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III. Eintheilung der Wahrscheinlichkeit.¶ |
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Rüdiger hat in dem sensu veri et falsi L. III. diese Lehre am allerweitläufftigsten untersuchet,
welcher fünf Gattungen der Wahrscheinlichkeit
setzet, als die
Historische, Hermenevtische,
Physi- |
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{Sp. 1035|S. 531} |
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sche, Politische und Practische, (Historicam,
Hermenevticam, Physicam, Politicam et
Practicam) die Herr
Müller in der Logick …
welcher Rüdigern folget, also zusammen hänget,
und von einer jeden den
Grund anzeiget. Er
sagt: |
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„Mit demonstrativer Gewißheit erkennen wir
das, was in die Sinne fällt, und was aus diesem
durch untriegliche Folge zu schliessen ist;
nehmlich nur einige Effecte, dergleichen die
Quantitäten, und die abstracta metaphysica, oder
Existentzen der Dinge sind. Vieles hingegen fällt
auch 1) seiner Existentz nach nicht einmahl in die
Sinne, und zwar weder unmittelbar noch mittelbar
durch gewisse Folgerung: Am allerwenigsten aber
2) die abstracta disciplinalia, d.i. die Grund-
Ursachen, und also das Wesen der Dinge, die da
existiren. Dieses beydes ist demnach dasjenige
ungewisse, das GOTT und Natur unserer
Geschicklichkeit zu vermuthen überlassen. |
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Was nun erstlich die Existentz derjenigen
Dinge anlanget, die aus den untrieglichen
Empfindungen der Sinne weder unmittelbar, noch
mittelbar durch gewisse Folgerungen erhellen,
und also nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit
nur aus der Übereinstimmung der Umstände zu
vermuthen sind, so machen diese die erste Art der
Wahrscheinlichkeit, nehmlich die Historische,
aus. |
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Wenn wir hingegen das Wesen der Dinge
nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit
untersuchen, so sind solche Dinge entweder
Worte, oder Sachen. Das Wesen der Worte eines
Redenden bestehet in dem eigentlichen
Verstande derselben. Weil dieser nicht allezeit nur
einer ist; sondern eine Rede, oder ein Spruch
eines andern, zum öfftern zwey oder mehrere
mögliche Deutungen haben kan unter denen
sonder Zweiffel die wahrscheinlichste aus dem
Grunde ihrer Übereinstimmung mit allen bey einer
Rede zu beobachtenden Umständen zu erlesen
ist, so entstehet dabey die andere Art der
Wahrscheinlichkeit, nehmlich die
Hermenevtische. |
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Sind es aber würckliche Sachen, deren
Wesen wir untersuchen; so können solche in
natürliche, und moralische eingetheilet, und beyde
wiederum theils nach den gegenwärtigen und
bereits existirenden theils nach den zukünfftigen
betrachtet werden. Die Wahrscheinlichkeit, durch
welche wir das Wesen natürlicher bereits
existirender Dinge erforschen, ist die dritte Art
derselben, nehmlich die Physicalische: und die
Wahrscheinlichkeit hingegen, mit welcher wir das
Wesen moralischer bereits existirender Dinge
untersuchen, ist die vierte Art derselben, nehmlich
die Politische Art der Wahrscheinlichkeit. |
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Die fünfte und letzte Art ist endlich die
Practische, durch welche wir das Zukünftige, das
in Physicalischen Dingen sowohl als in
Moralischen zu vermuthen ist, zum Behuf unsers
Verfahrens, vorher zu sehen bemühet sind.„ |
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Wir wollen jede Art insbesondere
durchgehen, und bey einer jeden das nöthigste
erwegen.¶ |
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{Sp. 1036} |
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I. Von der Historischen
Wahrscheinlichkeit.¶ |
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Wir haben eben nicht nöthig, vorher die
Frage: Ob in der
Historie eine Gewißheit; oder nur
eine Wahrscheinlichkeit statt habe? zu
untersuchen. Denn wenn wir auch einigen
einräumen wollen, man habe bisweilen eine
Gewißheit, so würde doch der meiste Theil von
den Geschichten nur wahrscheinlich können
erkannt werden. Wir haben auch sonst in
Historischen Sachen nur eine Wahrscheinlichkeit
zugelassen; es scheinet uns aber der gantze
Streit auf eine Logick anzukommen, wie man
nehmlich in dieser
Sache die Demonstration oder
Gewißheit, und die Wahrscheinlichkeit
nimmt. |
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Soviel muß uns ein jeder zugestehen, daß
kein Mensch ist, der von allen dergleichen
Begebenheiten, von denen er, zu
vernünfftiger
Einrichtung seines Verfahrens, benachrichtiget zu
seyn vonnöthen hat, durch die autopsian, oder
eigene
Empfindung, sich genüglich
unterrichten
könnte: sondern wie das, was wir selbst sehen,
daß allerwenigste unter allen Begebenheiten,
deren
Wissenschafft wir vonnöthen haben, ist;
Also leben wir in diesem Stücke meist auf Treu
und Glauben anderer Leute, mit deren
Erzehlungen wir uns behelffen müssen. |
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Hieraus erhellet bald Anfangs die
Nothwendigkeit und der
Zweck der historischen
Wahrscheinlichkeit. Wir brauchen die historische
Wahrheit zu gar vielen Sachen, daß sie entweder
zu der wahren
Erkänntniß einer andern Sache;
oder zur vernünfftigen Einrichtung eines
Verfahrens dienen muß. Nun kommet es ja nicht
darauf an, daß man etwas höret, und in einem
Buche lieset: denn wenn man allen Leuten
blindlings trauen wolte, so würde man gar
vielmahls betrogen werden; durch solchen Betrug
aber sich nur in Schaden bringen. Soll man aber
eines andern Erzehlung nach der Wahrheit
untersuchen, so muß man diese Lehre verstehen,
und wie offt geschichts nicht, daß verschiedene,
es sey mündlich oder schrifftlich, uns was
erzehlen, und sich widersprechen, wobey ja eine
Untersuchung der Wahrheit nöthig ist. |
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Dieses voraus gesetzet, so beschreiben wir
die Historische Wahrscheinlichkeit also, daß sie
diejenige
Art der Wahrscheinlichkeit sey, durch
welche man, aus der Übereinstimmung gewisser
historischer Umstände, daß eine erzehlte
Begebenheit würcklich geschehen, oder erdichtet
sey, vermuthet, das ist, dergestalt erkennet, daß
dabey noch eine gegenseitige
Möglichkeit statt
findet. Insbesondere müssen wir dabey auf drey
Umstände sehen: |
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1) |
Auf die
Sache, die hier als
wahrscheinlich zu
erkennen, welches eine
Begebenheit, die uns erzehlet wird, und die wir
also nicht selber mit angesehen; sondern auf
anderer Leute Erzehlung beruhet. Doch kan eine
Erzehlung auf zweyerley Art untersuchet werden.
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Denn entweder kommet
die
Existentz einer Geschichte in Untersuchung,
ob sich die Sache würcklich einmahl habe
zugetragen. |
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{Sp. 1037|S. 532} |
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In welchem Falle die
Möglichkeiten, oder Hypotheses, die durch ihre
gute, oder schlechte Übereinstimmung mit den
Umständen, vor wahrscheinlich zu halten sind,
oder nicht, darinnen bestehen, daß die erzehlte
Geschichte entweder würcklich geschehen seyn
kan, oder nicht. Oder das
Wesen derselben, ob
sie würcklich in den Umständen, wie man
vorgiebt, oder nur zum Theil geschehen. Denn
bisweilen ist an der Sache nichts, zuweilen hat die
Begebenheit an sich ihre
Existentz, gehabt, daß
sie würcklich sich zugetragen; sie wird aber mit
vielen ungegründeten Umständen erzehlet,
Ferner, wenn sie nicht geschehen ist, so haben
sie diejenigen, die sie erzehlen, entweder
erdichtet, oder auf das, was sie haben gesehen
und gehöret haben wollen, nicht recht Achtung
gegeben, und sich also geirret; Oder sich vielleicht
von andern, durch falsche Berichte hintergehen
lassen. Beydes muß bey dieser
Wahrscheinlichkeit untersuchet werden. Wir
haben derowegen |
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2) |
auf den
Grund zu sehen,
darauf diese historische Wahrscheinlichkeit
beruhet. Überhaupt nennen wir ihn eine
Übereinstimmung gewisser Umstände, welche
hier zweyerley sind. Einige betreffen die
Person,
welche was erzehlet; andere die Begebenheit, die
erzehlet wird. Jene beruhen auf die Zeugnisse,
bey denen man auf zwey Stücke zu sehen, als auf
ihre Vielheit, wie viel derselbigen vorhanden, da
man denn die Anzahl derselbigen nicht nach der
Menge an sich selbst zu rechnen hat; indem wenn
gleich zehen Zeugnisse vorhanden sind, so gelten
sie doch nur vor eines, wo sich einer auf den
andern beruffet; ingeichen, wie sie, so wohl mit
sich selbst, als auch unter einander,
übereinstimmen; und auf ihre
Würde, welche auf
die Glaubwürdigkeit dessen, der etwas erzehlet,
ankommt; mithin muß man hier im
Stande seyn,
solche Glaubwürdigkeit zu beurtheilen, und zu
erkennen, worinnen selbige bestehet. Das heißt
ein glaubwürdiger Scribent, welcher nicht nur kan,
sondern auch will, andern die Wahrheit berichten.
Beydes muß beysammen seyn. Denn manche
könnten die Wahrheit sagen, und die
wahrhafftige
Beschaffenheit der Geschichte erzehlen; sie
wollen aber nicht; gleichwie es andern an
Willen
nicht fehlet, sie haben aber die wahre
Beschaffenheit einer Sache nicht erfahren, noch
erkennen können. |
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Was insonderheit das
Können betrifft, so kommet es viel darauf an, ob
einer bey den Sachen, die zu seiner
Zeit sollen
geschehen seyn, selber gewesen, und also ein
Coaevus ist, oder nicht, und im letztern Falle sich
nur mit dem Hörsagen behelffen muß; ingleichen
wenn er von ältern und fremden Dingen was
erzehlet, ob er mit guten und hinlänglichen Hülffs-Mitteln versehen gewesen; selbst eine gute
Bibliotheck besessen; oder einen Zutritt dazu, wie
auch nach der Beschaffenheit der
Historien einen
Zutritt zu dem Archiv gehabt, welches aber die
Sache allein nicht ausmacht, weswegen man
weiter sehen muß, ob diejenigen, die uns eine
Begebenheit erzehlen, Leute sind von gutem
Verstande; oder man von denselben keinen
Staat
zu machen hat, unter welche letztere der Pöbel
gehöret, dessen Sagen man famam publicam,
oder das gemeine Geschrey zu |
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{Sp. 1038} |
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Auf das
Wollen kommt in
der Glaubwürdigkeit auch vieles an, wobey wegen
der Wahrscheinlichkeit auf folgende Umstände zu
sehen: Ob ein Auctor, der uns eine Geschichte
erzehlet, intereßiret, und vielleicht von einem
Affecte entweder vor; oder wider die Person und
Sache, von der er etwas erzehlet, eingenommen;
oder ob er dabey indifferent ist; ingleichen ob er
ein ehrlicher
Mann, der sonst Proben seiner
Aufrichtigkeit gegeben, und ob er fürsichtig und
behutsam ist, daß er eine Sache genau betrachtet
habe, und sich nicht leicht von andern betrügen,
oder verführen lasse. |
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Bey den Umständen,
welche die Begebenheit, die erzehlet wird, selbst
betreffen, müssen wir auf ihr
Verhältniß gegen die
Sache, oder das Object sehen, von welchem die
Geschichte erzehlet wird, ob nehmlich und in wie
weit die Umstände der Sache, oder des Objects,
sich mit der erzehlten Geschichte zusammen
reimen lassen, oder nicht. |
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Bey solcher
Glaubwürdigkeit sind in der Application, wenn man
die Wahrscheinlichkeit erreichen will, folgende
Regeln zu mercken, erstlich ist das Zeugniß einer
Person, welche etwas erzehlet, dabey sie selbst
gewesen, von grösserer Gültigkeit, als derer, die
eine Geschichte nur vom Hörensagen haben.
Denn die letztern können sich ehe betrügen, als
die erstern, wenn nur diese ihre
Sinnen recht
brauchen wollen. |
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Vors andere, wenn die
Geschichte nur solche Umstände betrifft, welche
äusserlich in die Sinnen fallen, so liegt nichts dran,
ob
vernünfftige, oder unverständige Leute was
erzehlen, wenn sie nur in Ansehung des
Willens
nicht partheyisch sind. Denn die Sinnen können
unverständige so gut, als vernünfftige
gebrauchen, ja bisweilen sind jene noch
aufmercksamer, als diese, welche geschwind ihre
Urtheile mit den
Erfindungen
verknüpffen, und
sich dadurch bisweilen in ein und andern
Umständen, darauf sie zu sehen haben, bey der
Empfindung unachtsam bezeigen; Denn der
Unterschied der klügern und einfältigern
Menschen bestehet nicht in den Sinnen, und kan
also der einfältige so gut, als der klügere,
aussagen, was er gesehen, wenn sie beyde
unpartheyisch sind. |
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Drittens, ist aber etwan
eine Partheiligkeit zu vermuthen, so hat man in
Geschichten, welche nur Sachen der Sinne, ohne
besondere Beywürckung des Judicii betreffen, das
Zeugniß der einfältigern dem Zeugniß der
verständigern und verschmitztern um ein
ziemliches vorzuziehen; Indem die Wahrheit von
dem einfältigern eher, als von dem verschmitztern,
heraus zu bringen seyn wird. Denn weil der
letztere bessere
Geschicklichkeit hat, als jener,
theils die Folgerungen, die aus der Offenbahrung
einer Begebenheit entstehen können,
vorherzusehen, theils auch scheinbahre
Unwahrheiten auszukünsteln, daß, wenn man
nicht hinlängliche Fähigkeit hat, das Scheinbare
von dem Wahrhafftigen zu unterscheiden, man
leicht betrogen werden kan. Daher das
Sprüchwort entstanden ist:
Kinder und Narren
reden die Wahrheit. |
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Viertens, wenn die
Geschichte so beschaffen ist, daß, wenn sie
genau angemercket |
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{Sp. 1039|S. 533} |
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werden soll, eine
ziemliche Mitwürckung des Judicii, oder sonst
Kunst und
Erfahrung in einer
Sache erfordert wird,
so ist auf das Zeugniß derer Unverständigen und
Ungeübten wenig
Staat zu machen; Indem sie
theils nicht recht verstehen, worauf sie, bey
sinnlicher Betrachtung des Objects, ihre
Aufmercksamkeit eigentlich richten sollen, theils
auch, weil sie sich gar leicht betrügen, und eine
Sache anders vorstellen können, als sie in der
That beschaffen ist. Zum Exempel: Wenn die
Meynungen eines
Gelehrten, oder
Wercke der
Kunst, erzehlet werden; Oder, wenn sinnreiche
Zweydeutigkeiten in den
Reden vorkommen,
welche zu fassen und zu unterscheiden schon
eine ziemliche Mitwürckung des Judicii erfordert
wird. |
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Fünftens, ein Jeder, der
eine Begebenheit ansiehet, oder höret, muß sich
hüten, daß er seine
Urtheile nicht mit dem, was er
siehet, oder höret, verwirre. In Ansehung dessen,
muß man, bey Anhörung einer Erzehlung, das,
was seiner Natur nach nicht, nebst der
Geschichte, in die
Sinne fallen kan, sondern
lediglich auf einem Urtheile der Zeugen beruhet,
wohl von dem unterscheiden, was würcklich
sinnlich ist. Denn nur dieses letztere, nicht aber
jenes, ist ein Theil der Geschichte. |
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Immassen sechstens, zu
dem
Beweiß eines Urtheils, und also anderer, als
historischer Wahrheit, das Zeugniß auch der
glaubwürdigsten
Männer nichts beytragen
kan. |
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Siebendens, ist bey den
Erzehlungen, die sich nur auf das Hörsagen
gründen, grosse Behutsamkeit anzuwenden,
wenn wir ihnen Glauben beymessen wollen. Denn
wenn eine Sache erst durch viele Mäuler
gegangen, ehe sie uns zu Ohren gekommen, so
hat sie gar leicht können verfälschet werden,
entweder durch Unverstand: oder durch
Affecten.
Je weiter demnach ein auf Hören-Sagen sich in
gründendes Zeugniß von den ersten Urhebern der
Geschichte, welche die Begebenheit selbst
gesehen haben, entfernet ist, desto mehr
verliehret es von seiner Glaubwürdigkeit. |
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Achtens, doch ist dem
Zeugnisse vom Hörsagen eines verständigen und
unpartheyischen Mannes mehr zutrauen, als eines
unverständigen, und eines, der sich von Affecten
einnehmen lässet; Und also am allerwenigsten
dem gemeinen Geschrey des Pöbels, wenn nicht
dessen Wahrscheinlichkeit durch eine gar
besondere Übereinstimmung anderer Umstände
gerechtfertiget wird. |
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Neuntens, überhaupt aber
hat man
Ursache, bey einem Zeugen, der eine
Begebenheit von dem Hören-Sagen erzehlet,
nach seinem Urheber, dem er die Geschichte
nachsaget, sich zu erkundigen. Da man denn
sehen muß, ob es ein glaubwürdiger Mann sey.
Dieses giebt uns die sechste Regel an die Hand,
daß man die Glaubwürdigkeit eines nachgesagten
Zeugnisses darnach zu beurtheilen hat, nachdem
der erste Urheber desselben Glauben
verdienet,
und nachdem es wahrscheinlich ist, daß von
diesem die Geschichte würcklich ihren
Ursprung
habe, oder nicht. Eben daher
verlieren die neuern
Scribenten in et- |
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{Sp. 1040} |
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was ihre Glaubwürdigkeit,
wenn sie ältere Geschichte erzehlen, und die
Urheber ihrer Erzehlungen nicht anführen. |
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Zehendens, können wohl
neuere solche Begebenheiten erzehlen, die sich
nicht zu ihrer
Zeit zugetragen, oder dabey sie
doch nicht gewesen, folglich die Erzehlung nur
andern nachsagen, ohne daß diejenigen, die bey
der Begebenheit zugegen gewesen, etwas davon
gedencken, welche Erzehlung so schlechterdings
nicht kan verworffen werden, zumahl, wenn ihr
Zeugniß sonst wahrscheinlich genug ist, und die
Geschichte in ihren Umständen ordentlich an
einander hänget. Denn es kan das Stillschweigen
derer, die coaevi sind, aus Partheylichkeit, oder
andern glaublichen Ursachen herrühren. |
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Eilfftens, aus allen diesen
Gründen sind auch sogar die Archive,
Acta
publica, und zu der Sache gehörigen Urkunden,
ob ihnen auch gleich durch
menschlichen
Gesetze,
damit ein Ende alles Haders seyn möge, in
Gerichten völliger Glaube beygeleget werden
muß, dennoch an sich selbst, und, so zu
reden, in
dem
Reiche der
Wahrheit, von so nothwendiger
und unumschränckter Glaubwürdigkeit nicht, daß
sie nicht, nach den vorhergehenden
Regeln,
beurtheilet, und, nach Befinden, zuweilen in
Zweiffel gezogen zu werden,
verdienen
sollen. |
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Dieses sind nun die
vornehmsten Regeln, in Ansehung der Zeugen,
die eine Geschichte bekräfftigen. Es sind aber,
nächst diesen, auch die Umstände des Objects,
nehmlich der Personen und
Dinge, von denen die
Geschichte handelt, in fleißige Betrachtung zu
ziehen, und dabey zu erwegen, ob und in wie weit,
in Ansehung der physicalischen Beschaffenheit
der Dinge, oder der
moralischen Beschaffenheit
der Personen, als nehmlich ihrer
Gemüths-Art,
Interesse und Absichten, Anlassung der
damahligen Conjuncturen,
Sitten und Geschichte
der damahligen Zeiten, und so weiter, die erzehlte
Geschichte möglich, oder vermuthlich sey. Denn
kommen darinnen wundersame, seltsame, und
wider einander laufende Umstände vor, so wird
die Erzehlung dadurch sehr verdächtig. |
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Aus diesen beyderley
Betrachtungen nun, und vernünfftiger
Gegeneinanderhaltung derselben mit der Vielheit
und unterschiedenen
Würde der Zeugnisse,
können nachfolgende Haupt-Regeln der
historischen Wahrscheinlichkeit gesetzet,
und |
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3) |
ihre drey Grade, als der
höchste, der mittelmäßige, und der geringe,
bemercket werden. |
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Erstlich, die
Übereinstimmung eines jeden Zeugnisses, das,
nach den Regeln der vorhergehenden
Anmerckung, von besonderer Glaubwürdigkeit ist,
mit einer Geschichte, die auch in Ansehung der
Umstände der Sache selbst gar glaublich ist,
träget ein gar besonderes Gewichte zu der
Wahrscheinlichkeit der Geschichte bey. |
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Zweytens, die
Übereinstimmung demnach aller Zeugnisse, und
die Würde derselben nach allen Stücken, die in
der ersten Anmerckung gezeiget worden,
ingleichen |
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{Sp. 1041|S. 534} |
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die Übereinstimmung aller
Umstände, auch der Sache selbst, von welcher
die Geschichte erzehlet wird, so, daß von diesem
allen kein eintziger Umstand übrig bleibet, der die
geringste Beysorge des an sich selbst doch noch
möglichen Gegentheils machen solte, ist
zusammen dasjenige, was die so genannte
historische Gewißheit ausmachet. Welche also
eine weit andere ist, als diejenige, die zu einer
Demonstration in eigentlichem
Verstande erfordert
wird. Denn diese ist eine solche, welche
schlechterdings die
Möglichkeit des Gegentheils
ausschliesset, so, daß das Gegentheil sich nicht
ohne Widerspruch gedencken lasse. |
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Diese Art der Gewißheit
ist nur in den abstracten, generellen und ewigen
Wahrheiten, (veritatibus abstractis, generalibus et
aeternis) und nicht in eintzeln und zufälligen
Dingen (Rebus singularibus et contingentibus)
dergleichen alle historische Begebenheiten sind,
zu finden. Diese absoluten Gewißheiten erkennen
wir nach der
Vernunfft (a priori) aus dem
Wesen
der Dinge: Nicht aber auch je eine Geschichte, so
gewiß sie auch in ihrer Art seyn kan. Denn die
historische Gewißheit ist in der
Erkänntniß der
Zufälligen Dinge, das ist, eintzelner
Begebenheiten, zu finden, da nach der
Natur
beydes möglich ist, daß sie haben geschehen
können, und nicht geschehen können. Keine
historische Gewißheit demnach, so groß sie auch
seyn mag, erstrecket sich bis dahin, daß es von
Natur unmöglich sey, daß das Gegentheil dessen,
was gewiß geschehen ist, hätte geschehen
können. |
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Wir nennen also eine
Geschichte gewiß, in einem etwas andern
Verstande, als eine abstracte Wahrheit in den
Wissenschafften, nehmlich nicht, als ob das
Gegentheil der Geschichte von Natur unmöglich
sey, und ohne Widerspruch sich nicht gedencken
lasse; Sondern in der Betrachtung, daß, obgleich
das Gegentheil daß nehmlich die Begebenheit
auch nicht, oder anders, geschehen, auch möglich
gewesen wäre, dennoch bey der anfangs
angeführten gäntzlichen und durchgängigen
Übereinstimmung aller Zeugnisse, und ihrer
Würde, und aller Umstände der Sachen selbst,
nicht der geringste Grund übrig sey, die
würckliche
Existentz des an sich selbst möglichen
Gegentheils zu vermuthen. |
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In diesem etwas
generalerm Verstande nennen wir also gewiß
dasjenige, nicht, dessen Gegentheil unmöglich ist,
und einen Widerspruch involviret; Sondern
dasjenige, woran wir nicht die geringste
Ursache
zu zweiffeln haben, ob es gleich von Natur
möglich wäre, daß es anders seyn könnte. Der
Beweiß also, durch welchen eine historische
Gewißheit hervorgebracht wird, ist keine
Demonstration in eigentlichem Verstande:
Sondern die historische Gewißheit ist doch noch
eine
Art der Wahrscheinlichkeit, das ist, solcher
Wahrheiten, deren Gegentheil doch auch möglich
wäre, und an sich selbst nichts widersprechendes
in sich enthält. |
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Drittens, wenn entweder
die Zeugnisse kein sonderliches Ansehen haben;
die Sache aber selbst sehr glaublich ist; oder die
Zeugnisse haben dabey ein grosses
Ansehen vor
sich, obschon die Geschichte in Ansehung der
Umstände der Sache selbst nicht so leicht
glaublich ist, so entstehet der dritte Grad dieser
Wahrscheinlichkeit, welcher nehmlich |
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{Sp. 1042} |
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schon mit mehrerer
Ungewißheit und Besorgniß des Gegentheils
verbunden ist. |
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Vierdens, sind so wohl die Zeugnisse von schlechten
Werthe, als auch die Umstände der Sachen so beschaffen, daß sie nicht wohl
zusammen hängen, dieselbe aber doch möglich ist, so macht dieses den geringsten
Grad der historischen Wahrscheinlichkeit. |
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Aus der
Vielheit nun, oder Wenigkeit, dieser
Übereinstimmungen, sind die Grade der
Vermehrung oder Verminderung dieser
Wahrscheinlichkeit, zu schätzen. Ein Umstand der
Sache selbst, welcher der Geschichte, oder einem
Theile derselben, wahrhafftig widerspricht, ist eine
Anzeigung, daß sie entweder gantz, oder zum
Theil, gewißlich falsch sey. Ein Zeugniß aber, das
sich entweder selbst, oder andern Zeugnissen,
widerspricht, ist keine Anzeigung einer gewissen,
oder demonstrativen Falschheit der Geschichte;
Ob wohl dieses gewiß ist, daß die einander
widersprechenden Berichte nicht zugleich wahr
seyn können: Ingleichen, daß die einander
widersprechenden Zeugnisse, nach Proportion
ihrer Würde, einander zweiffelhafft, oder
unwahrscheinlich machen können. |
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