hievon nur den Verfasser der Recognitionum Clementis. Plato nahm des Pythagoras Meynung an, und lehrete, denen Vorstehern einer Republick sey vor andern erlaubet, der Feinde, oder Bürger wegen, zum Nutzen der Republick, zu lügen und zu betrügen. Nun ist bekannt, daß die Christlichen Lehrer des andern und dritten Jahrhunderts, und insonderheit Origines und seine Schüler, aus Liebe zu dem Plato, vieles von ihm angenommen haben.  
  Dieser Irrthum der Lehrer in den ersten Jahrhunderten hat der Kirche grossen Schaden verursachet, und die Christl. Religion zu einem Spotte der Feinde gemacht. Daher sind so viel Wunder-Wercke erdichtet, so viel Fabeln in den Geschichten der Heiligen eingestreuet, so viel Bücher unter dem Nahmen Christi, der Apostel, und grosser Männer, an das Licht gebracht worden.  
  Es kam endlich auch daher die Disputir-Kunst, welche man in den 4 und 5 Jahrhunderte kat' oikonomian zu nennen pflegte. Wer sich derselben bediente, der meynte, es sey recht, die Gegner mit Betrügereyen zu hintergehen, und mit allerley List und Lügen der Wahrheit zu Hülffe zu kommen. Hieronymus (Comment. ad ep. ad Galat. …) schreibt selbst:  
  „Es ist nicht zu verwundern, daß auch fromme Leute nach Gelegenheit sich und andern zum Besten etwas unwahres vorbringen; Da auch unser Herr, welcher keine Sünde, auch kein sündliches Fleisch hatte, die Gestalt des sündlichen Fleisches angenommen, damit er die Sünde im Fleische verdammete, und uns vor GOtt gerecht machete.„  
  Augustinus hat Hieronymus unterschiedene mahl deswegen getadelt, er hat aber diese Meynung nicht ablegen wollen. Chrysostomus hat mit dem Origines eben diese Meynung gehabt.  
  Die Priscillianisten gaben in dem 5 Jahrhunderte vor, ihre Lehrsätze zu verbergen, es wären alle Lügen erlaubet, die einen Nutzen brächten. Ihr Sprüchwort ist bekannt: Jura, perjura; secretum prodere noli. Einige Christen wolten sich dieses Vortheils bedienen, und suchten dieselben mit Lügen zu hintergehen, dadurch hinter  
  {Sp. 888}  
  ihre Geheimnisse zu kommen. Es entstand daher unter den Christen die wichtige Frage: Ob man in gewissen Fällen wider die Wahrheit reden könne? Augustinus widersetzte sich in zwey Büchern de Mendacio, (von der Lügen). Es haben einige vermeynt, Augustinus sey zu weit gegangen, und haben das sogenannte Mendacium Officiosum (die Amts-Lügen) entschuldiget. Dieses ward endlich für eine problematische Frage gehalten und man durffte auf beyden Theilen darwider disputiren. Heliodorus (Aethiopicorum …) schreibt:  
  „Eine Lüge sey gut, wenn sie dem nütze, der sie sagt, und dem nichts schade, der sie höret.„  
  Johannes, der, nach dem Titel seines Buches, Climax, genennet wird, widerspricht ihm. In der Lateinischen Kirche sagt Caßianus: (in collationibus Patrum, …) Das Lügen sey, wie Niesewurtz, im Nothfall allerdings heylsam.  
  Gregorius Magnus (in Moralibus in Job. …) ist gantz anderer Meynung, und spricht, die Egyptischen Wehmütter hätten bloß eine zeitliche Belohnung empfangen, wären aber der ewigen Seeligkeit dabey verlustig worden; Weil sie einen Betrug, die Söhne der Israeliten zu erhalten, gebraucht.  
  Das Concilium Toletanum VIII, in dem Jahr 653, und Troslejanum, in dem Jahr 909, lehren, man müsse es in Schrifften und öffentlichen Versammlungen mit dem Augustinus halten; In andern Fällen könne man aber doch gelinder urtheilen.  
  Bey denen Scholastickern war Augustinus in grossem Ansehen, und also war auch desselben Meynung in diesem Stücke beybehalten; Doch nahm Hugo de St. Victore die schertzhafftigen Lügen von den Lügen aus, und Gabriel Biel lehrete, eine falsche Rede, womit GOtt einen andern zu betrügen befohlen, habe nicht die Natur einer Lüge.  
  In dem 12 Jahrhunderte bekräfftigte der Römische Pabst, Innocentius der III, durch einen Schluß, daß alle falschen Reden solten verdammet seyn.  
  Die Verfasser des Tridentinischen Catechismus, welcher in dem 16 Jahrhunderte auf dem Concilio zu Trident gemein gemacht wurde, sagen: (P. III. …) [vier Zeilen lateinischer Text] D.i. Es ist überdieses, einen aus Spaß, oder Amtshalber, mit einer Lügen zu hintergehen, (obschon Niemand davon Schaden, oder Nutzen, hat) doch allerdings unanständig; Denn so vermahnet uns der Apostel: Leget die Lügen ab, und redet die Wahrheit.  
  Die Römischen Theologen folgten dieser Meynung einmüthig. Nicol. Abramus, ein Jesuit, bemühete sich, die Rechte der Wahrheit wider die Lügen zu vertheidigen, wolte aber doch dabey beweisen, daß die Äqvivocationen oder Zweydeutigkeiten, welchen viele Gesellen seines Ordens hold sind, nach dem Exempel Christi, erlaubet wären.  
  Carol. Ambrosius Cattaneus, ein Meyländischer Jesuit, gab ein Buch, unter dem Titel: Lezione Sacre. heraus, worinnen er auch diese Lehre seiner Kirche gemäß vortrug; Er wolte aber dabey die Einschrenckungen in dem Gemüthe nicht verwerffen, und weil er sahe, daß die Lügen einen  
  {Sp. 889|S. 458}  
  Widerspruch der Worte gegen das Gemüth in sich fasseten, so leitete er gleichsam diesen Grundsatz daraus: Daselbst könne kein Beyfall oder Widerspruch, Statt haben, wo keine Anzeigung der Worte sey. Nach 20 Jahren griff Joseph Augustinus Orsius, in einer kleinen Schrifft, diese Meynung an; worauf viele Streit-Schrifften gewechselt wurden, obgleich Cattaneus schon todt war. Ob schon die Weltweisen eine andere Meynung dißfalls vortragen, so werden sie doch deswegen nicht unter die Ketzer gezehlet.  
  Gabriel Naudäus hat sich in einer besondern Abhandlung bemühet, den Ärtzten eine Freyheit zu betrügen beyzulegen. Cartesius (in Meditationibus de prima Philosophia …) räumet gar ein, GOtt selbst könne, den Worten nach, lügen.  
  Bey der Reformirten Kirche hat es anfangs frey gestanden, die Meynung, welche ein jeder für die Beste gehalten, zu erwählen. Johann Calvinus (Institut. relig. Christ. …) scheinet selbst nur die schädlichen Lügen zu verwerffen. Petrus Martyr (Loc. Comm. …) verdammet alle Lügen; hält aber die Mendacia jocosa et officiosa (Spaß- und Amts-Lügen) für peccata venialia, (erläßliche Sünden.) Lambert Danäus hingegen machet (in Ethica Christian. …) einen Unterscheid unter einem guten und bösen Betruge, und billiget jenen. Nachdem aber der Heydelbergische Catechismus geschrieben und von den meisten Reformirten Gemeinen angenommen worden ist, hat diese Freyheit aufgehöret.  
  Zacharias Ursinus (in Explicat. Catechismi) verwirfft alle falsche Reden. Diesem folgen Joh. la Placente, Ben. Pictetus, Joh. Hoornbeckius, Jac. Bernardus, Phil. Naudäus, und andere. Pictetus brauchte die Bescheidenheit, und trug die Beweise von beyden Seiten vor, und ließ dem Leser die Freyheit, davon zu urtheilen. Jac. Saurin, ein berühmter Prediger der Wallonischen Kirche, fügte seinen Discours Historiques, Critiques, Theologiques, etc. nach Veranlassung der Hure Rahab, eine Abhandlung von dem Lügen bey, und wolte den Weg des Pictets gehen. Er erhielt, dieser Abhandlung wegen, von den Kirchen zu Arnheim und Breda eine Approbation. Als aber diese Discourse in dem Drucke erschienen, so hatte er diese Abhandlung bey dem Vorfahren Samuels, da im GOtt befohlen, die Haupt-Absicht seiner Ankunfft denen Bethlehemiten zu verheelen, beygefüget.  
  In der Bibliotheque raisonnée … ward von Saurin geurtheilet, man könne nicht sehen, ob, nach seiner Meynung, GOtt den er ehre, unschuldig, oder aber einiger Laster schuldig sey. In der andern Ausgabe dieser Abhandlung, (Haag 1730 in 8.) bemühete sich Saurin, seine Meynung auf bessere Weise vorzutragen. Endlich ward in Haag ein Synodus angestellet, diese und andere Streitigkeiten beyzulegen. Darinnen ward dem Saurin einmüthig auferlegt, seine Abhandlung von dem Lügen zu widerrufen. Er gab hierauf eine Erklärung heraus, daß er in dieser Schrifft sich blos als ein Geschichtschreiber aufgeführet und seine Meynung, die er bereits in seinem Catechismo ausgeführet, nicht entdecket habe. Joh. Lud. Bonvoustio ward indeß aufgetragen, die-  
  {Sp. 890}  
  sen Streit zu beschreiben, und die gemeine Meynung der Reformirten zu behaupten. Dieses that er auch in dem Buche: Le Triomphe de la verité … a Utrecht, 1731 in 8.  
  Anjetzt will man fast die Gottesgelehrten, welche öffentlich lehren, es sey erlaubt, die Wahrheit, um ein grösser Gut zu erlangen, zu verlassen, von der Gemeinschafft ausschliessen. Dieser Ernst unter denen Reformirten, sonderlich in Holland, hindert nicht, daß nicht die Rechtsgelehrten und Weltweisen von der gemeinen Meynung abgehen solten. Dieses erhellet aus den Anmerckungen Joh. Barbeyracii, die er unter die Frantzösische Übersetzung des Pufendorffischen Juris naturae et gentium … gesetzet hat. Diesem fället Gravesand, ein berühmter Holländischer Weltweiser, in einem Briefe von dieser Sache, in dem Journal litteraire … bey. Denen Arminianern hat auch die sanffte Erklärung, daß GOtt nicht eine so scharffe Beobachtung der Wahrheit erfordere, gefallen.  
  Dieser Streit wird in unserer Kirche für ein Theologisches Problem gehalten, davon man auf beyden Seiten disputiren kan.  
  Die gottsel. Bekenner haben in den symbolischen Büchern die dreyfache Eintheilung der Lügen mit Stillschweigen übergangen; dieses hätten sie wohl nicht gethan, wenn sie geglaubt, daß eine Meynung unter diesen gefährlich sey.  
  Martin Chemnitius (in loc. theol. …), Caspar Erasmus Brochmann, (in System. Theol. …) und Johann Hülsemann (in extensione breviarii theol. …) geben denen Beyfall, welche meynen, die Wahrheit könne zuweilen aus Liebe verlassen werden; doch sind sie nicht hart gegen diejenigen, welche das Gegentheil behaupten.  
  Johann Gerhard (locor. comm. T. III, de lege Dei) hat des Augustinus und der Scholasticker Meynung, nebst andern bestärcket, er ist aber, soviel uns bewust, von Niemanden deswegen widerleget worden.  
  Die neuen Gottesgelehrten haben die Eintheilung in die schertzhafftigen, Pflichtmäßigen und schädlichen Lügen verworffen, einen Unterschied unter denen Lügen (Mendaciis) und Unwahrheiten (Falsiloquiis) gemacht, und die letzten behauptet. Unsere Welt-Weisen stimmen (wie aus der vorhergehenden Philosophischen Erklärung zu ersehen ist) hiermit überein. Wir halten davor, daß eine falsche Rede, oder Unwahrheit, von einem Christen ohne Sünde vorgebracht werden könne, wenn es die Liebe des Nächsten, oder eine tugendhaffte Liebe gegen uns selbst, erfordert.  
  Weil uns GOtt das Vermögen zu reden deswegen verliehen hat, daß wir andern, mit denen wir umgehen, von unsern Gedancken Versicherung geben; so sind wir verbunden zu sorgen, daß unsere Worte mit unserm Sinne übereinstimmen. Ist aber diese Übereinstimmung allgemein, oder bedingt? Man kan hier 3. Fragen machen:  
 
(a.) Was sind das vor Fälle, in welchen man die Wahrheit nicht verlassen, oder verheelen darff?
(b.) Kan denn bey einigen Umständen eine gewisse Einschrenckung der Verbindlichkeit wahr zu reden zugelassen werden?
(c.)
 
  {Sp. 891|S. 459}  
 
  Sind denn Fälle, da diese Obligation gar aufhören, und die Unwahrheit Statt finden kan?
 
  Ein Christ muß allen Fleiß anwenden, Aufrichtigkeit gegen seinen Nächsten, so es zu desselben Bestem dienet, zu gebrauchen. Die Wahrheit muß in den Gesprächen, welche die Religion und Göttl. Dinge angehen, auf das genaueste beobachtet und bekennet werden.  
  Was ist von denen so genannten heiligen Betrügereyen (piis Fraudibus) zu halten? Diese sind schädlich und verwerfflich. GOtt fordert einen vernünfftigen Gottesdienst, eine Überzeugung des Verstandes von den Glaubens-Lehren, und gute Wercke, welche aus dem Glauben kommen, und ihren Grund in der Erlösung haben. Was kan vor eine Überzeugung bey einem Menschen entstehen, welchem entweder falsche Gründe, oder erdichtete Zeugnisse und Wunder, die Erkänntniß des Heyls zu erlangen, eingepräget werden? Was wird er vor Beweis-Gründe haben? Es muß ein knechtischer Gottesdienst entstehen; es muß entweder Unglaube, oder Aberglaube, erfolgen. Wenn nun der Betrug entdecket wird, was wird für ein Begriff von der Religion übrig bleiben? Was vor Schade entstand nicht der Kirche in den ersten Jahrhunderten daraus?  
  Daher verabscheuen auch diejenigen diese heiligen Betrügereyen, (pias Fraudes) welche sonst nicht alle Unwahrheiten (Falsiloquia) verwerffen. Leidet die Verbindlichkeit, die Wahrheit zu reden, bey gewissen Umständen eine Einschrenckung? Ja. Bey einem freyen Bekänntnisse würden wir uns zuweilen selbst, oder andern, schaden. Die Moralisten sagen, man könne so dann entweder die Wahrheit verschweigen, oder zweydeutig reden. Z.E. Es hätte einer eine Reise vor sich, und es würde ihm an seinem Glücke hinderlich seyn, wenn er es andern sagte. Muß er nun auf Befragen, wo er hin reise, solches offenbahren? Nein; Es ist ihm erlaubt, die Antwort abzuschlagen, oder einen Ort zu nennen, da er durchreiset.  
  Es ist nun die Frage: Ob man in den Umständen, da unsere, oder anderer Leute Vortheile, nicht anders erhalten werden können, die Wahrheit so übergehen könne, daß man offenbahrlich eine Unwahrheit sagen dürffe? Einige antworten, man habe entweder mit Obrigkeitlichen Personen, oder mit Leuten seines gleichen zu thun. In dem ersten Falle sey es nicht erlaubet, etwas falsches zu reden, ob es schon in dem andern Falle angehen könne. Weil man aber GOtt mehr, als den Menschen gehorchen muß, so höret wohl auch alsdenn die Freyheit nicht auf, wenn sie übrigens nicht den Göttl. Gesetzen zuwieder läufft. Wie die Obrigkeit nicht sündiget, wenn sie einen Menschen tödten lässet; so begehet auch derjenige, welcher bey gewissen Umständen unwahr redet, keine Sünde.  
  Einige sonderlich derer Alten, haben die falschen Reden zu den erläßlichen Sünden gerechnet. Zu dem Wesen einer erläßlichen Sünde gehöret, daß sie wider mein Wissen und wider meinen Willen begangen werden. Dieses aber lässet sich hieher nicht deuten. Man hat folgende Regeln zu mercken:  
  1.) Es muß durch eine falsche Rede entweder ein wahres Gut erlanget, oder etwas, so würcklich böse ist, vermieden werden. Z.E. Man kan zu einem Wahnwitzigen, der einen Degen fordert, sagen, man habe kei-  
  {Sp. 892}  
  nen.  
  2) Der Nutzen, oder Schaden, so aus einer falschen Rede kommt, muß grösser seyn, als der Nutzen, oder Schaden ist, den man ordentlicher Weise erlangen, oder vermeiden kan. Z.E. Ein Tyrann will einen unschuldigen Unterthanen tödten lassen, und drohet andern mit der Lebens-Straffe, wo sie nicht sagen, wo er sey. Da ist eher die Wahrheit zu melden, als zu verursachen, daß viele hingerichtet werden.  
  3) Man muß nicht eher falsch reden, als bis kein Mittel mehr ist, seine und anderer Wohlfahrth zu befördern. Z.E. Es muß einer sterben, oder muß sein Leben mit einer Unwahrheit retten.  
  Wir beweisen, daß dergleichen falsche Reden mit Recht gebrauchet werden können: Wir haben Pflichten gegen GOtt, gegen uns, und gegen unsern Nächsten. Diese fliessen aus der Liebe gegen GOtt, gegen uns und unsern Nächsten. Wenn wir diese Liebe ausüben, so erfüllen wir das Gesetz.
  • Matth. XXII, 37. u.ff.
  • Rom. XIII, 9. u.ff.
  • Coloss. III, 14.
  Die Liebe ist eine Bereitschafft, aus den Vollkommenheiten eines andern ein Vergnügen zu schöpffen. Erkennen wir GOttes Vollkommenheiten, so entstehet ein Verlangen GOttes Ehre, auch unsere und des Nächsten Wohlfahrt zu befördern. Nach dem Sünden-Falle geschiehet es durch anderer Bosheit, daß die Haupt-Gesetze in gewissen Fällen mit einander streiten, und nicht alle zugleich beobachtet werden können. Daher thun wir unserer Pflicht ein Genüge, wenn wir das kleinere Gebot fahren lassen, und das grössere beobachten. Die Pflichten gegen GOtt sind andern vorzuziehen, wenn wir, oder andere, auch das Leben dabey verliehren solten.
  • Matth. X, 38. u.ff.
  • Marc. VIII, 34. u.ff.
  Die Liebe gegen uns selbst ist die Regel, nach welcher wir den Nächsten lieben sollen. Matth. XXII, 39.
  Darum sind auch die Pflichten, die wir uns selbst schuldig sind, den Pflichten gegen andere vorzuziehen.  
  Die Beobachtung der Wahrheit verliehret ihr Gewichte, wenn sie aufhöret, ein Mittel unserer und unsers Nächsten Glückseligkeit zu seyn. GOtt verbeut die falschen Reden, so ferne sie wider die Liebe gegen uns und unsern Nächsten streiten, und in so ferne sind sie auch nur böse. In den Worten: Sey fern von falschen Sachen, 2 B. Mosis XXIII, 7. werden die Richter gewarnet, daß sie nicht durch Lügen das Recht und die Unschuldigen kräncken lassen. Ps. V, 7. heisset es: Du bringest die Lügner um; es werden aber v. 10. die Lügner beschrieben, wer sie sind.  
  Paulus befiehlet: Leget die Lügen ab, u.s.w. Ephes. IV, 25; Er setzet aber diese Ursach hinzu: Weil wir unter einander Glieder sind, und einander nicht schaden sollen. Coloss. III, 9. verbeut er: Lüget nicht, es stehet aber dabey eis allēlous, wider einander, oder zu Schaden.  
  Unsere Meynung wird von Exempeln, welche der H. Geist selbst zuweilen gelobet hat, bestätiget.  
  Wir nennen zuerst die Hure Rahab,
  • Jos. II, 3.
  • Ebr. VI, 31.
  Samuel muste sagen, er wär gekommen dem HErrn zu opffern, und das vornehmste Absehen war, einen neuen König zu suchen, 1 Sam. XVI, 2.
  Elisa war ohne Zweiffel von den Syrern befraget worden, wo der Prophet wäre; er gab sich aber ihnen nicht zu erkennen, sondern sprach, er wolle sie zu dem Manne führen, 2 Kön. VI, 14-20.
  {Sp. 893|S. 460}  
  II. Obschon, wie wir anjetzo gezeiget haben, nicht alle Unwahrheiten untersaget, sind doch alle Lügen verboten,  
  Das heisset aber eine Lügen, welche, durch die Gesetze der Friedfertigkeit, verboten ist, wenn man den Nächsten dadurch beleidiget, daß man ihm solche Wahrheiten, die er zu seinem wahren Nutzen zu wissen, und von uns zu erfahren ein gegründetes Recht hat, nicht allein verschweiget, sondern auch denselben, an statt solchenfals die Wahrheit zu reden, mit Unwahrheiten hintergehet, und ihm hierdurch unbefugter Weise schadet. Die lobenswürdige Wahrhafftigkeit ist also eine Pflicht, dem andern die Wahrheit, die er, zu seinem wahren Nutzen, zu wissen, und vermöge der Gesetze der Geselligkeit, von uns zu erfahren ein Recht hat, zu offenbahren.  
  Man wird leicht begreiffen, daß aus der Wahrhafftigkeit für einen wahrhafftigen Menschen viel Gutes erfolget. Denn wie ein Lügner seinen Glauben verliehret, so behält er ihn, und Jedermann, der ihn kennet, trauet ihm. Niemand darff sich befürchten, daß er ihn verleumden wird, vielmehr ist er vergewissert, daß er alles zu dem Besten kehret. Und demnach hat ihn Jedermann gerne um sich.  
  Absonderlich folget auch dieses aus der Verschwiegenheit, daß wir uns viel Freunde machen: Gleichwie hingegen Unverschwiegenheit viel Feindschafft erwecket. Verschwiegenheit bringet dem Menschen auch den Vortheil, daß er nicht zu seinem eigenen Schaden ausschwatzet, was ihm nachtheilig ist, und andere zu ihrer Nachricht brauchen, ihm in seinem Vorhaben hinderlich zu fallen. Und hier ist sonderlich vonnöthen, daß man fleißig darauf Acht hat, wie vieles Unheyl die Menschen sich mit ihrem Maule zugezogen haben, weil sie nicht verschwiegen gewesen sind.  
  Dabey müssen wir auch nicht vergessen daß viele Bedienungen in der Welt sind, dabey man Verschwiegenheit nöthig hat, sich aber in grosse Gefahr stürtzet, wenn man nicht schweigen kan. Absonderlich schicken sich auch diejenigen, die nichts verschweigen können, in keine Gesellschafften, indem sie, durch ihr Sagen und Wiedersagen, nichts als Uneinigkeit unter andern stifften, und sie Niemand zu ihren vertrauten Freunden verlanget, oder gerne um sich hat.  
  Vornehmlich ist die Tugend der Wahrhafftigkeit und damit verknüpfften Verschwiegenheit den Kindern anzugewöhnen. Denn da ein Lügner seinen Glauben verlieret, und Niemand gern mit ihm etwas zu thun hat, so können Kinder wenig in der Welt unter Leuten fortkommen, woferne sie nicht wahrhafftig sind; Als welches auch zu besorgen ist, wenn sie nicht verschwiegen sind. Man muß ihnen also nicht Anlaß geben, sich zu dem Lügen zu gewöhnen, entweder, weil man ihnen ohne Grund zuverläßige Lust versaget, oder sie wegen eines Versehens gar zu harte anlässet, oder auch wohl unterweilen nicht giebt, was sie zu ihrer Nothdurfft gebrauchen, und was dergleichen mehr ist.  
  Die andere Gattung der Wahrhafftigkeit der Menschen, ist die dem Laster der Untreue, List und Verrätherey entgegen gesetzte Tugend der Treue, oder dasjenige Bestreben, da wir das Versprechen, so wir andern, sie mögen seyn, wer sie  
  {Sp. 894}  
  wollen, gethan haben, treulich zu halten, bemühet sind, welches dem menschlichen Geschlechte höchst nöthig ist. Denn weil die Leutseligkeit und derselben Dienstbezeugung nicht hinlänglich ist, daß die Menschen alle diejenigen Dinge, deren sie von einander benöthiget sind, vermittelst derselben erweisen können, so muß ein Mensch dem andern sich vollkömmlich durch Versprechungen zu verpflichten trachten, der ihm sonst aus der Leutseligkeit ohne zulänglichen Zwang verbunden wäre. Und weil alle Menschen ordentlich fähig sind, durch dergleichen Versprechungen sich mit einander zu verbinden, so erfordert die Gleichheit der menschlichen Natur, daß ein jeder das gethane Versprechen zu halten schuldig sey.  
  Zum Versprechen, welches zur Wahrhafftigkeit gehöret, wird erfordert, daß ein Mensch mit Wissen und Willen dem andern dasjenige, so in seinem Vermögen ist, zu geben, und zu thun, zusaget, auf welche Weise die Sache, oder die That unsere natürliche Kräffte nicht übertreffen, noch durch die Gesetze uns verboten, oder entzogen seyn muß, daß wir uns folglich zu möglichen und unzuläßlichen Dingen nicht verbinden können, siehe Pufendorf de jure nat. et gent. ...
  Viel weniger kan man von andrer Leute Sachen, oder Thaten etwas versprechen, noch von unsern eigenen Thun und Lassen, welches schon andern verpflichtet ist. Gehöret aber zum Versprechen, daß solches mit unserm Wissen und Willen geschehe, so hat solches keine Gültigkeit, wenn der Verstand noch nicht zu Kräfften kommen; Die Vernunfft durch Raserey, grossen und Haupt-Irrthum, oder auf andere Weise, z.E. durch Trunckenheit in ihren ordentlichen Wirckungen gehindert gewesen, und auf Seiten des Willens eine rechtmäßige Furcht und unrechter Zwang dabey vorgegangen.  
  Hieraus können nun zwey Fragen erörtert werden: erstlich; ob dieses vor eine Treubrüchigkeit zu halten, wenn man denjenigen, der durch eine offenbahr ungerechte Gewalt uns zur Zusage gezwungen hat, die Leistung dessen, was man ihm auf diese Weise versprochen, versaget? Grotius glaubet, daß aus einer dergleichen Zusage der versprechende Theil gehalten sey, sein Versprechen zu erfüllen; hingegen aber sey der Gewaltthätiger verbunden, demjenigen, so Gewalt gelitten, die disfals ausgepreßte Sache wiederum zuzustellen, weil er ihn durch die zugefügte Gewalt gröblich beleidiget habe, und dannenhero ihm billig dieserwegen Genüge zu geben schuldig sey, siehe de jure belli et pacis
  welche Gedancken auf einer blossen und unnützen Subtilität beruhen.  
  Andere, als schon vorlängst Cicero, und zu unsern Zeiten Pufendorf halten dafür, daß in diesem Falle derjenige, den man zum Versprechen gewaltthätiger Weise gezwungen habe, nicht schuldig sey, dasselbe zu halten, weil man bey dem Versprechen dahin sehen müsse, ob einer mit Wissen und Willen etwas versprochen habe; ob der andere dem das Versprechen geschehen, solches aus dem natürlichen Rechte anzunehmen befugt sey, und ob nicht die Verbindlichkeit des versprechenden Theils, wenn eine solte erwachsen seyn, durch des andern seine Schuld, krafft deren er ver-  
  {Sp. 895|S. 461}  
  pflichtet ist, wegen des geschehenen Unrechts dem ersten gnug zu thun, gleichsam compensiret und aufgehoben werde.  
  Wider diese Meynung hat ein anderer die Dritte vertheidigen wollen, daß ein Mensch allerdings schuldig sey, sein disfals gethanes durch Gewalt erprestes Versprechen zu halten, weil derjenige, der die Gewalt verübet, in Verübung derselben zwar unrecht gethan; aber gleichwohl dadurch nicht verhindert worden, das Versprechen anzunehmen, und dadurch ein Recht, die versprochene Sache einzutreiben, erhalten. So könne auch hierinnen keine Compensation statt finden, und sey vielmehr dafür zu halten, daß der versprechende Theil bey dem Versprechen sich des Rechts stillschweigend begeben habe, daß er sonst gehabet hätte, die mit Gewalt erpreste Sache wieder zu fordern, oder Gnugthuung deswegen zu begehren, siehe Thomasius Jurisprud. Divin. … und in Einleit. der Sittenlehre ...
  Die andere Frage ist: ob den Ketzern Treu und Glauben zu halten sey? Die Päbstler lehren, man seyn nicht schuldig, solchen Glauben zu halten, siehe Buddei Diss. de concord. relig. Christ.
  Allein auf solche Weise müste das Band des menschlichen Geschlechts gantz und gar aufgehoben werden: es müste auf solche Weise nur zwischen Leuten von einer Religion Treu und Glauben gelten, und wo käme die allgemeine menschliche Natur hin, welche bey allen Menschen, die auch, es möge seyn von was für Dingen es wolle, unterschiedene Meynungen haben, gleich ist, und so gleiche Verpflichtungen wircket. Können wir wohl überdis bey allen Fällen der Leutseligkeit der Ketzer entbehren? also werden wir eben so wenig derselben entrathen können, daß wir ihr Versprechen von ihnen nicht annehmen solten; sollen sie aber uns ihr Versprechen halten, so müssen wir es ihnen auch halten. Siehe Buddei Diss. de ratione status circa foedera … und Ziegler de juribus majest. ...
  Beyde Wahrhaftigkeit nennen die Aristotelici Veracitatem homileticam, die Homiletische Wahrhaftigkeit, welches eine Griechische Benennung ist, und auf den Umgang mit andern abzielet, da man sich derselben bedienen müste. Denn Aristoteles setzte drey Homiletische Tugenden, wie an gehörigen Orte von den Tugenden mit mehrern erinnert worden.
  • Horn philos. moral. …
  • Müllers instit. ethic. …
  • Philaretus in ethic. …
  • Walchs Philos. Lex. …
  • Rambachs Dogmat. Theol. Th. I. …
  • Zimmermanns natürliche Erkänntniß Gottes, Welt und Menschen …
  • Baylens Crit. Wörter-Buch, Th. IV. …
  • Müllers Philos. Wissensch. Th. III. …
  • Wolffs gesellschafftl. Leb. der Menschen …
  • Desselben Thun und Lassen der Menschen …
  • Baumeisters Philosoph. definit. …
  • Reuschii Metaphys. …
  • Kemmerichs Acad. der Wissensch. Eröffn. III. …
  • Meisners Philos. Lex. …
  • Gründl. Auszüge aus Disput. B. IV. …
  • Heinsii Kirchen-Hist. Th. I. …
  • v. Rohrs Glaubens-Lehren …
  • Männlings Curiosit. Cab. Th. III. …
  • Baumgartens Theol. Moral. …
  {Sp. 896}
   
  u.f.
 
  Siehe auch den Artickel: Wahrheit, im 2 Abschnitte.
     

HIS-Data 5028-52-882-17: Zedler: Wahrhafftigkeit HIS-Data Home
Stand: 12. Juli 2013 © Hans-Walter Pries