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Zedler: Unwahrheit HIS-Data
5028-49-2488-7
Titel: Unwahrheit
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 49 Sp. 2488-2497
Jahr: 1746
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 49 S. 1259-1264
Vorheriger Artikel: Unwahre Worte
Folgender Artikel: Unwahrheit, (Ethische)
Siehe auch:
Hinweise:

  Text Quellenangaben
  Unwahrheit, Falsitas, wird insgemein in einer dreyfachen Bedeutung genommen.  
  Erstlich ist die Metaphysische Unwahrheit, wenn etwas in der That nicht dasjenige sey, dafür man es ausgiebt, z.E. eine falsche Müntze, ein falscher Diamant. siehe Donati Metaphys. Usual.
  Rüdiger sagt in seiner Ontologia … wenn die Sinnen recht beschaffen wären, daß sie nicht betrögen, so könnte niemahls was im Metaphysischen Sinne falsch seyn, und wäre also der Metaphysischen Wahrheit, die er eine unmittelbahre Übereinstimmung einer Sache mit dem Verstande nennet, keine Unwahrheit entgegen gesetzet, sondern der Logischen Wahrheit.  
  Vors andere ist die Logische Unwahrheit, welche insgemein durch eine Disharmonie zwischen den äusserlichen Dingen und den Gedancken erkläret wird: Gäbe man ein solches falsche für wahr aus, so sey es ein Irrthum; lasse man es aber vor eine blosse Würckung des Verstandes, oder vielmehr des Ingenii gelten, so wäre es eine Fiction, so auch das Poetische Falsche genennet wird. Siehe Thomasii Einleitung zur Vernunfft-Lehre ... und Buddeum Philos. Instrument. …  
  Siehe auch den Artickel: Logickalische Unwahrheit, im XVIII Bande, p. 260.  
  Diese Erklärung des Logischen Falschen rühret aus der angenommenen Definition der Logischen Wahrheit, daß solche in einer Übereinstimmung der menschlichen Gedancken mit der Beschaffenheit der Dinge ausser den Gedancken bestünde. In dem Artickel von der Wahrheit haben wir die Logische Wahrheit einen Zusammenhang der Gedancken mit der Sache selbst vermittelst der Empfindung genennet, und selbige in unterschiedene  
  {Sp. 2489|S. 1260}  
  Arten getheilet, da in dem Gegentheile leichte zu erkennen, was und in wie vielerley die Logische Unwahrheit sey. Siehe
  • Titium in arte cogit.
  • Clericum in logic. …
  • Gerhard in Delineat. philos. ration.
  • Syrbius in instit. phil. ration. electic.
  Drittens hat man eine Ethische Unwahrheit, welche in der Abweichung unserer Rede von unserm Gemüthe bestehet, da man nehmlich anders redet, als man es in seinem Hertzen meinet, so aus dem Laster der Falschheit des Gemüths entstehet, und des andern Schaden suchet.  
  Es giebet aber auch Unwahrheiten, welche zuweilen niemanden schaden. Ja sie können auch wohl gar uns und andern nützlich seyn. Nun sind wir verbunden, unser eigenes und andrer Leute Bestes auf alle Weise zu befördern; folglich sind wir auch verbunden in gewissen Fällen die Unwahrheit zu sagen. Da wir aber wissen, daß bey einem Tugendhafften alles übereinstimmen muß, und also auch Worte und Gedancken von rechtswegen beständig übereinkommen sollen; so muß auch derselbe die Unwahrheit nicht anders, als im Nothfalle, brauchen; entweder sein und anderer Bestes dadurch zu befördern, oder doch einen sonst unvermeidlichen Schaden von sich oder von andern abzuwenden. Gottscheds Gründe der Welt-Weish. Pract. Theil …
  Es ist bereits schon unter den Artickel: Lügen im XVIII Bande, p. 1073 u.ff. von der Frage: Ob alle und jede Unwahrheit an und vor sich sündlich und unerlaubt sey, oder ob es nicht wenigstens einige Fälle gebe, wo die sorgfältige Verbergung der Wahrheit entweder zu einer nöthigen Pflicht oder wenigstens zu einer unschuldigen und erlaubten Sache werde? gehandelt worden. Hier wollen wir nur noch einen Extract aus des Herrn Saurins Dissertation über diese Frage so in denen Lettres serieuses … zu befinden mit beyfügen.  
  Es finden nehmlich einige über diese Frage weder in der Schrifft, noch in der Vernunfft eine gnungsame Entscheidung. Den ausdrücklichen Befehlen, keine Unwahrheiten zu reden, setzet man theils einige andere eben so allgemein abgefaßte Verordnungen der Bibel, welche doch unter gewissen Umständen eine billige Ausnahme leiden; theils die nicht undeutlich gebilligten Beyspiel, Abrahams, Isaacs, der Hebreischen Wehmütter, Rahab, Samuels, Judith und anderer entgegen, welche über die Priscilianisten so viel vermochten, daß sie GOtt selbst unwahre Aussprüche Schuld gaben, welches doch eine augenscheinliche Gotteslästerung ist.  
  Wie Augustinus alle Unwahrheiten schlechterdings verdammet, so machet hingegen Thomas von Aquino einen Unterscheid zwischen den mendaciis perniciosis, officiosis und jocosis. Weil es scheint, als ob GOtt diese Sache der Entscheidung unserer von andern Pflichten aus der Offenbahrung unterrichteten Vernunfft überlassen habe, so hat Herr Saurin die Meynung Grotii, Pufendorfs, Barbeyracs, und vieler andern ohne Verletzung seines Gewissens theils ergreiffen, theils vertheidigen zu können gelaubet.  
  Um die Frage aus der Betrachtung der Natur der Dinge  
  {Sp. 2490}  
  selbst auszumachen, können die Unterredungen, der Menschen entweder als eine Folge eines geheimen oder stillschweigenden Vertrags, nach welchen sie sich unter einander schuldig sind, ihre Gedancken zu eröfnen, oder als eine Verbindlichkeit angesehen werden, die ohne einem dergleichen Vertrag den Menschen als Menschen oblieget, als Bürgern eines Landes und Religions-Verwandten, sich unter einander die Wahrheit zu eröfnen.  
  Bey der ersten Meynung ist gewiß, daß jeder Vertrag ein gewisses Verhalten des andern Theils voraus setzet, und wenn eine von den Partheyen, welche contrahiren, dieselben Pflichten nicht erfüllet, so ist die andere auch nicht mehr an den Vertrag gehalten. Hernach wird auch bey jedem Vertrage ferner voraus gesetzet, daß die eine von den contrahirenden Personen sich der Aufrichtigkeit des andern Theils, mit denen sie zu thun hat, nicht dahin bediene, daß sie ihm untreu werde, oder jene diesem weit ein grösseres Ungemach anthue, als das Gute hätte seyn können, zu dessen Erlangung der Contract eingegangen worden ist.  
  Also kan in zwey Fällen eine Unwahrheit nicht strafbar werden, wenn mich nehmlich der andere zuerst betrogen hat, oder wenn ich voraus sehe, daß er sich die Gewissenhafftigkeit, nach der ich mit ihm rede, gegen mich zu Nutze machen werde, nur mir zu schaden.  
  Bey der andern Meynung hat die Verbindlichkeit, Wahrheiten zu reden, welche zwischen mir und meinem Nebenmenschen, Mitbürger, und Mitgenossen der Religion, wenigstens der natürlichen, obschwebet, auch ihre Schrancken. Ich bin ihm nur diejenigen Wahrheiten zu sagen schuldig, welche ihm nützlich oder nöthig sind zur Erlangung seiner rechtmäßigen Endzwecken, nicht aber diejenigen, die ihn nur in Verdruß stürtzen würden, ohne ihm weiter was zum nützen, nicht die, womit er mir selbst schaden will, wenn er sie erfahren wird, auch nicht solche, durch welche er das Vaterland oder sonst eine unschuldige Gesellschafft verderben will.  
  In der Schrifft wird Rahabs Verfahren gelobet, welche diejenigen, die die Israelitischen Kundschaffter bey ihr suchten, mit einer Unwahrheit abspeisete; welches um so viel sträflicher zu seyn scheinen könte, da die Boten vom Könige der Stadt und des Landes abgesendet waren, der sich und seine Unterthanen vor dem Einfall eines anruckenden öffentlichen Feindes in Sicherheit setzen, und bey dem ruhigen Besitze ihres Vaterlandes erhalten wolte. Einige wollen sich hier mit dem Unterscheide zwischen Rahabs Vorhaben und der Art, dasselbe auszuführen, heraus zu wickeln suchen: GOTT soll diese verabscheuet und nur jenes gelobt haben. Wenn die Unwahrheiten niemahls unschuldig und allezeit sündlich sind; so ist auch ein jedes Vorhaben sündlich, welches nicht anders, als durch eine Unwahrheit, ausgeführet werden kan.  
  Nun konnte aber Rahabs Vorhaben ohne eine Unwahrheit nicht vollbracht werden: Denn wären weniger gefährlichere Wege zu diesem Zwecke vorhanden gewesen, so wäre Rahab vollends auf keine Weise zu entschuldigen, daß sie die unschuldigen Mittel den verdächtigen nicht vorgezogen hätte. Also muß ihr  
  {Sp. 2491|S. 1261}  
  Vorhaben diesem nach selbst sündlich gewesen seyn. Man muß also zugeben, daß entweder die Güte des Vorhabens und die Unmöglichkeit, dasselbe anders, als durch eine Unwahrheit, zu Wercke zu richten, den unwahren Bericht völlig entschuldigen, den Rahab ihrer Obrigkeit abstattet, oder GOtt das Laster eines Lobes gewürdiget habe.  
  Das letzte ist eine GOttes-Lästerung, der sich niemand theilhafftig machen wird. Also müssen die Umstände manchmahl auch eine Unwahrheit rechtfertigen und erlaubt machen. GOtt befahl dem Samuel selbst, die wahre Ursache seiner Reise nach Bethlehem, um allda David zu salben, unter dem äusserlichen Schein eines Opffers zu verbergen. Weil Saul dadurch auf die Gedancken gerathen muste, daß das Opffer, welches Samuel verrichtete, alles wäre, was er in dieser Gegend nach GOttes Befehl als ein Prophet etwa zu thun hätte, so hatte die Erfüllung dieses Befehls eben dasjenige an sich, woraus man die allgemeine Sündlichkeit aller Unwahrheiten herleiten will, nehmlich daß dadurch der Nächste in Irrthum und falsche Urtheile gestürtzet werde. Unterdessen war Samuels mit einem falschen Schein umgebene Handlung nicht strafbar; sonst hätte sie ihm GOtt nicht befehlen können.  
  Wenn man ausmachen will, ob die allgemeinen Verbote in der Schrifft eine Ausnahme leiden oder nicht, so muß man es aus der Natur der Sachen selbst beurtheilen. Ehe man Pauli Worte, daß man nichts böses thun solle, weil etwas gutes daraus kommen, auf unwahre Reden überhaupt deuten kan, muß vorher schon ausgemacht seyn, daß alle Unwahrheit etwas Böses sey. Sonst begehet man in Anführung dieser Stelle Petitionem Principii.  
  Der Autor zehlet die Lügen, überhaupt davon zu reden, weder zu den guten noch zu den bösen Handlungen, noch auch zu den Mittel-Dingen, sondern meint, man müsse noch eine neue Classe der menschlichen Handlungen machen, worein diejenigen Dinge gehörten, welche meistentheils böse sind, aber um einiger Umstände Willen manchmahl, wie wohl gar selten, gut werden können.  
  Auf folgende Fragen:  
 
  • Wird nicht, im Falle es auch nur manchmahl erlaubet ist; Unwahrheiten mit gutem Gewissen zu sagen, die menschliche Gesellschafft in Unordnungen gerathen, und alles Vertrauen daraus verbannet werden?
  • Da sich leichte eben so viel Gelegenheiten finden könten zu unschuldigen als zu strafbaren Lügen, wird da nicht mancher ehrliche Mann so viel Unwahrheiten, als Wahrheiten reden?
  • Wer kan die Grentzen genau genung setzen, daß man hierinnen nicht zu weit gehe?
  • Müssen sodann nicht auch fraudes piae, und ein Betrug, der zum Besten der wahren Religion abzielet, recht gesprochen werden?
  • Und wenn es manchmahl unsere Pflicht ist, was anders als die Wahrheit zu reden, würde nicht so GOtt selbst zuweilen der Wahrheit zuwieder reden können? Welches letzte kein vernünfftiger zugeben wird:
 
  Antwortet Herr Saurin ordentlich nach einander folgender Gestalt:  
  Wenn man die Wahrheit nie verschweigen darff, so wird ein jeder boshaffter Kerl den gewissenhaftesten Mann in seinen Absichten stöhren können: er darff ihn  
  {Sp. 2492}  
  nur dreiste darum zur Rede setzen: er darff sie ihm ja nicht verschweigen; so wird ihn seine Redlichkeit der Verrätherey bloß stellen; die Wahrheit, die ihm mehr als andern nutzen solte, wird ihm am meisten schaden, und die schlimmen Folgerungen, welche seine Offenhertzigkeit nach sich ziehen wird, müssen ihn verächtlich, seine besten Anschläge aber zu Schanden machen, und den Haufen der Bösen, welcher fast überall der zahlreichste ist, sicher wieder ihn reitzen, weil er ihnen so fast niemahls einigen Widerstand thun kan, auf den sie sich nicht gefasset gemachet, und sich dawider verwahret hätten; so trifft das Ungemach fast nur die frömmsten und ehrlisten.  
  Die Nutzbarkeit alleine entschuldiget eine Lüge nicht: Das Gute was durch sie erhalten wird, muß unentbehrlich und höchstnöthig, keine andern Mittel aber mehr vorhanden seyn, dasselbe zu erhalten, als eine Unwahrheit zu reden, die allen andern Leuten unschädlich, mir aber nützlich ist. Wie viele Pflichten sind uns nicht auferlegt deren Gräntzen und Absonderungen von einiger massen verwandten Lastern wir freylich auf ein Haar breit nicht bezeichnen können? und wenn sich ein redlicher Mann in dergleichen Umständen befindet, da er noch zweifelhafft ist, so hat er sich doch nichts vorzuwerffen, wenn er im Fall der Noth die Wahrheit saget, die er mit gutem Gewissen hätte verbergen mögen, oder sie Würcklich verbirgt.  
  Piae fraudes sind niemahls erlaubt; es wächset aus dem frommen Betrug der wahren Religion nie ein Vortheil zu, der nicht anders erhalten werden könte oder unentbehrlich wäre. Es wird dadurch die Kirche über lang oder kurtz verdächtig gemacht, die sich dieses Mittels bedient, und nur die Scheinheiligkeit unterhalten. GOTT kan niemahls in solchen Umständen betrachtet werden, als ob er je etwas Gutes ohne Unwahrheit nicht ausrichten könte, oder durch seine Handlungen sich ein Glücke erwerben müste, das ihm unentbehrlich wäre: seine Allmacht und höchste Glückseeligkeit lassen es nicht zu, daß man von ihm gedencken solte, das bey ihm jener Fall sich ereigne, darein die Menschen aus Mangel ihrer Macht und Erkänntniß vielmahls gerathen.  
  Die Verfasser der Bibliotheque Raisonnée klagen den Herrn Saurin zwar über folgende 5 Puncte an:  
 
  • Er soll GOTT und Samuel falsch beschuldiget haben, als hätten sie sich der Unwahrheit, als eines Mittels, worzu zu gelangen, bedienet.
  • Er soll sich in dem Artickel von der Wahrhafftigkeit GOtt selbst widersprochen haben.
  • Seine Meinung von dem Ursprunge, der Wahrhafftigkeit GOttes sey verwegen und ewig.
  • Seine Abhandlung wolle beweisen, daß GOtt mit gutem Fuge selbst Unwahrheiten reden könne, und beweise es doch keines weges, wie sich denn solches auch niemahls erweisen lässet.
 
  Endlich sey sie weiter nichts, als eine Menge gehäuffter Zweifel, die einen so ungewiß lassen, als man vorher gewesen ist. Weder in GOttes Befehl, noch in Samuels Aus-  
  {Sp. 2493|S. 1262}  
  richtung desselben können sie eine Unwahrheit finden. GOtt vertrauet ihm etwas doppeltes an: das eine soll er öffentlich, daß andere heimlich verrichten; beydes thut er so, wie es ihm befohlen ist.  
  Die allerstrengsten Gesetze der Wahrhafftigkeit verbinden uns nicht, einem jeden neugierigen Menschen alles zu beichten, was uns zu einer Reise veranlasset hat. Er muß sich begnügen lassen, wenn wir ihm was davon eröffnen. Nur müssen wir sodann nicht beyfügen, daß dieses der eintzige Bewegungs-Grund zu unserer Reise sey, wenn wir deren mehr im Sinne gehabt haben. In diesem einigen Falle machten wir uns einer Lüge theilhafftig. Aber dieses letztere war dem Samuel nicht befohlen, darum fügte er es auch nicht bey.  
  Wo hat nun er oder GOtt gelogen? fragen die Verfasser der Bibliotheque Raisonnée. Hierauf aber wird geantwortet: Herr Saurin hat nirgends gesagt, daß GOtt Unwahrheiten geredet habe, oder reden könne. Von dieser Sache wird bey der zweyten Beschuldigung geredet werden. Was aber den Propheten Samuel anbetrifft, so ist es ja einerley, ob man durch Handlungen, oder durch Worte einen Theil der Wahrheiten, und dazu den hauptsächlichsten und vornehmsten verbirget und verschweiget.  
  Da die Bethlehemiten Samuel fragten, warum er zu ihnen käme, wolten sie die vornehmste Ursache seiner Ankunfft von ihm vernehmen. Wenn er vor gut befunden hätte, ihnen nach der Wahrheit zu antworten, hätte er frey heraus sagen müssen, daß er gekommen sey, den Sohn Isai zum Könige zu salben. So sagt er aber nur zur Antwort, daß er käme um ein gewisses Opffer zu verrichten, und stürtzt sie dadurch in den Irrthum, als wenn das seine Haupt-Absicht wäre, worinnen er sie durch die Vollziehung dieses Opffers nur mehr bestärckt. Hat er nun hier so gehandelt, wie jemand thun würde, der die Bethlehemiten die wahre Ursache seiner Reise lehren will. So dörffte man sich ja nur immer neben seiner Haupt-Verrichtung noch eine Neben-Beschäfftigung vornehmen, und diese nennen, wenn man um jene gefraget würde.  
  Die zweyte Beschuldigung fället weg, wenn man bemercket, daß Herr Saurin zwar ausdrücklich lehre, GOtt könne nicht Unwahrheiten sagen, wenn er sagt: c'est Dieu, qui donna l'ordre du deguisement. GOtt kan vernünftigen Geschöpffen vieles befehlen, daß er selbst nicht thut, noch thun kan. Er befahl den Hebräern, von den Egyptiern kostbare Gefässe zu entlehnen, die sie nicht wieder bekamen. Alle seine Gesetze, die von der Schwachheit der menschlichen Natur gewissermassen zeugen, schicken sich nur vor die Menschen, nicht aber vor ihn. Er fordert von uns die Ehre der Anbetung, die er nie ausüben kan. Menschen dürffen nichts mit gutem Gewissen befehlen, was sie nicht selbst mit eben so gutem Gewissen thun könnten. Aber GOttes Hoheit macht, daß er uns gar wohl Befehle ertheilen kan, die sich nach unserer Schwachheit richten, und seine Vollkommenheit nicht mit angehen.  
  Eben hieraus lässet sich auch der dritte Einwurff heben. GOtt kan seiner Natur nach nie in solche Umstände gerathen, welche einen Menschen manchmahl nöthigen, von der Wahrheit abzuweichen. Also ist ihm die Unmöglichkeit, zur Unwahrheit zu kommen, wesentlich: und weil es gar niemahls geschehen kan, daß er der Unwahrheit, wie die Men-  
  {Sp. 2494}  
  schen bey einiger Gelegenheit nöthig hätte, so ist es bey ihm nicht sowohl eine freywillige, als sittlich nothwendige Entäusserung der Unwahrheit.  
  Mit der vierdten Schwürigkeit verhält es sich eben so: er hat nirgends gesagt, geschweige zu erweisen sich vorgenommen, daß GOtt selbst Unwahrheiten reden könne; drum ist es ihm auch nicht zu verdencken, daß er das Gegentheil dessen, was er lehret, nicht erwiesen hat. Er begehret nicht GOtt wegen einer Unwahrheit zu entschuldigen, wie man ihn fälschlich beschuldiget, sondern nur den Propheten Samuel, und zu zeigen, wie dieser Befehl an ihn habe ergehen, und er demselben gehorsamen können.  
  Daß man aber seine Entscheidungen vor zweifelhafft und ungewiß im fünften Einwurffe ansieht, solches kömmt vermuthlich daher, weil er als ein Moraliste anrathet, daß man sich wegen der allzu grossen Gefahr, so dabey ist, lieber seines Rechtes, sich in gewissen Umständen durch eine allen andern unschädliche Unwahrheit zu retten, begeben solle, als sich desselben bedienen, wenn man von der Zuläßigkeit eines solchen Mittels nicht überzeuget ist. Sonst beschreibt er ja die Umstände, unter denen eine Unwahrheit manchmahl unschuldig gesagt werden kan, so deutlich, als es die Beschaffenheit dieser Materie zulässet, und ist in seinen Urtheilen, da er als ein Logicus den Unterscheid derselben angiebet, gar nicht ungewiß und zweifelhafft.  
  Nachdem wir nun der Einwürffe wider des Herrn Saurin seine Meynung von der Unwahrheit umständliche Erwehnung gethan, so müssen wir nun auch, um allen Verdacht einiger Partheylichkeit zu vermeiden, hier einen zulänglichen Auszug aus der Antwort darauf ertheilen, weil zumahl der Streit nicht eben von keiner Wichtigkeit ist. Sie ist in dem II Theile des dritten Tomi von der Bibliotheque raisonnée enthalten. Der Autor dieses Artickels setzet erstlich 2. Sätze feste:  
 
1) Die allerstrengsten Gesetze der Wahrheit verbinden uns nicht jedermann, der uns fragen möchte, alles zu sagen, was wir wissen, wenn wir nur sonst zu ihm nichts als lauter Wahrheiten sagen. Auf dergleichen Fragen schweigt man entweder gar, oder sagt dem andern nur einen Theil der Wahrheit, die man verbergen soll. Wem ich aber die gantze Wahrheit zu eröffnen nicht schuldig bin, der kan sich nicht beschweren, daß ich ihm belogen hätte, wenn ich ihm statt der gantzen Sache nur ein Stücke derselben eröffne. Herr Saurin gestehet dieses in dem 61. Abschnitte seines Catechismi, im II Theile selbst.  
  Augustinus spricht: Veritatem occultare prudenter licet sub aliqua dissimulatione, dem Grotius, Puffendorf in ihren Natur- und Völcker- Rechten, und Cumberlandus in Disquisitione Philosophica Legum Naturae in den hier beygebrachten Zeugnissen beystimmen. Die Lateiner machen schon einen Unterscheid zwischen simulo und dissimulo. Simulo, quod facere nolo, dissimulo, quod facere volo: unde simulator falsi est, dissimulator autem veri.
 
 
2) Die Bethlehemiten finden sich in den Umständen, welche der vorige Satz anzeiget. Wenn eine Unwahrheit in Samuels Verfahren liegen soll, so müste er entweder schuldig gewesen seyn, ihnen alle Theile seiner Verrichtungen, die ihm anbefohlen waren, zu sagen, ohne einen davon zu verschweigen, oder sein Opffer müste so wenig zu solchen Verrichtungen, die ihm vertrauet waren,
 
  {Sp. 2495|S. 1263}  
 
gehöret haben, daß dasselbe auf eine unvermerckte Weise solche Verrichtungen aufgehoben, und mit ihnen wircklich gestritten hätte. Im ersten Falle läge die Lüge in den Worten im andern hätte eine Unwahrheit die Handlung angestecket.
 
  Aber keine von diesen beyden Sachen, die man annehmen muß, wenn Samuel sich einer Unwahrheit theilhafftig gemacht haben soll, hat ihre Richtigkeit. Den Bethlehemiten war daran nichts gelegen, was Samuels heimliche Bothschafft enthielt. Es hätte ihnen nicht nur nichts geholffen, sondern vielleicht geschadet, wenn sie dieselbe erfahren hätte. Wäre es ausgekommen, das zu Bethlehem ein neuer König gesalbet werden solte, so hätte diese Stadt mehr Verdruß davon haben können, als sie von der Geburt des Königs der Jüden zu Herodis Zeiten erdultete.  
  Die Frage der Bethlehemiten geht nicht dahin, daß sie alles erfahren wolten, was er verrichten solte, sondern sie erschracken über seiner Ankunft, weil es ein gemeiner Wahn war, daß die Propheten immer eher Straffen als was anders ankündigten. Samuel war in diese Stadt wohl gar noch nicht, oder wenigstens lange zuvor nicht gekommen: dahero giengen ihm die Ältesten mit den Worten entgegen: Ist es Friede, daß du kommest? Samuels Antwort, daß er komme um zu opffern, benahm ihnen die Gedancken einer schlimmen Botschafft, der sie sich versehen hatten. Also sagte Samuel alles, was er schuldig war, und was die Bethlehemiten verlangten. Weil man nun nur sodann lüget, wenn man etwas verschweigt so kan Samuel in seinen Worten nicht gelogen haben.  
  Die Unwahrheit in den Handlungen ist entweder negativ oder positiv. Negativ heisset sie, wenn unsre Handlung dasjenige gar nicht, oder doch nicht gantz anzeigt, was wir thun wollen; positiv aber, wenn unser Thun gar das Gegentheil von unserem Vorhaben blicken lässet. Samuel offenbahrete sein gantzes Vorhaben nicht. Aber diese Unwissenheit bey den Einwohnern der Stadt ist noch kein Irrthum, darein sie wären gestürtzet worden. Samuels Opffern hub die geheime Absicht desselben weder gantz noch gar zum Theil auf. Der Endzweck war, GOtt zu dienen, und einen Theil des ihm gebührenden Dienstes zu entrichten. Die Bewegungs-Gründe dazu können verschieden gewesen seyn. Dieses gegenwärtige schien mehr ein Danck- als Versühn-Opffer gewesen zu seyn, 3 Mose II, 1.
  Auf diese Art von Opffern folgete meistens ein Gastmahl, dazu der, welcher es darbrachte, seine Bekannten einlud. Der gleichen freywillige Opffer that man, um von GOtt Seegen zu seinen Verrichtungen zu erhalten, wie wir von den unsrigen in gleicher Absicht zu beten pflegen. Der Prophet suchte solchen Seegen vor seine vorhabende Salbung Davids zum Könige, und jeder Einwohner vor seine Beruffs-Arbeit. Sowohl Samuel, als die Bethlehemiten meynten es mit diesem Opffer aufrichtig: Verstellung und Heucheley war von beyden Theilen gleich weit entfernet. Samuels Handlung war gar nicht einmahl einer Erklärung fähig welche seinem geheimen Vorhaben zuwider gewesen wäre.  
  Die meisten Salbungen der alten Könige folgten auf dergleichen Opffer, welche dazu als eine Vorbereitung gehöret. Eben Samuel salbte Saul zu Rama nach  
  {Sp. 2496}  
  einem 1 Sam. X, 1.
  Da die Ältesten von Israel mit David dem Bund vor dem HErrn erneuerten, und ihn vor den König erkannten, 2 Sam. V, 3.
  ist vermuthlich des Opfferns gantz nicht vergessen worden.  
  Da Absalon nach dem Regimente strebete, opfferte er zuvor, 2 Sam. XV, 11:
  Als sich Adonis des Reiches bemächtigen wolte, schlachtete er viel Opffer-Vieh bey dem Stein Soheleth, 1 Könige I, 9.
  Bey Salomons öffentlicher Weyhung wurde nach vielen Opffern auch ein Gastmahl ausgerichtet, 1. Chron. XXIX, 21. 22. 23.
  Samuels Opffer deutete also auch hier die folgende Salbung an. Hätten die Bethlehemiten weiter gefragt, was denn dieses Opffer zum Endzweck habe, so würde ihnen Samuel entweder denselben, oder doch die Ursachen eröffnet haben, warum sie solche nicht vor der Vollziehung desselben wissen dürfften.  
  Samuels Entschuldigung gegen GOtt: Wie soll ich hingehen? Saul wird es erfahren und mich erwürgen: ist durch den Befehl, daß er hingehen und opffern solle, keinesweges von GOtt gebilliget noch gut geheissen worden. Vielmehr wird derselbe von GOtt vor nichtig erkläret, da er ihn doch hinzugehen und das Anbefohlne verrichten heisset. Er giebt nicht Mittel an die Hand, wie er sich durch Verstellung gegen Sauls Zorn verwahren solte. So ist es mit  
 
  • Mosis,
2 Mose III. IV.
 
  • Jeremiä,
im I Cap. 6 Vers,
 
  • Jonä,
im I Cap. 3. und IV, 2.
  Entschuldigungen ergangen.  
  Samuel liebte den König Saul allzusehr, doch hatte er ihn unerschrocken genung angekündiget, daß ihn GOtt nicht mehr zum König haben wolle, 1 Sam XV, 26-29.
  Hier solte er aber gar ein Werckzeug werden zu seiner Absetzung. Das Mitleiden mit Saul war die Ursache seines Wiederstrebens, und die Furcht vor seinem Zorne nur ein Vorwand. Nachdem er ihm den unwiederruflichen Schluß GOttes, daß er des Königreichs beraubt werden solte, hinterbracht hatte, ließ er sich von ihm doch noch erbitten, daß er bey GOtt um Abwendung dieses Urtheils eine Vorbitte einlegte. Seit der Zeit traurete er um ihn aus Liebe, welche auch der wahre Grund seiner Ausflüchte war, die er hier machete.  
  Saul hatte sich bey der gedachten harten Botschafft, die er ihm ins Gesichte sagte, sehr gütig gegen ihn bezeigt, und nicht die geringste Strenge verspüren lassen; welche Gelindigkeit sich auch nach Samuels Tode sehen ließ, da er sich bey ihm zu Endor Raths erholen wolte. Wie hätte er denn von ihm im Ernste glauben sollen, daß er ihn aus Zorn tödten würde? GOtt beantwortet also diesen nichtigen Vorwand der Furcht gar nicht, sondern will durch den wiederhohlten Befehl, seinen Willen an David zu vollziehen, des Propheten grosse Liebe gegen den verworffenen Saul mäßigen. Also enthält Samuels Opffer gar kein heimliches Kuststück um den Saul zu hintergehen, da es ein wesentliches Stücke der Königs-Salbung war.  
  Saulus Melancholey, 1 Sam. XVI, 14
  scheint auch aus dieser Handlung hergekommen zu seyn, weil er nach einmahl erfahrenem Willen GOttes, ihn des Reichs zu berauben, sich bey dieser ungewöhnlichen Reise Samuels nach Bethlehem des schlimmsten befahrete, und also  
  {Sp. 2497|S. 1264}  
  dieses Opfer ihm das geheime Vorhaben mehr entdecket als verborgen hatte.  
  Auch war es damit gar nicht darauf angesehen, daß Saul nichts davon erfahren möchte. Sein Ausschliessung vom Reiche hatte er aus Samuels Munde schon vernommen; und um die Wahl der Person, die ihm auf dem Throne folgen solte, durffte er ja nicht eben wissen. Genung daß das Reich einem bessern, als er war, gegeben werden solte. Die Beraubung der Königlichen Würde gieng ihm alleine, die Wahl des Nachfolgers nichts an. Die meisten Salbungen wurden ja in der Stille und Einsamkeit verrichtet,
  • 1 Könige XI, 29.
  • 2 König. IX, 6
  • 1 Sam. IX, 29. X, 1.
  daß es also mehr weil es so üblich war, als in der Absicht, vor Saul verborgen zu bleiben, mit der gegenwärtigen so heimlich zugieng.  
  Der Autor dieses Stückes will noch gegen seinem Gegner folgende 2. Sätze erweisen, daß Herr Saurin GOtt selbst Lügen beygemessen, und daß er gelehret habe, vor Menschen könne eine Unwahrheit manchmahl eine erlaubte Sache seyn, bey GOtt aber könne sie niemahls entschuldiget werden. Leipzig. Gelehrte Zeit. I Beytrag …
     

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Stand: 24. August 2016 © Hans-Walter Pries