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Zedler: Willens, (Freyheit des) [5] HIS-Data
5028-57-131-6-05
Titel: Willens, (Freyheit des) [5]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 57 Sp. 160
Jahr: 1748
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 57 S. 93
Vorheriger Artikel: Willens, (Freyheit des) [4]
Folgender Artikel: Willens, (Freyheit des) [6]
Hinweise:
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Übersicht
II Theologische Abhandlung (Forts.)
  Bet Beschreibung des freien Willens (Forts.)
 
  β) Erklärung der Definition (Forts.)
 
  B. Die Kräfte des freien Willens (Forts.)
 
  2) In bloß natürlichen Sachen

  Text Quellenangaben
  2) In blos natürlichen Sachen.  
  In blos natürlichen Dingen sind dem Menschen nach dem Falle Kräffte übrig geblieben; welche weder gar keine, noch vollkommene, sondern mittelmäßig sind. Es fragt sich aber hierbey:  
 
α) Was heissen natürliche Dinge?
 
 
  Alle Sachen, die nicht geistlich sind, die nicht zu der eigentlichen Sphäre des Reiches der Gnaden gehören. Dergleichen sind:
 
 
 
(a) Die natürlichen;
 
  • Essen,
  • trincken,
  • reden,
  • schlaffen,
  • sich bewegen,
  • reisen,
  • dencken,
  • urtheilen,
  • eines aus dem andern schliessen,
  • studiren etc.
 
 
 
(b) Bürgerliche;
 
  • Allerley Geschäffte dieses Lebens,
  • das Hauswesen bestellen,
  • Städte regieren,
  • bürgerliche Gesetze geben,
  • gute Ordnungen machen,
  • Armeen commandiren,
  • Bündnisse schliessen,
  • heyrathen, welches von Paulo auch zu des Menschen Freyheit gerechnet wird, 1 Corinth. VII, 36. 37.
 
 
 
(c) Moralische;
 
  • Von äusserlichen groben Lastern sich enthalten,
  • ein stilles eingezogenes Leben führen,
  • sich der Erbarkeit und bürgerlichen Gerechtigkeit befleißigen,
  • den Armen Gutes thun etc.
  Dahin auch
 
 
 
(d) die pädagogischen gehören;
 
  • Den äusserlichen Gottesdienst abwarten,
  • lesen,
  • singen etc.
 
 
β) Worinnen bestehet die Freyheit und das Vermögen, das der Mensch nach dem Falle in solchen Dingen besitzet?
 
 
 
(1) In Ansehung des Verstandes ist dem Menschen noch übrig:
 
 
 
 
a) Ein natürliches Vermögen zu erkennen, zu urtheilen, und zu schliessen.
Man sehe Freylinghausens schrifftmäßige Erläuterung der Grundlegung der Theologie ...
 
 
 
  Ein jeder Mensch, der einen gesunden Verstand hat, kan die Sachen, die ihm in die äusserlichen Sinne fallen, betrachten, seine Reflexionen darüber machen, sie beurtheilen, eines aus
 
  {Sp. 161|S. 94}  
 
 
 
  dem andern schliessen, und durch eine rechtmäßige Folge aus dem andern herleiten. Was zu der Sphäre der Vernunft gehöret, kan alles durch menschlichen Fleiß und Application, ohne eine besondere Direction und Erleuchtung des Heiligen Geistes, erlernet werden; dahin die gantze Juristische, Medicinische, Physicalische, Moralische, Politische, Öconomische, Mathematische Praxis gehöret, welcher alle aus natürlichen Kräfften begriffen werden können.
 
 
 
 
  Indessen lehret doch die Erfahrung, daß es auch darinnen ein Mensch höher bringen kan, als andere. Also, wer seinen Verstand fleißig exerciret, wer sich in Meditiren übet, und, durch eine lange Übung, eine Fertigkeit in dem Nachdencken und Schlüssen erlanget, der kan freylich die Wahrheiten, die er lieset und höret, genauer penetriren, und fertiger beurtheilen, als ein anderer. Das bezeugen ja die Exempel so vieler gelehrten Leute, die sich genug legitimiret haben, daß sie den Geist GOttes nicht gehabt, welche dennoch in Astronomischen, Physicalischen, Mathematischen Dingen, die vortrefflichsten neuen Experimente gemacht, viele neue Wahrheiten erfunden, und bey dem blossen Lichte ihres Verstandes die Natur tief erforschet haben.
 
 
 
 
  So wird 1 Corinth. I, 19. auch dem natürlichen Menschen Weisheit und Verstand zugeschrieben, nehmlich in der Sphäre der natürlichen und moralischen Dinge. So wird Apostelgesch. VII, 22. die Weisheit der Ägypter gerühmet, das ist, die Wissenschafften, die damahls von ihnen excoliret wurden. So lesen wir Jacob. III, 15. von einer menschlichen Weisheit, die durch blosse menschliche Kräffte erlanget werden kan.
 
 
 
 
  Daher ausser Streit Peter Poiret in seinem Buche de eruditione zu weit gegangen ist, wenn er hat behaupten wollen, daß niemand ein Gelehrter seyn könne, der den Geist GOttes nicht habe, da aber das Wort: Gelehrsamkeit (Eruditio) in einem solchen Verstande genommen wird, daß freylich unbekehrte Gelehrte nicht werth erkannt werden können, daß sie nach diesem Begriffe die wahre Gelehrsamkeit besitzen.
 
 
 
 
  D. Lange hat in seinen Institutionibus studii theologici literariis ... das Wort Gelehrsamkeit auch also genommen. Denn wenn er daselbst de recti scopi restitutione handelt, qua omni nisu id agimus, ut imago Dei in nobis ipsis et in aliis instauretur, et hoc ipso ordine gloriae divinae amplificatio intendatur et obtineatur, so setzet er hinzu: In cujus scopi executione vera est eruditio, maxime proprie sic dicta. Siehe auch hernach daselbst § 4.
 
 
 
  Es ist dem Menschen in Ansehung des Verstandes noch übrig geblieben:
 
 
 
 
b) Einige Erkänntniß moralischer und göttlicher Dinge, soferne nehmlich dieselben aus dem Lichte der Vernunft erkannt werden, daher die gantze natürliche Erkänntniß GOttes, samt der natürlichen Theologie, entstehet. So haben ja auch die Heyden aus dem Lichte der Natur erkannt, daß ein Gott sey, und daß dieses und jenes recht, und unrecht sey, daß Ehebruch, Rebellion, Todtschlag, Diebstahl, Verleumdung, etc. Sünde sey.
 
 
 
 
  Da findet man ja bey den Heydnischen Moralisten, dem Seneca, Antoninus Philosophus, und andern, Spuren genug, daß sie aus dem Eingeben des Gewissens erkannt ha-
 
  {Sp. 162}  
 
 
 
  ben, was ein natürlicher Mensch thun und lassen müsse.
 
 
 
 
c) Einige Klugheit in bürgerlichen und häußlichen Sachen, eine Geschicklichkeit, das gemeine Wesen und die Haushaltung zu regieren und wohl einzurichten; wie man in der alten Römischen Historie viel Exempel kluger und geschickter Haus-Väter, wie auch guter Regenten, findet. Ja, die Kinder dieser Welt haben insgemein in diesen äusserlichen Geschäfften mehrere Penetration und Klugheit, als die Kinder GOttes, nach Lucä XVI, 8: Die Kinder dieser Welt sind klüger, als die Kinder des Lichts, in ihrem Geschlechte.
 
 
 
 
  Die Ursach dieser Klugheit ist diese, daß sie ihren Verstand mehr auf solche Dinge wenden, und darauf appliciren, daher sie durch öfftere Übung eine grössere Fertigkeit darinnen erlangen. Da wird man selten Exempel finden, daß ein Weltmann in solchen Dingen, daran seine irdische Wohlfahrth lieget, etwas versiehet, und solte er etwas versehen haben, so wendet er alle erlaubte und unerlaubte Mittel an die Scharte wieder auszuwetzen, und seinen Zweck dennoch zu erreichen; da hingegen Kinder GOttes sich ein Gewissen machen, andere Mittel zu gebrauchen, als die sie mit gutem Gewissen gebrauchen können: Daher sie denn öffters von Welt-Menschen vervortheilet und betrogen werden.
 
 
 
  Ob aber nun gleich der Verstand in natürlichen Dingen noch einige Kräffte und Vermögen, oder Fähigkeiten, besitzet, so sind doch dieselben sehr eingeschränckt. Denn
 
 
 
 
a) hat die natürliche Krafft zu erkennen, zu urtheilen, und zu schliessen, ihre Grentzen. Daher auch selbst in der Sphäre der natürlichen Dinge so viel Geheimnisse der Vernunft sind, das ist, solche Dinge, deren Existentz zwar unleugbar ist, deren wahre Beschaffenheit aber bis auf diese Stunde noch nicht entdecket worden. Man darff die Vernunft nur vor einen Bienen-Stock hinführen, so wird sie da Materie genug finden, ihre Unwissenheit zu bekennen.
Von den Mysteriis rationis hat Herr D. Christoph Wolle vormahls eine Dissertation geschrieben. Siehe auch Rambachs Erläuterung über seine Institutiones hermenevticas, Th. I ...; Und D. Johann George Walchens Einleitung in die Philosophie, in dem dritten Buche, von der geheimen Philosophie, oder philosophischen Geheimnissen, überhaupt und insonderheit.
 
 
 
b) Die menschliche Wissenschafft und Gelehrsamkeit ist der Gefahr vieler Irrthümer und einer grossen Ungewißheit ausgesetzet; wie solches die mancherley Meynungen der Gelehrten genugsam bezeugen, da einer z.E. von dieser physicalischen Würckung diese Ursach, ein anderer eine andere Ursach, angiebt.
 
 
 
 
c) Auch die menschliche Klugheit in irrdischen Geschäfften ist vielen Fehlern unterworffen. Ihre Regeln sind meistentheils sehr ungewiß, und leiden viele Ausnahmen, weil auch der geringste Umstand eine Sache verändern kan. Da wird öffters auch der allerklügste betrogen; da werden öffters die erfahrensten Haushalter durch einen geringen Profit geblendet, sich einen grössern Schaden zuzuziehen etc. Da begehen offt die gescheutesten Staats-Männer solche grosse Staats-Fehler, darüber alle Welt raisonniret.
 
 
 
2) In Ansehung des Willens hat der Wille einige Freyheit:
 
 
 
 
a) In bürgerlichen Dingen, oder
 
  {Sp. 163|S. 95}  
 
 
 
  in zeitlichen und irrdischen Geschäfften, da hat der Mensch eine Freyheit, ob er diese, oder eine andere Profeßion lernen, ob er heute verreisen, oder zu Hause bleiben, ob er ledig bleiben, oder sich verheyrathen, ob er ein öffentlich Amt annehmen, oder ausser Diensten leben wolle, etc.
 
 
 
 
b) In den pädagogischen, oder in solchen Handlungen, die ihm eine Handleitung zu seiner Bekehrung werden können. Da hat einer seinen freyen Willen, ob er in dieser Stunde ein heydnisch Buch, oder Roman, oder die Bibel lesen, in die Kirche gehen, oder aus der Kirche bleiben will.
 
 
 
 
c) In moralischen Handlungen, da hat der Mensch noch einiges Vermögen übrig:
 
 
 
 
 
α) Zu der Führung eines äusserlich erbarn Wandels; dergleichen auch viele Heyden, theils aus dem natürlichen Antrieb ihres Gewissens, theils aus Hochmuth, und andern Absichten, geführet haben, dergleichen auch Paulus vor seiner Bekehrung geführet, welcher Philipp. III, 6. bezeuget, daß er nach dem Gesetz (was die äusserlichen Handlungen betrifft) unsträflich gewesen sey.
 
 
 
 
 
  Der Mensch kan also theils durch eine gute Erziehung, theils durch fleißige Aufmercksamkeit auf sich selbst und auf andere honette Menschen, es dahin bringen, daß er einige allgemeine Pflichten gegen GOtt, den Nächsten, und sich selbst, beobachtet, daß er still, eingezogen, und ordentlich lebet, niemand beleidiget, einem jeden das Seine giebt, und sich als ein guter Bürger in der Republick beweiset.
 
 
 
 
 
β) Zu einiger Bezähmung der Affecten, daß sie nicht in grobe Laster ausbrechen.
 
 
 
 
 
  Ein Wollüstiger kan seine Neigung zu dem Essen und Trincken so mäßigen, daß er sich nicht toll und voll sauffe. Ein Geitziger kan seinen Appetit nach anderer Leute Gütern so einschräncken, daß er ihnen nicht in das Haus breche, und sie bestehle. Denn wenn er an das bündige Argument, das von dem Stricke hergenommen wird, gedencket, so kan ihm schon der Appetit vergehen.
 
 
 
 
 
  Wenn der Mensch dergestalt unter der Knechtschafft der Sünde stunde, daß er sich auch nicht einmahl von groben äusserlichen Lastern enthalten könnte, so würden alle bürgerlichen Gesetze, alle Berathschlagungen und Ermunterungen, vergeblich seyn. Es würde auch absurd seyn, den Frommen Belohnungen, den Bösen Straffen, zu zuerkennen.
 
 
 
 
 
  Aus diesem Vermögen der natürlichen Kräffte, ein erbares Leben zu führen, entstehet der Stand der Menschlichkeit und natürlichen Erbarkeit, der zwar auch vor der Welt eine bessere Gestalt hat, als der Stand der Brutalität, in welchen manche Menschen, durch den unterlassenen Gebrauch der natürlichen Kräffte, verfallen. Allein, ob gleich der Stand der Erbarkeit ein besseres Ansehen hat, so hat er doch keine wahren und GOtt wohlgefälligen Tugenden aufzuweisen. Es fehlet demselben:
 
 
 
 
 
 
a) Das genuine Principium, welche die Gnade GOttes mit dem Glauben, der durch die Liebe thätig, ist.
 
 
 
 
 
 
  Denn, daß ein unwiedergebohrner Mensch etwas Gutes thut, und etwas Böses unterlässet, das kommt nicht aus Liebe zu GOtt her, dessen Willen er sich gemäß bezeigen wolle; sondern bald aus Furcht der Straffe, bald aus Begierde des Ruhms, bald aus Hoffnung des Nutzens, etc. Mit einem Worte, aus Eigenliebe.
 
 
 
 
 
 
b) Die genuine Form und Beschaffenheit, indem
 
  {Sp. 164}  
 
 
 
 
 
  die Tugenden eines Welt-Menschen nicht mit der geistlichen Art des Gesetzes überein kommen, noch in dem Nahmen JEsu Christi, mit wahrer Verleugnung seiner eigenen Lust, Ehre und Nutzens, geschehen.
 
 
 
 
 
 
c) Der genuine Endzweck, welcher die Ehre GOttes seyn soll, indem solche Menschen ihre Tugenden darum ausüben, damit sie entweder in der Welt einen grossen Nahmen erlangen, oder allerley irrdische Vortheile dadurch erreichen. Sie sind freygebig, damit man sie lobe und rühme; sie sind human, dienstfertig, sanftmüthig, damit sie sich bey andern insinuiren, und von ihrer Freundschafft hernach profitiren können.
 
 
 
 
  So elend siehet es mit den Tugenden aus, die in dem Stande der Erbarkeit ausgeübet werden.
Man conferire hiervon den Tractat: Falschheit der menschlichen Tugenden, welchen Flechier, ein Frantzösischer Bischoff zu Nimes, unter dem Nahmen Esprit, geschrieben und ediret hat.
 
 
 
  Ob wir gleich übrigens dem Menschen, in Führung eines moralisirten Lebens, und Vermeidung grober Laster, einige Kräffte des freyen Willens zugegeben haben, so ist doch auch diese Freyheit und dieses Vermögen sehr geringe, und wird öffters sehr beschnitten:
 
 
 
 
 
α) Durch die Gewohnheit zu sündigen, die den Menschen zu einem elenden Sclaven machet.
 
 
 
 
 
  Denn da hat sich mancher dergestalt an das Fluchen, Lügen, Sauffen, Stehlen, etc. gewöhnet, daß er selbst bekennet, er könne es nicht lassen. Jerem. XIII, 23. heisset es deswegen: Wie könnet ihr Gutes thun, weil ihr des Bösen gewohnt seyd?
 
 
 
 
 
β) Durch die Hefftigkeit der Affecten.
 
 
 
 
 
  Wenn man einen bösen Affect zu starck werden lässet, und ihn nicht bey Zeiten, durch vernünftige Vorstellungen, dämpffet, so wird er endlich wild und unbändig, und beraubet den Menschen seiner Freyheit. Da thut mancher in dem Zorn und Rachgier etwas, das er sonst nimmermehr gethan haben würde. Da thut offt mancher weltkluger Mensch in der Hefftigkeit der Affecten, z.E. einer hefftigen unkeuschen Liebe, etwas, davon er selbst vorher sehen kan, daß es den unfehlbaren Ruin seiner Gesundheit und seines zeitlichen Glücks nach sich ziehen wird, und läßt sich weder durch Schande, noch durch Furcht der bürgerlichen und göttlichen Straffen, davon abhalten.
 
 
 
 
 
γ) Durch anderer Verführung, da mancher in einer Gesellschafft, damit er nicht als ein singulairer Kopf tractiret, und ausgelachet werde, etwas mitmachet, das selbst die gesunde Vernunft und sein Gewissen verdammet, und vor unrecht erkläret, und läßt sich von andern zu den schändlichsten Dingen verleiten. Daher diejenigen, die keine Krafft von oben herab haben, den Reitzungen zu der Sünde zu widerstehen, am allervernünftigsten handeln, wenn sie böse Gesellschafften, und Gelegenheiten zu sündigen, fliehen.
 
 
 
  So schlecht siehet es also um die natürlichen Kräffte des freyen Willens, auch in moralischen Dingen, aus.
 
     

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Stand: 23. August 2016 © Hans-Walter Pries