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Zedler: Schrifften, Scripta HIS-Data
5028-35-1188-4-00
Titel: Schrifften, Scripta
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 35 Sp. 1188
Jahr: 1743
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 35 S. 608
Vorheriger Artikel: Schrifft-Bilder
Folgender Artikel: Schrifften, Typi
Siehe auch:
Hinweise:
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Stichworte Text   Quellenangaben
  Schrifften, Scripta, ist ein allgemeines Wort, welches sowohl Büchern als Manuscripten pfleget beygeleget zu werden.  
  Eine Schrifft, soferne sie bloß durch die Feder geflossen, heisset ein Manuscript, wovon im XIX Bande, p. 142 u.f. sofern sie aber in Druckereyen gesetzet und abgedrucket worden, wird sie ein Buch genennet, wovon ein Artickel im IV Bande, p. 1736 u.ff. zu finden.  
  Dieses wird hoffentlich genug seyn, sich von den Schrifften, als einer ohnedem genug bekannten Sache, einen Begriff zu machen. Solchemnach reden wie hier nicht insbesondere von Manuscripten, noch auch von Büchern insbesondere, sondern von dem, was beyden zugleich zukommet, das ist, sowohl von gedruckten als ungedruckten Schrifften.  
Urteile über Schriften Es ist also eines der Hauptstücke, so hier abzuhandeln, die Art, wie man von Schrifften urtheilen soll? Wir wollen die Arten der Schrifften nach der Reihe durchgehen: Die Schrifften handeln entweder von Geschichten, oder tragen gewisse Lehren vor.  
historische Die ersten Schrifften, welche man historische (Scripta historica) zu nennen pfleget, erzehlen entweder, was in der Natur vorgegangen, oder was sich unter den Menschen zugetragen. Man kan also von einer historischen Schrifft nicht mehr erfordern, als daß alles in solcher Ordnung und mit solchen Umständen erzehlet werde, wie es geschehen. Dahero sind drey Tugenden der historischen Schrifften:  
 
1) die Wahrheit,
 
 
2) die Vollständigkeit, und
 
 
3) die Ordnung.
 
  Da man die historische Wahrheit nicht wissen kan, sondern nur glauben muß; so kan man von ihr urtheilen, wenn man dasjenige in acht nimmt, was in denen Vernunfft-Lehren von dem Glauben beygebracht wird. Die Vollständigkeit der historischen Schrifften muß aus der Absicht beurtheilet werden, die ihr Urheber gehabt. Es kan aber diese gar sehr verschieden seyn. Derowegen ist es nicht undienlich, die Absichten überhaupt vorzustellen, die man sich dabey machen kan.  
  Wer die Geschichte der Natur beschreibet, will entweder einen Begriff beybringen von leblosen und lebendigen Creaturen, die in der Welt sind, und von allerhand zum Theil seltenen Begebenheiten, die sich in der Natur ereignen, oder durch Erzehlung besonderer Würckungen und Begebenheiten der Natur zu einer genauen Erkenntniß einen sichern Grund legen. In dem ersten Falle hat er seinen Zweck erreichet, wenn er in acht nimmt, was von vollständigen Begriffen die Vernunfft-Lehrer vorschreiben; in dem andern aber muß er alle, auch die geringsten Umstände seines Experiments oder seiner Observation anführen.  
  Was die Geschichte der Menschen betrifft; so kan man sich dabey überhaupt vorsetzen, worauf wir in allen unsern Handlungen sehen sollen, auch wenn wir nur unsere Vernunfft hören, nehmlich unsere Vollkommenheit, von welcher die Ehre GOttes, und die Beförderung des gemeinen Bestens nicht weg bleiben kan, als welche beyde mit ihr unauflöslich verknüpf-  
  {Sp. 1189|S. 609}  
  fet sind, massen die Vollkommenheit in nichts anders bestehet, als in einer völligen, Zusammenstimmung aller natürlichen und freywilligen Handlungen, die dadurch erhalten wird, wenn diese von uns aus eben den Absichten determiniret werden, wodurch von GOtt die natürlichen, welche wir nicht in unserer Gewalt haben, determiniret sind.  
  Die Historie soll die Tugenden und Laster, insonderheit die Klugheit und Thorheit durch Exempel lehren. Woferne man nun diesen Zweck erreichen will; so muß sie solchergestalt geschrieben seyn, daß, wenn der Menschen ihre Thaten gegen ihren Zustand gehalten werden, man daraus die Regeln der Göttlichen Regierung erlernen kan, dadurch wir von den Vollkommenheiten des majestätischen GOttes immer je mehr und mehr überführet, und solchergestalt unser Wille zu solchen Handlungen gelencket wird, die sowohl den göttlichen Vollkommenheiten, als unserer eigenen Natur anständig sind. Auch muß man von dem Verhalten anderer die Regeln der Klugheit abmercken können, dadurch wir das gemeine Beste und unsere eigene Wohlfahrt befördern können. Und die Tugenden und Laster müssen vollständig mit ihren Ursachen, so die Menschen dazu verleitet, und dem Anlaß, den sie dazu bekommen, ingleichen mit demjenigen, was daraus erfolget, in den Exempeln abgeschildert seyn.  
  Insonderheit aber muß die Kirchen-Historie so eingerichtet werden, daß man daraus die Klugheit lernen kan, die Wohlfahrt der Kirche nach Vermögen zu befördern: welches man erhält, wenn darinnen umständlich genug vorgestellet wird, durch was vor Mittel die Kirche in gutem Flor erhalten worden, aus was vor Ursachen sie verfallen, wie man sich, dem Ubel abzuhelffen, entweder mit gutem Fortgange, oder vergebens bemühet.  
  Gleicher Gestalt müssen die weltlichen Geschichte so beschaffen seyn, daß man daraus ersehen kan, durch was vor Mittel das gemeine Wesen in gutem Flor erhalten worden, aus was vor Ursachen es wieder verfallen, wie ihm wieder aufgeholffen worden; was vor Anschläge wohl von statten gegangen, welche hingegen mißgelungen, und wie man die sich ereignenden Hindernisse glücklich aus dem Wege geräumet; was hohe Häupter vor Recht auf ihre Länder, die sie bereits besitzen, und zugleich auf andere, die noch unter anderer Bothmäßigkeit stehen, haben.  
  In der Geschichte der Gelehrten hat man sonderlich die Grade der Vollkommenheit fleißig anzumercken, zu welcher die Wissenschafften sind gebracht worden. Es muß gewiesen werden, wo man dasjenige finden könne, was bereits erfunden worden, damit wir uns nicht die Wissenschafft nützlicher Dinge berauben, wenn wir selbst nicht vermögend sind, die Sachen durch eigenes Nachsinnen heraus zu bringen, noch auch, wenn wir dieses Vermögen haben, mit dem vergebens die Zeit zu bringen, was schon von andern gethan worden, da wir es viel nützlicher auf solche Dinge wenden, die noch nicht gethan worden. Ja man muß darinnen zeigen, wie man aus demjenigen, was bereits erfunden worden, immer weiter kommen, damit dadurch die Kunst zu erfinden ihren Wachsthum bekomme.  
  Die Ordnung in den Geschichten der Menschen kan man gar leichte aus  
  {Sp. 1190}  
  den Umständen, sonderlich der Zeit, abnehmen. In den natürlichen Geschichten kan man es augenscheinlich erfahren, wenn man das Experiment nachzumachen sich gefallen lässet. Man kan es auch durch Nachsinnen inne werden, wenn man die Ursachen untersuchet, warum und wie solches geschehen.  
  Von Historischen Schrifften ist nicht nöthig noch besondere Reguln zu geben, weil sie leicht aus dem, was gesagt worden, zu nehmen sind.  
Dogmatische Wir kommen also zu denjenigen Schrifften, darinnen gewisse Lehren vorgetragen werden, welche Lehr-Schrifften oder Dogmatische Schrifften (Scripta Dogmatica) genennet werden. Wenn man von diesen urtheilen will; so siehet man entweder auf die Sachen, welche vorgetragen werden, oder auf die Art des Vortrages.  
  Der erste Fall zertheilet sich in gar viel besondere Fälle. Denn entweder es werden die Sätze aus ihren Gründen erwiesen, oder ohne Beweis nur schlechterdings hingesetzet. Über dieses wird entweder alles vorgetragen, was man von einer Sache wissen kan, oder nicht. Wenn man die Sätze erweiset; so hat man acht zu geben theils auf die Beschaffenheit der Gründe, theils auf die Art und Weise, wie der Beweis daraus geführet wird. Jene sind entweder augenscheinlich wahr, oder falsch, oder noch zweiffelhafft. Wenn sie wahr sind, zeiget entweder der Urheber des Buches ihre Wahrheit, oder er citiret einen, der es gethan, oder er unterlässet beydes. Wenn beydes unterlassen wird, so sind die Gründe entweder so beschaffen, daß ein jeder ihre Wahrheit leicht siehet, wenn er nur darauf acht hat, oder der Leser kan sich von sich selbst besinnen, wo sie von andern bewiesen werden, oder es gehet beydes nicht an.  
  Wenn man die Art des Beweises vor Augen hat; so wird entweder alles ordentlich aus einander geschlossen, oder man siehet nicht genug, wie eines aus dem andern folgen soll. Wiederum es werden entweder die folgende Sätze beständig aus den vorhergehenden geschlossen, oder es hat jeder Satz seine besondere Gründe, daraus er erwiesen wird.  
  Wenn alles vorgetragen wird, was sich von einer Sache nach den Zustande derselben Zeit, da man schreibet, vortragen lässet; so ist die Schrifft wenigstens nach den Zustande derselben Zeit vollständig (Scriptum completum.) Hiervon nun zu urtheilen, ist nöthig, daß man in den Geschichten der Gelehrten erfahren sey. Man kan aber deswegen den Urheber einer Schrifft nicht verachten, viel weniger schelten, wenn mit der Zeit seyn Werck unvollständig, weil nach diesem mehr erfunden worden: oder auch, wenn es nach dem Zustande seiner Zeiten unvollständig ist, weil er weggelassen, was zu seinem Zwecke nicht dienet. Derowegen hat man in dem ersten Falle zu wissen vonnöthen, zu welcher Zeit einer geschrieben hat, und was dazumahl erfunden gewesen; in dem andern aber muß, man sich die Absicht der Schrifft entweder aus den Titul, oder aus der Vorrede, oder aus andern Umständen bekannt machen.  
  Wenn von den bereits erfundenen Sachen mehr vorgetragen werden, als der Zweck der Schrifft erfordert; so hält sie überflüßige Dinge in sich, und ist also zu weitläufftig (Scriptum nimis prolixum).  
  Wenn man blosse Sätze hervorbringt, die aus der  
  {Sp. 1191|S. 610}  
  Erfahrung genommen; so saget man, der Urheber der Schrifft gehe auf die blosse Erfahrung. Hält er sich nun hier nicht in den gebührenden Schrancken, sondern giebet die Sätze höher aus, als sie gelten; so nimmt er ungewisses vor gewisses an. Wenn man aus einer Schrifft nicht ersehen kan, ob ihr Urheber die Sätze über die Schrancken der Erfahrung setzet, oder auch Sätze ohne Beweis beybringet, wie man ohne Beweis nicht zugeben kan, oder solche Sätze in seinen Beweisen voraus setzet, die dem Leser nicht nothwendig bekannt, wenigstens nicht geläuffig sind; so ist die Schrifft nicht accurat. Im widrigen Falle ist alles zureichend erkläret, und demnach die Schrifft accurat.  
  Wenn alle nöthige Wörter deutlich erkläret und die Sätze aus unumstößlichen Gründen richtig demonstriret werden; so ist alles gründlich abgehandelt und die Schrifft eine gründliche (Scriptum solidum.) Wenn aber entweder falsche, oder zweiffelhaffte Gründe angenommen werden, auch im Beweise man es nicht sogar genau nimmt; so ist nichts gründlich abgehandelt, und die Schrifft folglich ungründlich (Scriptum superficiorum.)  
  Wenn zwischen den Gründen und den daher geleiteten Sätzen keine nothwendige Verknüpffung erhellet, und die Verknüpffung bloß in der Verwandtschaft der Wörter gesucht wird; so hat der Urheber der Schrifft ohne Verstand allerhand zusammen geschrieben.  
  Wenn die nöthigen Wörter entweder gar nicht, oder doch nicht deutlich genug erkläret werden, noch die Verknüpffung des Satzes mit seinen Gründen deutlich erhellet; so kan man die Schrifft ohnmöglichenrs recht verstehen, und deswegen ist sie dunckel (Scriptum obscurum.) Hieraus erhellet zugleich, wie eine Schrifft beschaffen seyn müsse, wenn sie deutlich (Scriptum perspicuum) ist.  
  Insgemein machen sich die Unverständigen gantz andere Begriffe von der Dunckelheit und Deutlichkeit. Sie nennen nehmlich dunckel, was mehrers Nachdencken erfordert, als sie bisher bey den Sachen angewandt, so sie gelernet: hingegen deutlich, was nicht ein mehrers Nachdencken erfordert. Vielmehr sollten sie sagen: Es ist mir schwer, oder es ist mir leichte, weil ich dergleichen Sachen ungewohnt oder aber gewohnet bin.  
  Endlich, wenn die letztern Sätze aus den erstern beständig hergeleitet werden, wie in den Mathematischen Wissenschafften üblich; so hänget alles wohl an einander. Sonst aber hangen die Sachen nicht zusammen. Auch hier muß man ein Vorurtheil benehmen, welches Arnauld in unsern Tagen durch Veranlassung des Ramus zuerst den Leuten in den Kopf gesetzet, als wenn nehmlich die Sachen in einer schönen Ordnung vorgetragen würden, so man alles unter einem Titul in ein Capitel zusammenbringt, was zu einer Sache gehöret: Hingegen Unordnung sey, wenn man alles bloß hintereinander setzet, wie sich eines aus dem andern am füglichsten erweisen lässet.  
  Die erste ist die Schul-Ordnung und von gemeinen Gelehrten beliebt worden; die andere aber die Ordnung der Natur, welche den Mathematic-Lehrern am besten gefallen. Jene ist vor das Gedächtniß, daß man die Sachen leicht behalten kan; diese vor den Verstand, daß er recht  
  {Sp. 1192}  
  erleuchtet und überführet wird. Nach jener kan man nicht alles genau erweisen, wie es die Elements de Geometrie des Arnauld und Lamy ausweisen: nach dieser darf man in dem Beweise nichts vergeben, wie es die Schrifften der alten Geometrie-Lehrer bekräfftigen. Derowegen lässet man gemeinen Gelehrten und Anfängern die Schul-Ordnung: die aber die Wahrheit tieffer einzusehen gedencken, erwählen die Ordnung der Natur:  
  Bisher haben wir von einfachen Fällen geredet. Gleichwie aber die übrigen aus diesen zusammen gesetzet werden; so ist es auch nicht schwer, die vorhin abgefasseten Urtheile zusammen zu setzen. Derowegen wollen wir weiter nichts gedencken, als daß eine Schrifft in ihrer Art vollkommen sey, wenn sie vollständig ist, wenn alles genugsam erkläret und gründlich erwiesen wird, wenn sie deutlich ist, und alles wohl zusammen hängt: hingegen aber nichts tauge, wenn sie unvollständig ist, und die Sachen nicht genug ausgeführet werden, wenn sie ohne Verstand zusammen geschrieben und dunckel ist, ja daß Hintere mit dem Förderen nicht zusammen hänget.  
Lesen von Schriften Bisher haben wir gesehen, wie man von Schrifften urtheilen solle? wir gehen weiter und untersuchen ferner, wie man Schrifften recht mit Nutzen lesen solle? Wir lesen Schrifften, damit wir erkennen lernen, was darinnen stehet. Also wird dazu erfordert:  
 
1) daß wir den Verfasser recht verstehen, und
 
 
2) daß wir die vorgetragene Sachen wohl fassen.
 
  Da die historischen Schrifften bloß erzehlen, was geschehen ist; so brauchet es nicht viel Verstand und Nachdencken, dieselben zu lesen, sondern man darf nur auf das acht haben, was man lieset, und sein Gemüthe von fremden Gedancken befreien. Will man es wohl fassen; so muß man nicht zu geschwinde, auch nicht zu viel auf einmahl lesen. Gantz anders aber verhält es sich, wenn man von der Historie Glaubwürdigkeit, von ihrer Ordnung und Vollständigkeit urtheilen, oder auch die historische Erkenntniß zu ihrem vielfältigen Nutzen anwenden will, da brauchet es allerdings Verstand und Nachsinnen. Und je mehr sich einer im Nachdencken geübet, je besser wird er hier zu rechte kommen.  
  Wenn man andere Schrifften lieset, darinnen gewisse Lehren vorgetragen werden; so hat man sich vor allen Dingen um die Absicht der gantzen Schrifft, aller Capitel, aller Absätze, mit einem Worte, aller gemachten Theile zu bekümmern, damit man nehmlich inne werde, was der Urheber der Schrifft in jedem Theile vorzutragen gesonnen. Die Absicht der gantzen Schrifft wird theils aus den Titul, theils aus der Vorrede erkannt, darinnen gemeiniglich zu finden, was Anlaß zu schreiben gegeben, was man durch das Schreiben zu erlangen sich vorgesetzet, warum man diese und nicht eine andere Art zu schreiben erwehlet.  
  Alles aber, was in einer solchen Schrifft vorkommen kan, gehöret entweder unter die Erklärungen, oder die Erfahrungen, oder die Sätze und ihren Beweis, oder endlich unter die Anmerckungen. Damit nun dieses umso viel leichter erhelle, muß man alle Sätze aus dem Texte mit schlechten Worten herausziehen, und von dem-  
  {Sp. 1193|S. 611}  
  jenigen absondern, was entweder zur Erläuterung, oder Erklärung, oder zum Beweise angeführet worden. Wenn man aber alsdenn siehet, unter welche Classe die Sache gehöret, muß man sie nach Anleitung der Vernunfft-Lehre gehöriger Weise untersuchen, und von ihr ein vernünfftiges Urtheil fällen.  
  Und damit man alles wohl fasse; so muß man ferner die Sache bey sich überlegen, das heisset, einige mahl nacheinander überdencken. Absonderlich ist wohl in acht zu nehmen, wenn man den Verfasser einer Schrifft recht verstehen wolle, daß wir mit seinen Wörtern eben dieselben Begriffe verknüpffen, die er damit verbindet. Denn wenn dieses nicht geschiehet; so dichten wir ihm einen falschen Verstand an, und bürden ihm auf, was er nicht gesaget: welches gar offte zu geschehen pfleget.  
  Nun erkläret der Urheber einer Schrifft entweder selbst, was er vor Gedancken bey seinen Worten führet, oder er thut es nicht. In dem ersten Falle ist keine andere Mühe nöthig, als daß wir seine Erklärungen etliche mahl überlesen und überdencken, damit sie uns bald einfallen, so offte das Wort in dem Wercke vorkommt. In dem andern Falle hat man die Bedeutung zu untersuchen, welche ein Wort haben kan, und alsdenn zuzusehen, welche den bequemsten Verstand heraus bringet: denn weil niemand ohne einen Schein der Wahrheit etwas bekräfftiget, oder verneinet; so hat man Ursache zu glauben, daß der Urheber der Schrifft auf dieselbe Bedeutung gesehen, es sey denn, daß wir erweisen können, er habe bloß aus dem Gedächtnisse geschrieben, oder auch andere Bücher nur ausgeschrieben. Weil aber ein Wort vielerley Bedeutung haben kan; so pfleget öffters ein Wort in einer Schrifft nicht immer unter einer Bedeutung vorzukommen, auch wenn es sich der Verfasser einbildet. Derowegen müssen wir uns in acht nehmen, daß wir nicht bald daraus schliessen, er habe sich widersprochen, in dem wir nemlich einerley Bedeutung überall behalten.  
  Nunmehr wollen wir zeigen, wie eine mit Verstand geschriebene Schrifft zu erklären sey? Eine mit Verstand geschriebene Schrifft ist kein leerer Thon, denn sonst wäre sie zu nichts nütze. Derowegen muß mit iedem Worte ein gewisser Begriff verknüpffet werden, und, wer also dieselbe verstehen will, muß bey einem ieden Worte eben die Gedancken führen, die ihr Verfasser hat wollen damit verknüpffet wissen. Es müssen aber die Worte an sich geschickt seyn, die Gedancken in uns zu erregen, welche wir dabey haben sollen, wenn nur nicht Vorurtheile uns verblenden, oder sonst unsere Unachtsamkeit uns hindert. Solchergestalt muß ein ieder verständiger Schrifftsteller entweder selbst lehren, was wir uns vor einen Gedancken bey diesem oder jenem Worte machen sollen, oder er muß keinen andern Begriff voraus setzen, als den wir schon vorhin haben. Da wir nun aber keinen andern Begriff haben können, als der in uns erreget wird, wenn wir die Sachen gegenwärtig empfinden; so müssen wir auch keinen andern als diesen Begriff damit verbinden.  
  Es bestehet aber die Erklärung einer jeden Schrifft darinnen, daß wir  
 
1) den rechten Verstand der Worte, und
 
 
2) die
 
  {Sp. 1194}  
 
  Verknüpffung der Wahrheiten zeigen.
 
  Ein mehrers von der Erklärung oder Auslegung einer Schrifft belehret der Artickel: Hermenevtick, im XII Bande, p. 1729. u.ff. Siehe übrigens Wolffens vernünfftige Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes etc. woraus wir vorstehendes entlehnet haben.
  Gelehrte Schrifften bilden die Gedancken der Gelehrten, welche sie über diese oder jene Sache gehabt haben, deutlich ab, und erhalten bey denen Nachkommen das Andencken derselben lebendig. Plinius L. III. Ep. 7.
  Schrifften können auch dazu dienen, daß man aus selbigen ziemlichermassen der Verfasser Gemüthe erkennen kan. Ob nun wohl zu dem Ende die Schrifften nicht ausgestellet werden, und man daher solchen Gebrauch nicht vor einen Nutzen angeben kan, der den Schrifften eigenthümlich oder wesentlich; so wollen wir doch etwas davon beybringen: Man pflegt zu sagen: Weß das Hertz voll ist, deß gehet der Mund oder die Feder über, und schreibet ein iedweder nach seiner in ihm verborgenen Neigung.  
  Man hat überhaupt zu sehen, was sich einer vor Materien auslieset, und wie er dieselben ausarbeitet. Weil ein ieder diejenigen Materien ausarbeitet, daran er Gefallen hat, so kan man aus den Büchern, die einer schreibet, eines Neigung wahrnehmen. Wer nichts, als Romainen und Liebes-Bücher schreibet, der scheinet wohl mehr zur Liebe und den Wollüsten, als zur Gottesfurcht geneigt zu seyn. Doch ist dieser Schluß auch nicht richtig: Er hat verliebte, traurige, lustige Sachen geschrieben, also ist er einer verliebten, traurigen, lustigen Art, u.s.w. Denn nachdem einer zu einer gewissen Zeit in einer Gemüths-Bewegung ist, nach dem schreibet er etwas, dazu er doch sonst eben nicht geneigt ist. Dieses aber ist gewiß, daß, worinnen es einem in seinen Schrifften am besten glückt, er auch zu solchen am meisten geneigt sey. Z.E. Es hat einer verliebte, traurige, satyrische und andere Verse geschrieben, die verliebten aber sind unter allen am besten gerathen, so kan man schlüssen, daß er auch zu dieser Leidenschafft möge geneigt seyn.  
  Ferner hat man bey den Schrifften zu sehen auf die Art, wie sie einer ausarbeitet. Der in seinen Schrifften nichts erkläret, und entweder gar nichts, oder doch mit sehr schlechten Gründen seine Sätze beweiset, keine richtigen Haupt-Gründe setzt, der erweiset sich hierdurch, daß er von schlechter Fähigkeit seyn müsse, und entweder nicht besser habe nachsinnen können, oder nicht besser nachsinnen wollen. Denn manche übereilen sich aus einer Begierde viel zu schreiben, die doch ihre Sachen geschickter könten ausarbeiten, wenn sie ihre Kräffte des Verstandes recht zusammen nähmen.  
  Von denen, die ihren Nahmen nicht vor die Bücher setzen, kan man nichts gewisses urtheilen, sondern man muß, ehe man urtheilet, auf den Verfasser, die Materie, und andere Umstände mehr sehen. Einige thun es aus Sittsamkeit und Verachtung des eiteln Ruhms, den sich ein anderer hierdurch zuwege bringen will, einige aus Ehrgeitz, daß die Leute desto begieriger nach dem Urheber fragen sollen, und ihn hernach, wenn er entdecket wird, vor bescheiden halten, einige setzen ihren Nahmen nicht  
  {Sp. 1195|S. 612}  
  davor, wegen ihres hohen Standes, weil bey etlichen das Bücher-Schreiben vor disreputirlich will gehalten werden. Einige tragen Bedencken, wegen der Materien, davon sie schreiben, ihren Nahmen den Schrifften vorzusetzen.  
  Von dem, der seine Meynung öffters ändert, kan man ziemlich wahrscheinlich urtheilen, daß er bey seiner Schrifft nicht sonderlich nachgedacht gehabt, und auch in seinen andern Handlungen unbeständig seyn mag. Der in Widerlegung anderer Schrifften sehr harte und grobe Redens-Arten gebrauchet, erweiset, daß er nicht allein einer sehr hitzigen u. geschwinden Art, sondern auch unverständig sey. Von denen aber, die ihre Widersacher mit der grösten Höflichkeit und Bescheidenheit widerlegen, darf man nicht allezeit gedencken, daß sie aus einem gelassenen Gemüthe solches thun, und alle gute Meynungen vor ihre Gegner haben, weil sie aus Ehrgeitz öffters eine Gelassenheit erweisen, um bey Verständigen den Ruhm sittsamer Leute zu erlangen.  
     

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Stand: 7. April 2013 © Hans-Walter Pries