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Zedler: Wahrscheinlichkeit [2] HIS-Data
5028-52-1020-7-02
Titel: Wahrscheinlichkeit [2]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 52 Sp. 1034
Jahr: 1747
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 52 S. 530
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  Text  
  III. Eintheilung der Wahrscheinlichkeit.  
  Rüdiger hat in dem sensu veri et falsi L. III. diese Lehre am allerweitläufftigsten untersuchet, welcher fünf Gattungen der Wahrscheinlichkeit setzet, als die Historische, Hermenevtische, Physi-  
  {Sp. 1035|S. 531}  
  sche, Politische und Practische, (Historicam, Hermenevticam, Physicam, Politicam et Practicam) die Herr Müller in der Logick … welcher Rüdigern folget, also zusammen hänget, und von einer jeden den Grund anzeiget. Er sagt:  
  „Mit demonstrativer Gewißheit erkennen wir das, was in die Sinne fällt, und was aus diesem durch untriegliche Folge zu schliessen ist; nehmlich nur einige Effecte, dergleichen die Quantitäten, und die abstracta metaphysica, oder Existentzen der Dinge sind. Vieles hingegen fällt auch 1) seiner Existentz nach nicht einmahl in die Sinne, und zwar weder unmittelbar noch mittelbar durch gewisse Folgerung: Am allerwenigsten aber 2) die abstracta disciplinalia, d.i. die Grund- Ursachen, und also das Wesen der Dinge, die da existiren. Dieses beydes ist demnach dasjenige ungewisse, das GOTT und Natur unserer Geschicklichkeit zu vermuthen überlassen.  
  Was nun erstlich die Existentz derjenigen Dinge anlanget, die aus den untrieglichen Empfindungen der Sinne weder unmittelbar, noch mittelbar durch gewisse Folgerungen erhellen, und also nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit nur aus der Übereinstimmung der Umstände zu vermuthen sind, so machen diese die erste Art der Wahrscheinlichkeit, nehmlich die Historische, aus.  
  Wenn wir hingegen das Wesen der Dinge nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit untersuchen, so sind solche Dinge entweder Worte, oder Sachen. Das Wesen der Worte eines Redenden bestehet in dem eigentlichen Verstande derselben. Weil dieser nicht allezeit nur einer ist; sondern eine Rede, oder ein Spruch eines andern, zum öfftern zwey oder mehrere mögliche Deutungen haben kan unter denen sonder Zweiffel die wahrscheinlichste aus dem Grunde ihrer Übereinstimmung mit allen bey einer Rede zu beobachtenden Umständen zu erlesen ist, so entstehet dabey die andere Art der Wahrscheinlichkeit, nehmlich die Hermenevtische.  
  Sind es aber würckliche Sachen, deren Wesen wir untersuchen; so können solche in natürliche, und moralische eingetheilet, und beyde wiederum theils nach den gegenwärtigen und bereits existirenden theils nach den zukünfftigen betrachtet werden. Die Wahrscheinlichkeit, durch welche wir das Wesen natürlicher bereits existirender Dinge erforschen, ist die dritte Art derselben, nehmlich die Physicalische: und die Wahrscheinlichkeit hingegen, mit welcher wir das Wesen moralischer bereits existirender Dinge untersuchen, ist die vierte Art derselben, nehmlich die Politische Art der Wahrscheinlichkeit.  
  Die fünfte und letzte Art ist endlich die Practische, durch welche wir das Zukünftige, das in Physicalischen Dingen sowohl als in Moralischen zu vermuthen ist, zum Behuf unsers Verfahrens, vorher zu sehen bemühet sind.„  
  Wir wollen jede Art insbesondere durchgehen, und bey einer jeden das nöthigste erwegen.  
  {Sp. 1036}  
I. Von der Historischen Wahrscheinlichkeit.  
  Wir haben eben nicht nöthig, vorher die Frage: Ob in der Historie eine Gewißheit; oder nur eine Wahrscheinlichkeit statt habe? zu untersuchen. Denn wenn wir auch einigen einräumen wollen, man habe bisweilen eine Gewißheit, so würde doch der meiste Theil von den Geschichten nur wahrscheinlich können erkannt werden. Wir haben auch sonst in Historischen Sachen nur eine Wahrscheinlichkeit zugelassen; es scheinet uns aber der gantze Streit auf eine Logick anzukommen, wie man nehmlich in dieser Sache die Demonstration oder Gewißheit, und die Wahrscheinlichkeit nimmt.  
  Soviel muß uns ein jeder zugestehen, daß kein Mensch ist, der von allen dergleichen Begebenheiten, von denen er, zu vernünfftiger Einrichtung seines Verfahrens, benachrichtiget zu seyn vonnöthen hat, durch die autopsian, oder eigene Empfindung, sich genüglich unterrichten könnte: sondern wie das, was wir selbst sehen, daß allerwenigste unter allen Begebenheiten, deren Wissenschafft wir vonnöthen haben, ist; Also leben wir in diesem Stücke meist auf Treu und Glauben anderer Leute, mit deren Erzehlungen wir uns behelffen müssen.  
  Hieraus erhellet bald Anfangs die Nothwendigkeit und der Zweck der historischen Wahrscheinlichkeit. Wir brauchen die historische Wahrheit zu gar vielen Sachen, daß sie entweder zu der wahren Erkänntniß einer andern Sache; oder zur vernünfftigen Einrichtung eines Verfahrens dienen muß. Nun kommet es ja nicht darauf an, daß man etwas höret, und in einem Buche lieset: denn wenn man allen Leuten blindlings trauen wolte, so würde man gar vielmahls betrogen werden; durch solchen Betrug aber sich nur in Schaden bringen. Soll man aber eines andern Erzehlung nach der Wahrheit untersuchen, so muß man diese Lehre verstehen, und wie offt geschichts nicht, daß verschiedene, es sey mündlich oder schrifftlich, uns was erzehlen, und sich widersprechen, wobey ja eine Untersuchung der Wahrheit nöthig ist.  
  Dieses voraus gesetzet, so beschreiben wir die Historische Wahrscheinlichkeit also, daß sie diejenige Art der Wahrscheinlichkeit sey, durch welche man, aus der Übereinstimmung gewisser historischer Umstände, daß eine erzehlte Begebenheit würcklich geschehen, oder erdichtet sey, vermuthet, das ist, dergestalt erkennet, daß dabey noch eine gegenseitige Möglichkeit statt findet. Insbesondere müssen wir dabey auf drey Umstände sehen:  
 
1) Auf die Sache, die hier als wahrscheinlich zu erkennen, welches eine Begebenheit, die uns erzehlet wird, und die wir also nicht selber mit angesehen; sondern auf anderer Leute Erzehlung beruhet. Doch kan eine Erzehlung auf zweyerley Art untersuchet werden.
 
 
Denn entweder kommet die Existentz einer Geschichte in Untersuchung, ob sich die Sache würcklich einmahl habe zugetragen.
 
  {Sp. 1037|S. 532}  
 
In welchem Falle die Möglichkeiten, oder Hypotheses, die durch ihre gute, oder schlechte Übereinstimmung mit den Umständen, vor wahrscheinlich zu halten sind, oder nicht, darinnen bestehen, daß die erzehlte Geschichte entweder würcklich geschehen seyn kan, oder nicht. Oder das Wesen derselben, ob sie würcklich in den Umständen, wie man vorgiebt, oder nur zum Theil geschehen. Denn bisweilen ist an der Sache nichts, zuweilen hat die Begebenheit an sich ihre Existentz, gehabt, daß sie würcklich sich zugetragen; sie wird aber mit vielen ungegründeten Umständen erzehlet, Ferner, wenn sie nicht geschehen ist, so haben sie diejenigen, die sie erzehlen, entweder erdichtet, oder auf das, was sie haben gesehen und gehöret haben wollen, nicht recht Achtung gegeben, und sich also geirret; Oder sich vielleicht von andern, durch falsche Berichte hintergehen lassen. Beydes muß bey dieser Wahrscheinlichkeit untersuchet werden. Wir haben derowegen
 
 
2) auf den Grund zu sehen, darauf diese historische Wahrscheinlichkeit beruhet. Überhaupt nennen wir ihn eine Übereinstimmung gewisser Umstände, welche hier zweyerley sind. Einige betreffen die Person, welche was erzehlet; andere die Begebenheit, die erzehlet wird. Jene beruhen auf die Zeugnisse, bey denen man auf zwey Stücke zu sehen, als auf ihre Vielheit, wie viel derselbigen vorhanden, da man denn die Anzahl derselbigen nicht nach der Menge an sich selbst zu rechnen hat; indem wenn gleich zehen Zeugnisse vorhanden sind, so gelten sie doch nur vor eines, wo sich einer auf den andern beruffet; ingeichen, wie sie, so wohl mit sich selbst, als auch unter einander, übereinstimmen; und auf ihre Würde, welche auf die Glaubwürdigkeit dessen, der etwas erzehlet, ankommt; mithin muß man hier im Stande seyn, solche Glaubwürdigkeit zu beurtheilen, und zu erkennen, worinnen selbige bestehet. Das heißt ein glaubwürdiger Scribent, welcher nicht nur kan, sondern auch will, andern die Wahrheit berichten. Beydes muß beysammen seyn. Denn manche könnten die Wahrheit sagen, und die wahrhafftige Beschaffenheit der Geschichte erzehlen; sie wollen aber nicht; gleichwie es andern an Willen nicht fehlet, sie haben aber die wahre Beschaffenheit einer Sache nicht erfahren, noch erkennen können.
 
 
Was insonderheit das Können betrifft, so kommet es viel darauf an, ob einer bey den Sachen, die zu seiner Zeit sollen geschehen seyn, selber gewesen, und also ein Coaevus ist, oder nicht, und im letztern Falle sich nur mit dem Hörsagen behelffen muß; ingleichen wenn er von ältern und fremden Dingen was erzehlet, ob er mit guten und hinlänglichen Hülffs-Mitteln versehen gewesen; selbst eine gute Bibliotheck besessen; oder einen Zutritt dazu, wie auch nach der Beschaffenheit der Historien einen Zutritt zu dem Archiv gehabt, welches aber die Sache allein nicht ausmacht, weswegen man weiter sehen muß, ob diejenigen, die uns eine Begebenheit erzehlen, Leute sind von gutem Verstande; oder man von denselben keinen Staat zu machen hat, unter welche letztere der Pöbel gehöret, dessen Sagen man famam publicam, oder das gemeine Geschrey zu
 
  {Sp. 1038}  
 
nennen pfleget.
 
 
Auf das Wollen kommt in der Glaubwürdigkeit auch vieles an, wobey wegen der Wahrscheinlichkeit auf folgende Umstände zu sehen: Ob ein Auctor, der uns eine Geschichte erzehlet, intereßiret, und vielleicht von einem Affecte entweder vor; oder wider die Person und Sache, von der er etwas erzehlet, eingenommen; oder ob er dabey indifferent ist; ingleichen ob er ein ehrlicher Mann, der sonst Proben seiner Aufrichtigkeit gegeben, und ob er fürsichtig und behutsam ist, daß er eine Sache genau betrachtet habe, und sich nicht leicht von andern betrügen, oder verführen lasse.
 
 
Bey den Umständen, welche die Begebenheit, die erzehlet wird, selbst betreffen, müssen wir auf ihr Verhältniß gegen die Sache, oder das Object sehen, von welchem die Geschichte erzehlet wird, ob nehmlich und in wie weit die Umstände der Sache, oder des Objects, sich mit der erzehlten Geschichte zusammen reimen lassen, oder nicht.
 
 
Bey solcher Glaubwürdigkeit sind in der Application, wenn man die Wahrscheinlichkeit erreichen will, folgende Regeln zu mercken, erstlich ist das Zeugniß einer Person, welche etwas erzehlet, dabey sie selbst gewesen, von grösserer Gültigkeit, als derer, die eine Geschichte nur vom Hörensagen haben. Denn die letztern können sich ehe betrügen, als die erstern, wenn nur diese ihre Sinnen recht brauchen wollen.
 
 
Vors andere, wenn die Geschichte nur solche Umstände betrifft, welche äusserlich in die Sinnen fallen, so liegt nichts dran, ob vernünfftige, oder unverständige Leute was erzehlen, wenn sie nur in Ansehung des Willens nicht partheyisch sind. Denn die Sinnen können unverständige so gut, als vernünfftige gebrauchen, ja bisweilen sind jene noch aufmercksamer, als diese, welche geschwind ihre Urtheile mit den Erfindungen verknüpffen, und sich dadurch bisweilen in ein und andern Umständen, darauf sie zu sehen haben, bey der Empfindung unachtsam bezeigen; Denn der Unterschied der klügern und einfältigern Menschen bestehet nicht in den Sinnen, und kan also der einfältige so gut, als der klügere, aussagen, was er gesehen, wenn sie beyde unpartheyisch sind.
 
 
Drittens, ist aber etwan eine Partheiligkeit zu vermuthen, so hat man in Geschichten, welche nur Sachen der Sinne, ohne besondere Beywürckung des Judicii betreffen, das Zeugniß der einfältigern dem Zeugniß der verständigern und verschmitztern um ein ziemliches vorzuziehen; Indem die Wahrheit von dem einfältigern eher, als von dem verschmitztern, heraus zu bringen seyn wird. Denn weil der letztere bessere Geschicklichkeit hat, als jener, theils die Folgerungen, die aus der Offenbahrung einer Begebenheit entstehen können, vorherzusehen, theils auch scheinbahre Unwahrheiten auszukünsteln, daß, wenn man nicht hinlängliche Fähigkeit hat, das Scheinbare von dem Wahrhafftigen zu unterscheiden, man leicht betrogen werden kan. Daher das Sprüchwort entstanden ist: Kinder und Narren reden die Wahrheit.
 
 
Viertens, wenn die Geschichte so beschaffen ist, daß, wenn sie genau angemercket
 
  {Sp. 1039|S. 533}  
 
werden soll, eine ziemliche Mitwürckung des Judicii, oder sonst Kunst und Erfahrung in einer Sache erfordert wird, so ist auf das Zeugniß derer Unverständigen und Ungeübten wenig Staat zu machen; Indem sie theils nicht recht verstehen, worauf sie, bey sinnlicher Betrachtung des Objects, ihre Aufmercksamkeit eigentlich richten sollen, theils auch, weil sie sich gar leicht betrügen, und eine Sache anders vorstellen können, als sie in der That beschaffen ist. Zum Exempel: Wenn die Meynungen eines Gelehrten, oder Wercke der Kunst, erzehlet werden; Oder, wenn sinnreiche Zweydeutigkeiten in den Reden vorkommen, welche zu fassen und zu unterscheiden schon eine ziemliche Mitwürckung des Judicii erfordert wird.
 
 
Fünftens, ein Jeder, der eine Begebenheit ansiehet, oder höret, muß sich hüten, daß er seine Urtheile nicht mit dem, was er siehet, oder höret, verwirre. In Ansehung dessen, muß man, bey Anhörung einer Erzehlung, das, was seiner Natur nach nicht, nebst der Geschichte, in die Sinne fallen kan, sondern lediglich auf einem Urtheile der Zeugen beruhet, wohl von dem unterscheiden, was würcklich sinnlich ist. Denn nur dieses letztere, nicht aber jenes, ist ein Theil der Geschichte.
 
 
Immassen sechstens, zu dem Beweiß eines Urtheils, und also anderer, als historischer Wahrheit, das Zeugniß auch der glaubwürdigsten Männer nichts beytragen kan.
 
 
Siebendens, ist bey den Erzehlungen, die sich nur auf das Hörsagen gründen, grosse Behutsamkeit anzuwenden, wenn wir ihnen Glauben beymessen wollen. Denn wenn eine Sache erst durch viele Mäuler gegangen, ehe sie uns zu Ohren gekommen, so hat sie gar leicht können verfälschet werden, entweder durch Unverstand: oder durch Affecten. Je weiter demnach ein auf Hören-Sagen sich in gründendes Zeugniß von den ersten Urhebern der Geschichte, welche die Begebenheit selbst gesehen haben, entfernet ist, desto mehr verliehret es von seiner Glaubwürdigkeit.
 
 
Achtens, doch ist dem Zeugnisse vom Hörsagen eines verständigen und unpartheyischen Mannes mehr zutrauen, als eines unverständigen, und eines, der sich von Affecten einnehmen lässet; Und also am allerwenigsten dem gemeinen Geschrey des Pöbels, wenn nicht dessen Wahrscheinlichkeit durch eine gar besondere Übereinstimmung anderer Umstände gerechtfertiget wird.
 
 
Neuntens, überhaupt aber hat man Ursache, bey einem Zeugen, der eine Begebenheit von dem Hören-Sagen erzehlet, nach seinem Urheber, dem er die Geschichte nachsaget, sich zu erkundigen. Da man denn sehen muß, ob es ein glaubwürdiger Mann sey. Dieses giebt uns die sechste Regel an die Hand, daß man die Glaubwürdigkeit eines nachgesagten Zeugnisses darnach zu beurtheilen hat, nachdem der erste Urheber desselben Glauben verdienet, und nachdem es wahrscheinlich ist, daß von diesem die Geschichte würcklich ihren Ursprung habe, oder nicht. Eben daher verlieren die neuern Scribenten in et-
 
  {Sp. 1040}  
 
was ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie ältere Geschichte erzehlen, und die Urheber ihrer Erzehlungen nicht anführen.
 
 
Zehendens, können wohl neuere solche Begebenheiten erzehlen, die sich nicht zu ihrer Zeit zugetragen, oder dabey sie doch nicht gewesen, folglich die Erzehlung nur andern nachsagen, ohne daß diejenigen, die bey der Begebenheit zugegen gewesen, etwas davon gedencken, welche Erzehlung so schlechterdings nicht kan verworffen werden, zumahl, wenn ihr Zeugniß sonst wahrscheinlich genug ist, und die Geschichte in ihren Umständen ordentlich an einander hänget. Denn es kan das Stillschweigen derer, die coaevi sind, aus Partheylichkeit, oder andern glaublichen Ursachen herrühren.
 
 
Eilfftens, aus allen diesen Gründen sind auch sogar die Archive, Acta publica, und zu der Sache gehörigen Urkunden, ob ihnen auch gleich durch menschlichen Gesetze, damit ein Ende alles Haders seyn möge, in Gerichten völliger Glaube beygeleget werden muß, dennoch an sich selbst, und, so zu reden, in dem Reiche der Wahrheit, von so nothwendiger und unumschränckter Glaubwürdigkeit nicht, daß sie nicht, nach den vorhergehenden Regeln, beurtheilet, und, nach Befinden, zuweilen in Zweiffel gezogen zu werden, verdienen sollen.
 
 
Dieses sind nun die vornehmsten Regeln, in Ansehung der Zeugen, die eine Geschichte bekräfftigen. Es sind aber, nächst diesen, auch die Umstände des Objects, nehmlich der Personen und Dinge, von denen die Geschichte handelt, in fleißige Betrachtung zu ziehen, und dabey zu erwegen, ob und in wie weit, in Ansehung der physicalischen Beschaffenheit der Dinge, oder der moralischen Beschaffenheit der Personen, als nehmlich ihrer Gemüths-Art, Interesse und Absichten, Anlassung der damahligen Conjuncturen, Sitten und Geschichte der damahligen Zeiten, und so weiter, die erzehlte Geschichte möglich, oder vermuthlich sey. Denn kommen darinnen wundersame, seltsame, und wider einander laufende Umstände vor, so wird die Erzehlung dadurch sehr verdächtig.
 
 
Aus diesen beyderley Betrachtungen nun, und vernünfftiger Gegeneinanderhaltung derselben mit der Vielheit und unterschiedenen Würde der Zeugnisse, können nachfolgende Haupt-Regeln der historischen Wahrscheinlichkeit gesetzet, und
 
 
3) ihre drey Grade, als der höchste, der mittelmäßige, und der geringe, bemercket werden.
 
 
Erstlich, die Übereinstimmung eines jeden Zeugnisses, das, nach den Regeln der vorhergehenden Anmerckung, von besonderer Glaubwürdigkeit ist, mit einer Geschichte, die auch in Ansehung der Umstände der Sache selbst gar glaublich ist, träget ein gar besonderes Gewichte zu der Wahrscheinlichkeit der Geschichte bey.
 
 
Zweytens, die Übereinstimmung demnach aller Zeugnisse, und die Würde derselben nach allen Stücken, die in der ersten Anmerckung gezeiget worden, ingleichen
 
  {Sp. 1041|S. 534}  
 
die Übereinstimmung aller Umstände, auch der Sache selbst, von welcher die Geschichte erzehlet wird, so, daß von diesem allen kein eintziger Umstand übrig bleibet, der die geringste Beysorge des an sich selbst doch noch möglichen Gegentheils machen solte, ist zusammen dasjenige, was die so genannte historische Gewißheit ausmachet. Welche also eine weit andere ist, als diejenige, die zu einer Demonstration in eigentlichem Verstande erfordert wird. Denn diese ist eine solche, welche schlechterdings die Möglichkeit des Gegentheils ausschliesset, so, daß das Gegentheil sich nicht ohne Widerspruch gedencken lasse.
 
 
Diese Art der Gewißheit ist nur in den abstracten, generellen und ewigen Wahrheiten, (veritatibus abstractis, generalibus et aeternis) und nicht in eintzeln und zufälligen Dingen (Rebus singularibus et contingentibus) dergleichen alle historische Begebenheiten sind, zu finden. Diese absoluten Gewißheiten erkennen wir nach der Vernunfft (a priori) aus dem Wesen der Dinge: Nicht aber auch je eine Geschichte, so gewiß sie auch in ihrer Art seyn kan. Denn die historische Gewißheit ist in der Erkänntniß der Zufälligen Dinge, das ist, eintzelner Begebenheiten, zu finden, da nach der Natur beydes möglich ist, daß sie haben geschehen können, und nicht geschehen können. Keine historische Gewißheit demnach, so groß sie auch seyn mag, erstrecket sich bis dahin, daß es von Natur unmöglich sey, daß das Gegentheil dessen, was gewiß geschehen ist, hätte geschehen können.
 
 
Wir nennen also eine Geschichte gewiß, in einem etwas andern Verstande, als eine abstracte Wahrheit in den Wissenschafften, nehmlich nicht, als ob das Gegentheil der Geschichte von Natur unmöglich sey, und ohne Widerspruch sich nicht gedencken lasse; Sondern in der Betrachtung, daß, obgleich das Gegentheil daß nehmlich die Begebenheit auch nicht, oder anders, geschehen, auch möglich gewesen wäre, dennoch bey der anfangs angeführten gäntzlichen und durchgängigen Übereinstimmung aller Zeugnisse, und ihrer Würde, und aller Umstände der Sachen selbst, nicht der geringste Grund übrig sey, die würckliche Existentz des an sich selbst möglichen Gegentheils zu vermuthen.
 
 
In diesem etwas generalerm Verstande nennen wir also gewiß dasjenige, nicht, dessen Gegentheil unmöglich ist, und einen Widerspruch involviret; Sondern dasjenige, woran wir nicht die geringste Ursache zu zweiffeln haben, ob es gleich von Natur möglich wäre, daß es anders seyn könnte. Der Beweiß also, durch welchen eine historische Gewißheit hervorgebracht wird, ist keine Demonstration in eigentlichem Verstande: Sondern die historische Gewißheit ist doch noch eine Art der Wahrscheinlichkeit, das ist, solcher Wahrheiten, deren Gegentheil doch auch möglich wäre, und an sich selbst nichts widersprechendes in sich enthält.
 
 
Drittens, wenn entweder die Zeugnisse kein sonderliches Ansehen haben; die Sache aber selbst sehr glaublich ist; oder die Zeugnisse haben dabey ein grosses Ansehen vor sich, obschon die Geschichte in Ansehung der Umstände der Sache selbst nicht so leicht glaublich ist, so entstehet der dritte Grad dieser Wahrscheinlichkeit, welcher nehmlich
 
  {Sp. 1042}  
 
schon mit mehrerer Ungewißheit und Besorgniß des Gegentheils verbunden ist.
 
 
Vierdens, sind so wohl die Zeugnisse von schlechten Werthe, als auch die Umstände der Sachen so beschaffen, daß sie nicht wohl zusammen hängen, dieselbe aber doch möglich ist, so macht dieses den geringsten Grad der historischen Wahrscheinlichkeit.
 
 
Aus der Vielheit nun, oder Wenigkeit, dieser Übereinstimmungen, sind die Grade der Vermehrung oder Verminderung dieser Wahrscheinlichkeit, zu schätzen. Ein Umstand der Sache selbst, welcher der Geschichte, oder einem Theile derselben, wahrhafftig widerspricht, ist eine Anzeigung, daß sie entweder gantz, oder zum Theil, gewißlich falsch sey. Ein Zeugniß aber, das sich entweder selbst, oder andern Zeugnissen, widerspricht, ist keine Anzeigung einer gewissen, oder demonstrativen Falschheit der Geschichte; Ob wohl dieses gewiß ist, daß die einander widersprechenden Berichte nicht zugleich wahr seyn können: Ingleichen, daß die einander widersprechenden Zeugnisse, nach Proportion ihrer Würde, einander zweiffelhafft, oder unwahrscheinlich machen können.
 
     

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Stand: 7. April 2013 © Hans-Walter Pries