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Zedler: Willens, (Freyheit des) [4] HIS-Data
5028-57-131-6-04
Titel: Willens, (Freyheit des) [4]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 57 Sp. 154
Jahr: 1748
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 57 S. 90
Vorheriger Artikel: Willens, (Freyheit des) [3]
Folgender Artikel: Willens, (Freyheit des) [5]
Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Personen, Bibel
  • : Absatz in der Vorlage vorhanden
  • Transkribierter griechischer Text der Vorlage

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Übersicht
II Theologische Abhandlung (Forts.)
  Bet Beschreibung des freien Willens (Forts.)
 
  β) Erklärung der Definition (Forts.)
 
  B. Die Kräfte des freien Willens
 
  1. In geistlichen Sachen

  Text Quellenangaben und Anmerkungen
  B. Die Kräfte des freyen Willens.  
  1. In geistlichen Sachen.  
  In geistlichen Dingen hat der Mensch gar keine Kräffte des freyen Willens. Ein anders ist nehmlich die Freyheit selbst, ein anders die Kräffte, die GOtt zu dem rechten Gebrauche der Freyheit der menschlichen Natur anerschaffen hat. Die Freyheit selbst war eine wesentliche Eigenschafft der menschlichen Natur, und konnte also nicht verlohren werden; diese Kräffte aber waren von der Beschaffenheit, daß sie durch den Mißbrauch der Freyheit verlohren werden konnten.  
  In Ansehung des Verstandes, bestunden dieselben in einem Vermögen, GOtt und göttliche Dinge richtig zu erkennen; in Absicht auf den Willen, in einem Vermögen, der erkannten Wahrheit zu gehorchen, und das in das Hertz geschriebene Gesetz zu erfüllen; dabey doch aber der Mensch die Freyheit hatte, sich von dem Lichte abzuwenden, in Ungehorsam einzugehen, und also, durch den Mißbrauch des freyen Willens, die anerschaffenen Kräffte zu verschertzen, und in die geistliche Ohnmacht zu verfallen.  
  Daß nun dieses würcklich geschehen sey, folglich der Mensch nach dem Abfalle von GOtt keine Kräffte des freyen Willens zu geistlichen Dingen mehr übrig habe, das ist, daß er kein Vermögen mehr übrig habe, sich zu GOtt zu bekehren, an Christum zu gläuben, etwas geistlich Gutes zu verrichten, das GOtt wohlgefallen könne, beweisen wir  
 
α) Aus dem Verluste des göttlichen Ebenbildes, an dessen statt die Erbsünde, sammt der äussersten Untüchtigkeit zu allem Guten, gekommen ist. Denn da der Mensch die Gleichförmigkeit mit GOtt in den moralischen Kräfften verlohren, so hat er zugleich alle Kräffte verlohren, GOtt wahrhafftig zu erkennen, ihn zu fürchten und zu lieben, ihm zu vertrauen, und seinen Willen nach seinem Wohlgefallen zu vollbringen.
 
  {Sp. 155|S. 91}  
 
β) Aus den Stellen der Heiligen Schrifft, in welchen erwiesen wird, daß der Mensch vor seiner Bekehrung in dem äussersten Unvermögen zu geistlichen Dingen sich befinde. (Siehe hierbey D. Rambachs Collegium Anti Pontificium ...) Denn in der Heiligen Schrifft wird er
 
 
 
alef) [1] Überhaupt vorgestellet
[1] HIS-Data: alef in der Vorlage in hebräischer Schrift
 
 
 
(a) als ein Knecht des Teufels und der Sünde. Johann VIII, 34: Wer Sünde thut, der ist der Sünden Knecht, und zwar ein solcher Knecht, der unter der Herrschafft der Sünden stehet, und der seine Glieder freywillig zu dem Dienste der Ungerechtigkeit darstellet, Röm. VI, 12. 19.
 
 
 
 
  Apostelgeschicht XXVI, 18, wird der Mensch als ein unter der Gewalt des Satans stehender vorgestellet; und 2 Timoth. II, 26. wird von ihm gesagt, daß ihn der Satan, nach seinem Willen, in seinen Stricken gefangen führe.
 
 
 
 
  Wie ist es nun möglich, daß mit einer solchen Herrschafft der Sünden die Freyheit Gutes zu thun bestehen könne? Wie kan ein Sclave der Sünden und des Satans etwas zu seiner Bekehrung und Befreyung beytragen? zumahl, da er seine Bande so lieb hat, und die wahre Freyheit aus allen Kräfften fliehet und hasset.
 
 
 
 
  Wolte man sagen, der Mensch diene der Sünde und dem Satan freywillig, und also könne er doch bey dieser seiner Knechtschaft eine Freyheit haben; so wird solches zwar von der Freyheit der Natur, dadurch der Mensch von den unvernünftigen Thieren unterschieden wird, aber nicht von der Freyheit der Gnaden zugegeben, die bey der Knechtschafft der Sünde ohnmöglich bestehen kan; indem der Sünder von den bösen Lüsten und sündlichen Gewohnheiten so gefesselt ist, daß er zwar freywilligst, aber doch in diesem Stande nothwendig sündiget, weil er nicht anders kan, als sündigen und Böses thun, so lange er sich selbst überlassen ist.
 
 
 
 
(b) Als ein Todter in Sünden, und zwar nicht nur, weil er des ewigen Todes schuldig ist, sondern auch vornehmlich, weil seine Seele von GOtt, dem Ursprunge des wahren geistlichen Lebens, getrennet und abgeschieden ist. Daher heisset es Ephes. II, 1: Da ihr todt waret, durch Übertretung und Sünde.
 
 
 
 
  So wenig nun ein leiblich todter Mensch ein Vermögen hat, zu seiner Lebendigmachung etwas beyzutragen; so wenig kan auch ein geistlich Todter zu seiner Bekehrung etwas beytragen und würcken; und wie ein leiblich Todter ohne natürliches Leben, Sinn, und Bewegung ist, so ist ein geistlich Todter ohne geistliches Leben, Sinn und Bewegung. So wird der Mensch überhaupt in der Schrifft vorgestellet, erstlich als ein Sclave der Sünden, und hernach als ein Todter in Sünden.
 
 
 
bet) [1] Insonderheit: und zwar
[1] HIS-Data: bet in der Vorlage in hebräischer Schrift
 
 
 
(a) in Ansehung des Verstandes da wird der Mensch nach seinem Verstande, welcher das Auge der Seelen ist, nicht nur als blind, sondern auch als verfinstert in dem Sinne, ja als die Finsterniß selbst, beschrieben.
Ephes. IV, 18; V, 8.
 
 
 
  Wie nun ein Blinder, zumahl ein Blindgebohrner, keine Kräffte zu dem Sehen hat; so hat auch ein natürlicher Mensch keine Kräffte, die Wahrheit des Evangelii zu erkennen, und das wahre Licht zu sehen. Daher heißt es 1 Corinth. II, 14: Er kan es nicht er-
 
  {Sp. 156}  
 
 
 
  kennen. Das ist also keine Vergleichungs-weise genommene Blindheit, wie der Laodicäische Bischoff, der noch einigermassen in dem Stande der Gnaden stund, blind genennet wird, Offenbahr. III, 17; sondern es ist eine absolute und gäntzliche Blindheit, welche alle heylsame Erkänntniß gäntzlich ausschliesset.
 
 
 
 
(b) In Ansehung des Willens, wird dem Sünder nicht nur ein arges, unreines, unbeschnittenes, sondern gar ein steinernes Hertz zugeschrieben, Ezech. XXXVI, 26. das ist, ein Hertz, welches in der Sünde so verhärtet ist, daß es weder ein geistlich Gefühl, noch geistlich Leben hat, noch sich zu demselben disponiren kan
 
 
 
 
  So wenig ein Stein sich selber erweichen kan, so wenig hat auch der natürlicher Mensch ein Hertz, das sich zu Annehmung der Gnade selbst eröffnen kan, sondern das auch der Gnade mit einiger Hartnäckigkeit widerstehet. So wenig also der Mensch von Natur ein Vermögen hat, geistliche Dinge geistlich zu erkennen, so wenig hat er auch ein Vermögen, etwas geistliches Gutes zu wollen indem es Philipp. II, 13. heisset: Gott ists, der in euch würcket beyde das Wollen, und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen. Folglich muß es der Mensch von Natur nicht haben, weil es erst durch eine Gnaden-Würckung hervor gebracht werden muß. Dahin denn auch der Ausspruch Joh. XV, 5. gehöret: Ohne mich könnet ihr nichts thun.
 
 
γ) Ist es aus denselben Stellen der Schrifft zu erweisen, darinnen das Werck der Bekehrung und alle geistliche Tüchtigkeit GOtt und seiner Gnade allein zugeschrieben wird.
 
 
  Das Werck der Bekehrung wird nehmlich in der Heiligen Schrifft als eine neue Schöpffung, Wiedergeburt, und Auferweckung vorgestellet. Wie nun der Mensch zu seiner leiblichen Geburt und Auferweckung von den Todten gar nichts beytragen kan; also kan er auch zu seiner Bekehrung nichts beytragen, sondern sie wird lediglich der Würckung GOttes zugeschrieben.
 
 
  Ezech. IX, 19: Ich will euch ein einträchtig Hertz geben, und einen neuen Geist in euch geben, und will das steinerne Hertz wegnehmen aus eurem Leibe, und ein fleischern Hertz geben, das ist, ich will euch ein weiches, empfindliches und tractables Hertz geben.
 
 
  Ferner, Ezech. XXXVI, 26: Ich will euch einen neu Hertz, und einen neuen Geist in euch geben; und will das steinerne Hertz aus eurem Fleische wegnehmen, und euch ein fleischern Hertz geben. Daher betet David, Psalm LI, 12: Schaffe in mir, GOtt, durch eine neue Schöpffung, ein reines Hertz, und gieb mir einen neuen gewissen Geist.
 
 
  Man mögte einwenden, daß gleichwohl auch den Menschen vielfältig anbefohlen werde, daß sie sich bekehren sollen. Ezech. XVIII, 30. heisset es: Bekehret euch von aller eurer Übertretung. Und V. 31: Macht euch einen neu Hertz und neuen Geist.
 
 
  Allein, es ist zu wissen, daß die Bekehrung des Menschen zweyfach zu betrachten sey; Theils, als ein Geschenck GOttes, das in dem Grunde der Gnaden verheissen ist; theils, als eine Pflicht des Menschen. Daher heisset es
 
 
 
  • Jerem. XXXI, 18: Bekehre du mich, so werde ich bekehret.
  • Und Klagl. V, 21: Bringe uns, HErr, wieder zu dir, daß wir wieder heim kommen.
 
 
  Nehmlich,
 
  {Sp. 157|S. 92}  
 
  die Bekehrung GOttes gehet vorher, und die Bekehrung des Menschen folget. In der ersten Bekehrung wird der Wille von GOtt erwecket, lebendig gemacht, und in Bewegung gebracht, dabey sich der Wille leidend verhält; Darauf beweiset sich der Wille in seinem geistlichen und mitgetheilten Leben thätig, und läst sich als ein tüchtiges Werckzeug der göttlichen Gnade gebrauchen. In der ersten Bekehrung wird daher die göttliche Gnade würckend (operans, operatrix) genennet, weil sie da allein würcket; In der letzten Bekehrung wird sie mitwürckend (cooperans) genennet, weil sie da in und mit dem menschlichen Willen, der mit neuen Kräfften von GOtt versehen ist, würcket.
 
 
  Das ist der wahre Grund, die Örter der Schrifft zu vereinigen, darinnen die Bekehrung bald GOtt, bald dem Menschen, in verschiedener Absicht zugeschrieben wird. Es gehören dahin folgende Stellen:
 
 
 
  • 1 Corinth. IV, 7. da alles Gute, das in dem Menschen ist, als ein Geschencke der göttlichen Gnade angesehen wird.
  • 2 Corinth. III, 5. heisset es: Nicht, daß wir tüchtig sind von uns selber, etwas recht geistlich gutes zu dencken, als von uns selber, sondern, daß wir tüchtig sind, ist von GOtt.
  • Philipp. II, 13: GOtt ists, der in uns würcket, beyde das Wollen, und das Vollbringen.
  • Johann. VI, 44: Es kan niemand zu mir kommen, es sey denn, daß ihn ziehe der Vater. 
  • 1 Corinth. II, 3: Niemand kan JEsum einen HErrn heissen, (ihn vor seinen HErrn erkennen, oder an ihn glauben) ohne, durch den H. Geist.
  • Apost. Gesch. XVI, 14: Der HErr that der Lydia das Hertz auf, daß sie darauf Acht hatte, was von Paulo geredet war.
 
 
  Wenn also nun die allererste Öffnung des Hertzens ein Werck GOttes ist, so ist leicht zu erachten, daß der Mensch zu seiner eigenen Bekehrung sich nicht selbst disponiren, noch aus eigenen Kräfften dazu etwas beytragen könne. Die pädagogischen Mittel kan er wohl gebrauchen, er kan GOttes Wort lesen, meditiren, er kan die groben Hindernisse seiner Bekehrung removiren, z.E. sich von bösen Gesellschafften losreissen, gewisse Objecte, die ihn starck zu der Sünde verleiten, weit von sich entfernen etc. Aber sein steinernes Hertz kan er nicht erweichen, noch sich einen anderen geistlichen, göttlichen und himmlischen Sinn geben, sondern das kan und will GOtt allein verrichten.
 
 
  Es findet sich hier einiger Unterschied der Ausdrückungen, welcher sich einige Gottesgelehrten unserer Kirche bedienen; Massen etliche sagen, der Mensch befinde sich zwar in dem Anfange der Bekehrung leidentlich, aber in dem Fortgange verhalte er sich nach den verliehenen Kräfften würcksam. Es werden z.E. in des Chemnitius Loc. de lib. arbitr. c. 7. unter andern diese Worte gelesen:
 
 
  "Gott kommt uns durch sein Wort und den H. Geist zuvor, und treibet den Willen. Nachdem aber der Wille also göttlich beweget worden, so verhält sich der menschliche Wille nicht blos leidentlich; sondern, indem er von dem H. Geist bewegt und gestärcket wird, so widersetzt er sich nicht, sondern giebt Beyfall, et sit synergos Dei, und würcket mit GOtt."
 
 
  In dem Hülsemannischen Breviario ... wird unter den Kräfften, Busse zu thun, welche alle von dem H. Geiste kommen, und unter dem Ge-
 
  {Sp. 158}  
 
  brauche derer Kräffte, welche dem Menschen zugeschrieben wird, ein Unterschied gemacht. Schertzer schreibet, in System. loc. ...:
 
 
  "Der Heil. Geist zerknirschet das Hertz; Aber ein also betrübter Mensch, nicht der H. Geist selbst, erkennet die Sünde; Der Mensch, nicht der H. Geist, glaubet, obschon der H. Geist dem Menschen Kräffte, die Sünde zu erkennen und zu gläuben, mittheilet."
 
 
  Carpzov, in Isagoge in Form. Concord. räumet dem Menschen bey der Bekehrung, so man sie in engem Verstande nimmt, keine Würcksamkeit (Activitatem) ein, und sagt, GOtt würcke formal in der Bekehrung, wenn er Kräffte verleihe; In den Bewegungen handele er zwar nicht formal, aber doch würckend, (efficienter) der Mensch aber handele formal; Indem nicht GOtt, sondern der Mensch, Busse thue, gläube, wolle.
 
 
  Wenn hernach dieser Theologe die Bewegungen der Bekehrung erkläret, so theilet er sie in thätige und leidende; Die schreibet er dem Menschen, jene aber GOtt zu. Hierbey haben wir noch einige Anmerckungen zu machen:
 
 
 
α) Wenn wir behaupten, daß der Mensch keine Kräffte zu dem Geistlichen habe, so werden hier unter dem Geistlichen sonderlich dreyerley Dinge verstanden:
 
 
 
 
(a) Diejenigen Glaubens-Artickel und Geheimnisse der Religion, die nicht aus dem Lichte der Vernunfft, sondern aus dem Lichte der Offenbahrung erkannt werden müssen, die daher reine Artickel (Articuli puri) heissen, die uns allein aus der Offenbahrung GOttes bekannt werden.
 
 
 
 
(b) Diejenigen Pflichten, die zu dem innerlichen Gottesdienste gehören, als sich zu GOtt bekehren, einen Christum glauben, GOtt hertzlich lieben, fürchten, ihm vertrauen.
 
 
 
 
(c) Die Pflichten der Liebe gegen den Nächsten, wie das Gesetz dieselben nach seinem geistlichen Sinne erfordert. Denn, was die Glaubens-Artickel betrifft, so hat der Mensch kein Vermögen, dieselben, auch nachdem sie geoffenbahret sind, mit heilsamen Beyfall und Zuversicht zu erkennen, nach 1 Corinth. II, 14: Der natürliche Mensch vernimmt nichts von Geiste GOttes.
 
 
 
  Was aber die Pflichten gegen GOtt und den Nächsten betrifft, so hat er kein Vermögen, sie mit willigem Geist, und auf die rechte GOtt wohlgefällige Art, mit Fortgang zu leisten und zu beobachten. Er kan nicht aus eigenen Kräfften GOtt fürchten, lieben und vertrauen, wenn er nur will; Er kan nicht seinen Nächsten, auch seinen Feind, lieben, wie sich selbst; Er kan nicht aus eigenen Kräfften ein gottselig Leben führen, wenn er nur will; Sondern es befindet sich der natürliche Mensch zu allen diesen Pflichten in dem äußersten Unvermögen.
 
 
 
β) Von der Classe der geistlichen Dinge werden Die pädagogischen Handlungen, oder die Pflichten des äusserlichen Gottesdienstes, der äusserliche Gebrauch der Gnaden-Mittel, und andere äusserliche Ceremonien, und Übungen des Christenthums, die eine Pädagogie und Handleitung zu der Bekehrung werden können, ausgenommen; Dergleichen sind: GOttes Wort in der Kirche hören, es zu Hause lesen, geistliche Lieder singen, beten, sich bey dem äusserlichen Gottesdienste still, devot und aufmercksam aufführen etc.
 
 
 
  Diese Dinge kan zwar ein unbekehrter Mensch nicht auf die rechte und
 
  {Sp. 159|S. 93}  
 
 
  GOtt wohlgefällige Art in den Geist und in der Wahrheit verrichten; Er kan sie aber doch äusserlich beobachten. Er kan, in Ansehung des Verstandes, theils durch die Betrachtung der Natur, und rechtmäßige Schlüsse von der Ursach auf die Würckung, zu einer natürlichen Erkänntniß GOttes und seiner Eigenschafften, ohne eine besondere Erleuchtung des H. Geistes, gelangen, theils durch fleißigen und aufmercksame Lesung der H. Schrifft, durch die Anwendung seiner Verstandes-Kräffte, und andere menschliche Hülffs-Mittel der Auslegungs-Kunst, eine buchstäbliche Erkänntniß von dem Sinne, auch wohl der schweresten Örter, erlangen, und durch anderer Unterricht und Anführung noch weiter darinnen geführet werden.
 
 
 
  Er kan in Ansehung des Willens sich determiniren, die äusserlichen Handlungen des Gottesdienstes, aus blos natürlichen Kräfften, mit zu machen. Es dependiret z.E. von eines Studenten freyer Wahl, ob er an dem Sonntage in die Kirche gehen, oder zu Hause bleiben, oder auf das Dorf verreisen, und die Schencken besuchen will. Es stehet bey ihm, ob er die H. Schrifft, oder ein heydnisch Buch lesen will; Ob er des Abends nach 10 Uhr zu Hause bleiben, sein Abend-Gebet verrichten, und sich zu der Ruhe begeben, oder unter einer eiteln Musick herum schwärmen, Ständgen bringen, und ein: Hoch! brüllen will.
 
 
 
  Das alles dependiret ja von der freyen Wahl eines Studenten; Wiewohl auch hierinnen die Freyheit sehr geschwächet ist. Denn da würde mancher profane und ruchlose Student es nimmer mehr von sich erhalten können, daß er auf seiner Stube ein geistlich Abend-Lied, auch nur mit äusserlicher Devotion singen solte. Wenn man die Ruchlosigkeit bey sich überhand nehmen lässet, so kommt man auch in solchen Dingen um seine Freyheit, und wird ein Sclave der Profanität, ja sucht wohl eine Ehre darinnen, sich bey dem öffentlichen Gottesdienste durch ein freyes und ungezogenes Wesen von andern zu unterscheiden.
 
 
 
γ) Das Unvermögen des freyen Willens in geistlichen Dingen wird auch in den symbolischen Büchern unserer Kirche gelehret; Als p. 14. 217. 218. 578. 654 u.ff.
 
 
 
δ) Könnte man einwenden: Da GOtt dem Sünder zuvor kommt, und auch an dem Hertzen eines noch geistlich todten Menschen arbeitet, ihm geistliche Kräffte anbietet, und ihn aus seinem Unvermögen aufzurichten suchet; So möchte es scheinen, daß man einem solchen Menschen nicht alle Kräffte zu geistlichen Dingen absprechen könne? Allein wir antworten: Ein anders ist die Anbietung der Kräffte, welche durch die zuvorkommende Gnade geschiehet; Ein anders ist die Mittheilung der Kräffte, welche nicht eher geschiehet, als bis der Mensch durch die zuvorkommende Gnade seine natürliche Widerspenstigkeit brechen lässet, und die Zucht der Gnade zulässet.
 
 
 
  So lange also die Gnade noch nicht das herrschende Principium in der Seele geworden ist, und die Widerspenstigkeit des menschlichen Willens besieget hat, so kan von derselben noch nicht die Benennung des Menschen geschehen; Sondern es heist so lange ein natürlicher Mensch, ob gleich die Gnade an ihm arbeitet, ist die Gnade bey ihm zu der Herrschafft gelanget.
 
  {Sp. 160}  
 
 
ε) Da der Mensch zwar eine natürliche Freyheit, aber doch keine Kräffte hat, diese Freyheit in geistlichen Dingen zu gebrauchen, weil sein Verstand und Wille von dem Satan und der Sünde gefangen gehalten, und nur auf das Böse determiniret wird; So wird daher der so genannte freye Wille (Liberum arbitrium) mit Recht von Luthern und andern Theologen ein knechtischer Wille (Servum arbitrium) genennet. Denn der Mensch ist vor seiner Bekehrung
 
 
 
 
(a) ein Knecht der Sünde, Johann. VIII, 34. 2 Petri II, 19. Daher es von Achab 1 B. Kön. XXI, 19. heisset, er sey verkaufft gewesen, Böses zu thun. Ein Sclav aber, der an einen andern Herrn verkauffet wird, der verlieret eben dadurch alle seine Freyheit. Er ist
 
 
 
 
(b) ein Knecht der Welt, da er allen Anreitzungen des Bösen, die in der Welt sind, ausgesetzet ist, und zwar so, daß er sich von denselben überwinden, und durch böse Gewohnheiten und ruchlose Gesellschafften zu allem Bösen hinreissen lässet. 1 Joh. V, 5: Wer von GOtt gebohren ist, überwindet die Welt; Also muß er vorher von ihr überwunden seyn. Er ist
 
 
 
 
(c) ein Knecht des Teuffels,
2 Timoth. II, 26.
 
 
  Bey einer so vielfältigen Knechtschafft, hat also der Mensch vor der Bekehrung in geistlichen Dingen keinen freyen Willen; Aber in der Bekehrung wird sein Wille von der Knechtschafft befreyet, und nach der Bekehrung hat er einen befreyeten willen, (arbitrium liberatum).
 
     

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Stand: 24. August 2016 © Hans-Walter Pries