|
Text |
Quellenangaben und Anmerkungen |
|
Unschuldige. |
|
|
Eine Creatur, die zwar
unvollkommen und
unrecht
thut, es ist aber doch der
Grund davon nicht
in ihr selbst zu finden, heißet unschuldig.
Dergleichen können sich finden, wenn Gottlose und
Fromme bey einander sind, daß diese von jenen
durch Zwang oder auf andere Weise etwas zu thun,
gedrungen werden, daß sonst wohl keines weges
geschehen würde. |
Zimmermanns Natürliche
Erkenntniß GOttes … |
|
{Sp. 1975|S. 1003}
[1] |
[1] |
HIS-Data: Spaltenzahl korrigiert aus: 1875 |
|
|
In der
Heiligen Schrifft werden etliche
Menschen unschuldig
genannt, |
- Hiob. XXXIII, 9.
- Ps.
XVIII, 21. 22. 25.
- Ps. XXVI, 1. 6. 11.
- Buch der
Weisheit IV, 12. 2
- Macc. VIII, 4.
|
|
jedoch nicht absolute oder bloß dahin, denn
also ist niemand für
GOtt unschuldig, |
2 B. Mos. XXXIV, 7, |
|
welches Spruches weitere
Erklärung unten
vorkommen soll; sondern |
|
|
1) |
comparate, gegen andere
zu rechnen, die grosse Missethaten und
Schulden
auf sich haben; |
|
|
|
2) |
ratione partium, non
graduum, in einem oder andern Stücke, deren sie
von unsern Widrigen unbilliger Weise beschuldiget[1]
worden, nicht aber in allen und jeden Graden und
Staffeln; |
|
[1] |
HIS-Data: korrigiert aus: beschulget |
|
|
3) |
ratione causae et facti, in
oder wegen einer oder andern
Sache, oder Falle,
nicht aber ratione personae, wegen ihrer
Person. |
|
Dieteric. in Nah. … |
|
Was nun den vorhin angezogenen Spruch 2 B.
Mos. XXXIV, 7. Vor welchem (GOtt) niemand
unschuldig ist, anlanget, ist selbiger von dem
Chaldäischen Dolmetscher, obgleich nicht den
Worten, doch dem
Verstande nach, gar wohl
übersetzet: Er macht den nicht
gerecht, der sich
nicht zu ihm bekehret. |
|
|
Nach dem
Hebräischen heisset es: Absolvendo
non absolvet, er läßt nicht loß; wen denn? Das
stehet zwar nicht dabey, aber es weiset der
Context, daß
verstanden werde ein solcher, der in
seiner Unbußfertigkeit verharret, und sich nicht will
bekehren. Denn obgleich der HErr seine Gnade bis
in das tausende Glied erweiset, so sollen wir doch
nicht in Unbußfertigkeit
leben, sondern
wissen, daß
auf solche Weise uns die
Sünden nicht vergeben,
sondern behalten werden. Das hat er nicht allein in
das
Gesetz mit lassen hineinrücken. |
2 B. Mos. XX, 5. |
|
sondern es hat es auch neben andern
Propheten Jeremias wiederhohlet; du vergiltest die
Missethat der Väter in den Busen ihrer
Kinder, |
- Jer. XXXII, 18.
-
Carpz.
Harm. Ev. Bibl. …
|
|
Es haben also die Worte, wenn Daniel VI, 22
spricht: Denn vor ihm (GOtt) bin ich unschuldig
erfunden, einen gantz andern Verstand. Hier führet
Daniel eine
Ursache an, welche GOtt bewogen, ihn
unter den grausamen Löwen zu behüten. Er
redet
nicht de innocentia personae, von der Unschuld
seiner Person, sondern de innocentia causae von
der Gerechtigkeit seiner Sache denn für seine
Person wuste er wohl, daß er für GOtt nicht
unschuldig und ohne Sünde wäre, sondern er
bekannte vielmehr in tiefster Demuth: HErr, wir
haben gesündiget, etc. |
Dan. X, 5. 8. |
|
Was aber seine Sache anbetraff, darum er
angeklaget, und von
Könige verurtheilet worden, so
war er wegen derselben freylich vor den Augen des
allwissenden GOttes unschuldig. |
Carpz. Frage Pred.
… |
|
Was
wollen aber diese Worte
sagen: Noch
sprichst du: Ich bin unschuldig. Er (der Herr)
wende seinen Zorn von mir, |
Jer. II, 35. |
|
Dieses wird von dem grossen GOtt angeführet
als diejenige Ausfluchts-Formel, dadurch sie sich
allem
Gericht zu entziehen suchen, und damit sie
offenbahren, daß sie weder sich selbst, noch von
andern wollen richten und beurtheilen lassen. Denn
ins Gericht gehören keine andere als
Schuldige; |
Sprüchw. XVII, 15. |
|
solcher Unschuld
rühmte sich nun dieses
Volck, durch das |
|
|
{Sp. 1976} |
|
|
Wort nakkethi, dessen Stamm-Wort so viel
bedeutet, als von Schuld und
Straffe frey seyn. Wie
man es denn findet 4 B. Mos. V, 31. und hat solches
sein Absehen auf die Sünde. |
|
|
An derselben finden sich sonderlich diese
Dinge: Culpa, die
Schuld, Macula, die Befleckung
und Verunreinigung, und Reatus, Straffwürdigkeit
oder
Verbindung zur
Straffe. Culpa, die Schuld ist
die eigentliche Beleidigung GOttes durch die Sünde;
daher folgt hernach macula, eine Befleckung, der
Mensch verunreiniget sich damit, daß er deshalben
ein Greuel und Abscheu wird, um deswillen die
Sünden den Wunden, Kranckheiten, Eyterbeulen,
Unflath und dergleichen verglichen werden. Endlich
ist reatus, die Verbindung zur Straffe, die da auf die
Sünde folgen muß, welche theils ihrer
Natur halber,
als eine Abweichung von GOtt, dem höchsten
Gute,
theils auch wegen der Drohung des Göttlichen
Gesetzes muß
nothwendig gestrafft werden. |
|
|
Wo man aber von diesen Dingen insgemein
befreyet ist, so heist es, man sey unschuldig: und
einer solchen Unschuld rühmte sich hier das
Jüdische Volck. Dergleichen
Ruhm ist nun nicht
unrecht, wenn er Grund hat, und mit Bestand der
Wahrheit geschiehet. Die
Exempel der Heiligen
bezeugen dieses: |
|
|
- 1 B. Mos. XL, 15.
- 4 B. Mos. XVI, 15.
- Ps. XXVI,
16.
- Ps. LXXIII, 13.
|
|
|
Allein bey diesem Ruhm ist zu mercken, daß er
wohl für Menschen, aber nicht für GOtt geschehen
kan, denn für dem ist niemand unschuldig, |
Nah. I, 3. |
|
oder so man auch für GOtt sich der Unschuld
rühmet, so ist das nicht auf eine durchgehende
Unschuld unserer Person zu ziehen; denn da sind
wir alle Sünder etc. |
Rom. III, 23. |
|
sondern in dieser und jener Sache kan man
unschuldig seyn, die uns nehmlich unser Nächster
zur Ungebühr zeichet; oder aber wir können das
Zeugniß unsers
Gewissens der Unschuld haben
comparative, Vergleichungs-Weise, wenn wir
unser
Thun gegen anderer ihres, nehmlich der
offenbahren Gottlosen halten, gegen welche wir in
so ferne unschuldig seyn können, daß wir uns
etwan nicht mit so groben Sünden und
Lastern
beflecken, als sie; durchgehends aber in allen ist
niemand unschuldig. |
|
|
Und in diesem Absehen scheinet nun auch
wohl hier das Jüdische Volck sich der Unschuld zu
rühmen, wenn es sagt: Ich bin unschuldig; denn
sich nicht wohl einzubilden, daß es so blind seyn,
und sich durchgehends für unschuldig halten
wollen; Gottes Gesetz zeigte ihnen ja ein
anders. |
|
|
Allein was die groben Sünden anlanget,
welcher halben sie durch die Propheten gestrafft,
und die von selben vor Ursachen der grossen
Trübsalen, die sie traffen, angegeben wurden, die
wolten sie nicht gestehen, sondern gaben sich für
unschuldig aus. Ins besondere läßt sichs gar wohl
hören, was einige Ausleger, als Brentius,
Schmidius, gedencken von der Vergiessung des
Blutes der Armen und Unschuldigen, dessen in
vorhergehenden Verse gedacht wird. |
|
|
Das erklären sie von dem vergossenen Blut der
Kinder, die sie nach
heydnischen Greuel den
Götzen opfferten, welches als eine grosse Sünde
ihnen fürgehalten wurde; das, sagen die Ausleger,
haben sie nicht für Sünde und Ursache der
Göttlichen Straffe hier
erkennen, sondern sich für
unschuldig, oder |
|
|
{Sp. 1977|S. 1004} |
|
|
ohne Sünde in diesem Stücke ausgeben
wollen, in
Meynung, sie haben durch solch
Blutvergiessen ihrer unschuldigen Kinder GOtt so
gar nicht beleidiget, daß sie ihn auch damit noch
geehret, einen Dienst gethan, und daher eine
Gnadenreiche Belohnung verdienet. Welches alles
aber eine
falsche Meynung war, darum auch der
Ruhm ihrer Unschuld nicht geziemend, sondern
höchst straffbar. |
Haussens Creutz und Trost-
Pred. …¶ |
|
Endlich sind die Worte der keuschen Susanna
hier noch in Betrachtung zu ziehen: Doch will ich
lieber unschuldig in der Menschen Hände
kommen, denn wider den Herrn sündigen, |
Hist. Susannä vers.
23. |
|
Hier
fraget sichs: Ob man eher
sterben, als
wissentlich in eine Sünde einwilligen
solle? Dieses
hat nicht die Meynung, ob man sich selbst das
Leben nehmen, und damit eine Sünde verhüten
solle? Das ist und bleibet ewig verboten; sondern
die Frage gehet dahin; ob man entweder von
gewaltthätigen Leuten, oder auch von der Natur,
lieber den
Tod erwarten, als wissentlich eine Sünde
begehen solle? |
|
|
Theils Papisten nehmen kein Bedencken, es
mit Nein zu beantworten. Doch der Jesuit Tirinus ist
gescheider, welcher die Susanna lobet, daß sie
nicht nur ihre
Seele, sondern auch ihren Leib
Leib
unbeflecket behalten wollen. Wir sagen, daß man
eher sterben, als wissentlich in eine Sünde
einwilligen und sie begehen soll. So thät Susanna
recht und Gottgefällig, daß sie lieber unschuldig in
der Menschen Hände fallen, das ist, eines
schmählichen Todes sterben, als wider den Herrn
sündigen wolte. Denn die Sünde ist das
Unrecht, |
1 Joh. III, 4, |
|
wer aber unrecht thut, der ist vom Teuffel und
ein Kind des Teuffels, |
vers. 8, 10, |
|
die
Untugend scheidet uns und unsern GOtt
von einander, |
Esa. LIX, 2. |
|
Wer nun die Untugend begehet, der fällt aus
der
Gnade GOttes, und ist im
Stande der
Verdamniß. Solte man nun, dieses zu vermeiden,
nicht lieber das Leben aufopffern? In der
gantzen
Bibel hat GOtt nirgend eine Limitation noch
Ausnahme gemacht, da man sündigen könne,
sondern schlechterdings alle Sünden verboten, sein
Gebot aber soll uns mehr gelten, als unser
eigen
Leben, denn wir sollen ihn
fürchten und
lieben über
alle Dinge. |
|
|
Das dürffte wohl manchen wunderlich
vorkommen, und
meinen, das hieß die Sayten allzu
hoch gespannet; man wird vielleicht sprechen: Das
Leben ist einem ja lieb, und was soll ein Mensch
nicht thun, sein Leben zu erhalten? Es ist war; allein
Gottes Wort und
Wille soll ihm noch lieber seyn, und
solche nicht vorsetzlich zu beleidigen, soll er gerne
hundert Leben hinfahren lassen. So jemand zu
JEsu kommt, und hasset nicht sein eigen Leben,
der kan nicht sein Jünger seyn, |
Luc. XIV, 26, |
|
wie man durchaus nichts
übels thun soll, daß
Gutes daraus komme, |
Röm. III, 8, |
|
so soll man auch in nichts böses willigen, daß
was gutes bleibe. |
|
|
Das Leben zu erhalten, soll man alle, auch die
äussersten Mittel, welche nicht sündlich sind,
anwenden; wo man aber
unmöglich weiter
widerstehen kan, soll man auch den Tod willig
leiden. |
|
|
Allein, wenn Zwang und
Gewalt da ist, so wird
ja dieses zu einer Entschuldigung im Gewissen
dienen? Hierauf ist jetzo bereits ge- |
|
|
{Sp. 1978} |
|
|
antwortet; wider GOtt in etwas einzuwilligen,
darzu soll uns keine menschliche
Macht zwingen.
Hat man sich derselben aus den äussersten
Kräfften wiedersetzet, und man wird dennoch
überwältiget, es ist aber unsere Einwilligung auf
keine Weise darbey, so wird uns auch die Sünde
von GOtt nicht zugerechnet. |
|
|
Aber ob man nun gleich gezwungener Weise
eine Sünde thäte, man kan ja wieder Busse thun?
Hierauf ist zu antworten: Auf künfftige Busse
sündigen wollen, ist eine mehr, als zwiefache
Sünde. Denn man frevelt wissentlich mit GOttes
Gnade, und setzet die Seele muthwillig in Gefahr,
ewig verlohren zu gehen. Wer kan dir sagen, daß
GOtt nicht mitten in solcher Sünde dich plötzlich
hinreissen, und vor Gerichte ziehen wird? Wer will
dich versichern, daß du nach vollbrachter Sünde
nicht in Verstockung oder in Verzweiffelung
gerathen magst? Wer hierinnen leichtsinnig ist, der
ist warlich kein Christ, denn es fehlet ihm an der
ersten Frucht des Glaubens, da er GOtt nicht über
alle Dinge fürchtet und liebet. Mithin lieget er unter
dem Fluch des Gesetzes, welcher sich bis in die
Hölle erstrecket. |
|
|
Man hat aber Exempel genung derer, die sich
kein Gewissen darüber gemachet haben? Man muß
sich nicht nach Menschen, sondern nach dem
richten, was GOttes Wort saget. Wiewohl es fehlet
auch an Exempeln nicht solcher Seelen, denen
Marter und Todt lieber gewesen, als das Zeitliche
Leben, |
- 2. Macc. VI, 18. Cap.
VII, 1.
- Neumeister H. Wochen-Arb.
…
|
|
|
|