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Zedler: Wahrscheinlichkeit [1] HIS-Data
5028-52-1020-7-01
Titel: Wahrscheinlichkeit [1]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 52 Sp. 1020
Jahr: 1747
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 52 S. 523
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Übersicht
I. Historie der Lehre von der Wahrscheinlichkeit
II. Lehre von der Wahrscheinlichkeit überhaupt

  Text Quellenangaben
  Wahrscheinlichkeit, oder Probabilität, Lat. Probabilitas, Verisimilitudo, Verosimilitudo, Fr. Vraysemblence, ist eine Möglichkeit, deren Würcklichkeit, in Ansehung ihrer durchgängigen Übereinstimmung mit den in die Sinne fallenden Umständen des Objects, zu vermuthen ist.  
  Oder, sie ist eine Wahrheit, die nicht durch unläugbare Empfindungen der Sinne erkennet, noch aus denselben unumstößlich geschlossen werden kan, sondern anfänglich nur als eine Möglichkeit supponiret wird, welche jedoch nachgehends, aus dem Grunde ihrer Übereinstimmung mit alle dem, was wir, durch die Sinne, an dem Objecte gewahr werden, vor würcklich, oder wahr, gehalten zu werden verdienet, jedoch also, daß wir die Möglichkeit des Gegentheils nicht gantzlich abzulehnen vermögen.  
  Es kan dergleichen Wahrscheinlichkeit nicht in GOtt, sondern nur in uns Menschen, Statt haben.  
  Bey der Abhandlung dieser Materie, wollen wir vorhero eine kurtze Historie dieser Lehre geben, hierauf die Sache selbst beschreiben, und endlich die verschiedenen Arten durchgehen.  
     
  I Historie der Lehre von der Wahrscheinlichkeit.  
  Bey der Historie dieser Lehre ist zu mercken, daß die Philosophen vor des Aristoteles Zeiten von dieser Art der Wahrheit nichts gelehret, in dem man es nur bey der Kunst, Vernunfft-Schlüsse zu machen, bewenden ließ. Aristoteles selbst machte einen Unterscheid unter der Analytic und Dialectic, davon jene von der Demonstration handele, und mit der gantz gewissen Wahrheit beschäfftiget sey; diese aber zeige, wie man einen wahrscheinlichen Schluß machen müsse, wiewohl dieses Wort auf verschiedene Art ist genommen worden.  
  Es suchte dieser Philosophe den Grund der Wahrscheinlichkeiten in der Meynung anderer Leute. Denn er sagte, dasjenige sey wahrscheinlich, was allen, oder den meisten; oder den klugen, und von diesen entweder allen oder den meisten; oder den vornehmsten also schiene, wie aus Lib. I. Topic. c. 1. zu ersehen, welches in der That ein schlechter Begriff von der Wahrscheinlichkeit war. Denn sie ist eine Art der Wahrheit; die Wahrheit aber kommt nicht auf die Meynung anderer Leute an, wenn es gleich kluge und vornehme Leute sind, die sich ebenfalls betrügen und irren können.  
  Inzwischen ist schon dabey geblie-  
  {Sp. 1021|S. 524}  
  ben, so lange die Aristotelische Philosophie im Schwange war, daß also diese Lehre lange Zeit ununtersuchet bliebe.  
  Zu den neuern Zeiten ist sie von den neuern Logicis sorgfältiger abgehandelt worden, wiewohl sie nicht alle auf einerley Art die Sache vorgetragen haben.  
  Gassendus meynte, es käme die Wahrscheinlichkeit darauf an, daß sie mehr Deutlichkeit, als Dunckelheit habe; wie aus seinen instit. logic. … zu ersehen ist, welcher aber die Sache nicht getroffen. Denn wenn man das eigentliche Wesen der Wahrscheinlichkeit zeigen will, so muß man weisen, wie sie von der gantz gewissen Wahrheit unterschieden; nun aber kan man auch von dieser sagen, sie habe mehr Deutlichkeit als Dunckelheit. Er unterscheidet wohl das wahrscheinliche von dem unwahrscheinlichen, welches mehr Dunckelheit als Deutlichkeit hat, so aber noch nicht hinlänglich zu einem richtigen und vollständigen Begriffe von der Wahrscheinlichkeit.  
  So ist es auch noch andern ergangen. Denn wenn Locke de intellectu humano … saget, man hätte einen doppelten Grund der Wahrscheinlichkeit, davon der eine die Übereinstimmung einer ieglichen Sache mit unserer Erfahrung; der andere das Zeugniß anderer sey, so sind diese Gründe zwar richtig; aber nicht hinlänglich, alle Arten der Wahrscheinlichkeiten daraus zu erklären, wie aus dem folgenden wird zu ersehen seyn.  
  Thomasius in philosophia aulica … nennet sie einen Beweiß eines Satzes vermittelst einer nicht nothwendigen Verknüpffung mit dem erstern Criterio der Wahrheit, und in der Einleitung der Vernunfft-Lehre … giebt er zwey Criteria der Probabilität an: das erste sey eines andern Erfahrung, der sich nicht betrogen habe, auch andere nicht betriegen wolle, daß, je stärcker das Vertrauen oder die Furcht, je wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher käme die Sache für; das andere wäre der eigne Concept, der nicht von allen, aber doch von etlichen Individuis hergenommen werde, es sey nun von vielen; oder von wenigen, welcher Concept nichts anders sey, als der Concept der Accidentien, die der Essentz entgegen gesetzet wären.  
  Denn weil deren etliche so beschaffen, daß sie bey vielen Individuis die unter einer Idee begriffen wären, angetroffen würden, so werde in Zweiffel geschlossen, daß sie auch bey den andern sich befinden müsten, biß daß man das Gegentheil behaupte. Die nun bey vielen anzutreffen wären, machten eine Wahrscheinlichkeit, und wären dem allgemeinen Satz am nächsten; die aber nur bey wenigen, oder nur einem zu finden, machten eine Unwahrscheinlichkeit.  
  Clericus in logica … meinet, die Wahrscheinlichkeit beruhe auf das Ansehen anderer, auf die Beschaffenheit der Sache, auf unsere Erkenntniß und Erfahrung, auf die Beschaffenheit des Gemüths, und auf die Vernunfft-Schlüsse. Man lese, was Walch in der histor. logic. … hiervon weiter angeführet hat.
     
II. Lehre von der Wahrscheinlichkeit überhaupt.  
  So sehr man wohl wünschen möchte, daß  
  {Sp. 1022}  
  alle nützliche Wahrheiten mit demonstrativer Gewißheit erkennet werden mögen: So lassen doch solches die von GOtt der menschlichen Vernunfft gesetzten Grentzen nicht zu. Jedoch finden wir dieses Unvermögen des menschlichen Verstandes, durch die ihm verliehene Krafft des Ingenii nothdürfftig ersetzet: Als durch welche Krafft er anfänglich in dem Stande ist, in den Fällen, da er durch die Empfindung der Sinne, und daher geleitete untrügliche Folgerungen, keiner gewissen und ungezweiffelten Wahrheit mächtig ist, allerhand Möglichkeiten zu ersinnen; Immassen auch einem jeden die Erfahrung lehren wird, daß, wo er alles Grundes der Gewißheit sich beraubet siehet, und gleichwohl von der wahren Bewandniß einer Sache Wissenschafft zu haben von nöthen hat, er, durch die natürliche Führung der Vernunfft, auf allerhand Einfälle geleitet werde, was, in Ermangelung der Gewißheit, vielleicht seyn könne, oder allenfalls möglich sey.  
  Weil aber dennoch dergleichen Möglichkeit noch keine Wahrheit ist; Indem die Natur des blos möglichen darinnen bestehet, daß es je so schier auch nicht seyn könne, als es seyn kan; Und also die Wissenschafft, daß etwas möglich sey, ohne zu wissen, ob es auch würcklich wahr sey, von schlechtem Unterricht und Nutzen ist: So ist bey allen dergleichen Einfällen, oder durch das Ingenium ersonnenen Möglichkeiten, nun ferner zu erwegen, ob nicht hinter einer und der andern etwas mehrers und zuverläßlicheres, als blosse Möglichkeit, stecke: Da dann, wann wir bedencken, daß alles, was wahr, oder würcklich ist, nothwendig auch möglich seyn müsse, (obgleich nicht umgekehrt;) nothwendig erfolget, daß also einige Möglichkeiten nicht blosse Möglichkeiten, sondern unter denselben auch würckliche Wahrheiten seyn müssen; Und daß also alle Wahrheiten, die der Verstand aus den Gründen gäntzlicher Gewißheit zu erreichen unfähig ist, nothwendig unter der Zahl der Möglichkeiten zu suchen seyn müssen.  
  Aber wie und durch was vor Mittel sind sie wohl aus der so unendlichen Zahl der Möglichkeiten heraus zu lesen? Unstreitig muß wohl dieses aus der Natur der Wahrheit beurtheilet werden. Die Wahrheit nun ist eine Übereinstimmung unserer Urtheile d.i. unserer Bejahungen und Verneinungen, mit dem, was wir durch die Sinne an den Objecten empfinden. Diese Übereinstimmung aber kan auf zweyerley Art gefunden werden.  
  Denn in einigen Dingen können wir von den Empfindungen der Sinne den Anfang machen, und durch dieselben, als einen unumstößlichen Grund, die Würcklichkeit dessen, was wir urtheilen, entweder unmittelbahr zeigen, oder doch aus denselben, vermittelst richtiger Folgerungen, schliessen. Dieses ist der ordentliche Weg, die Wahrheit mit demonstrativer Gewißheit zu erkennen, da wir nehmlich von den Sinnen, als dem ersten Grunde derselben, den Anfang machen, und aus denselben die Wahrheit, durch richtige und untrügliche Folge herleiten.  
  Die andere Art, die Übereinstimmung dessen, was wir urtheilen, mit den Empfindungen der Sin-  
  {Sp. 1023|S. 525}  
  ne zu erforschen, geschiehet umgekehrt. Denn einige Objecte stellen unsern Sinnen weder dasjenige selbst und unmittelbar dar, was wir an ihnen zu erkennen wünschen, noch auch etwas unter alle demjenigen, was wir an ihnen durch die Sinne empfinden, daraus wir das, was wir zu erkennen wünschen, durch untrügliche Folge schliessen könnten.  
  Es ist also solchenfals kein anderes Mittel übrig, zu der gesuchten Erkänntniß, wenigstens so gut es möglich, zu gelangen, als daß man, durch Hülffe des Ingenii, herum dencken, was, in Ermangelung der Gewißheit, vielleicht möglich sey, solche Möglichkeiten als einen Grund supponire, oder annehme, und versuche, ob aus einer oder der andern, vielleicht diejenigen Eigenschafften, Umstände, oder Effecte, die wir an dem Objecte noch durch die Sinne empfinden, durch richtige Folgerungen, sich herleiten lassen möchten.  
  In solchem Bemühen also, die Wahrheit auch in ungewissen Fällen, wenigstens so gut es möglich ist, zu erforschen, kehren wir jenen ersten Proceß, da die Wahrheit mit demonstrativer Gewißheit zu erkennen war, gerade um. Denn da in Dingen, in denen gäntzliche Gewißheit zu haben ist, man mit den Empfindungen der Sinne den Anfang machet, und aus dem Grunde derselben dencket und richtig schliesset: So machet man hingegen in ungewissen Fällen den Anfang mit Dencken, indem man allerley Möglichkeiten suchet, wie vielleicht die Sache seyn könnte; Und versuchet so dann, ob aus einer oder der andern solcher Möglichkeiten das, was man durch die Sinne an dem Objecte empfindet, durch richtiges Schliessen, sich herleiten und begreiffen lassen möchte.  
  Denn alle Wahrheit ist eine Übereinstimmung unserer Urtheile mit dem, was wir durch die Sinne an den Objecten empfinden, und diese Übereinstimmung lässet sich von unserm Verstande auf zweyerley Art finden: Erstlich, wenn wir von demjenigen, was wir an demselben untersuchen, unläugbare Empfindungen der Sinne zu dem Grunde setzen können, und aus diesem Grunde alles, was wir urtheilen, durch unumstößliche Folgen herzuführen wissen. Daß nun diese erste Art, Wahrheit zu finden, angehen möge, darzu wird unstreitig erfordert, daß das Object in Ansehung dessen, was wir an ihm untersuchen, sich den Sinnen würcklich darstelle: Es sey nun unmittelbar, oder mittelbar.  
  Weil aber in sehr vielen höchsten nöthigen und nützlichen Untersuchungen die Objecte weder dasjenige selbst, was wir an ihnen untersuchen, denen Sinnen zu empfinden darstellen, noch auch sonst etwas aufweisen, daraus das, was wir untersuchen, auf einige Art sich nothwendig schliessen lassen solte; Und dahero solchenfalls dieser demonstrative Weg, die Wahrheit zu erfinden, nicht practicable ist: So ist kein anderer übrig, als daß wir den Proceß umkehren, und, da wir keine ungezweiffelten Empfindungen der Sinne haben, mit denen wir anfangen, und daraus Wahr-  
  {Sp. 1024}  
  heit, d.i. mit solchen Empfindungen übereinstimmende Gedancken solten herleiten können, wir hingegen gewisse an sich selbst mögliche Gedancken, deren Einfall eben zu diesem Zwecke dem menschlichen Verstande noch gegeben ist, zu dem Grunde supponiren, und versuchen müssen, ob nicht etwa aus einer, oder der andern solchen Möglichkeit, alles dasjenige, was wir durch die Sinne an dem Object empfinden, durch richtige Folge sich herleiten lassen möchte.  
  Also sind, wie gesagt, zweene Wege, die Übereinstimmung unserer Gedancken mit den Empfindungen der Sinne, d.i. Wahrheit, zu finden: Erstlich, wenn wir aus den Empfindungen der Sinne, als einem an sich selbst ungezweiffelten Grunde, unsere Gedancken herleiten: Zum andern, wenn wir, wo solches sich nicht will thun lassen, an sich selbst nur mögliche Gedancken zu dem Grunde annehmen, und, bey angestelltem Versuche, befinden, daß wir daraus das, was wir noch etwa durch die Sinne an dem Objecte empfinden, durch richtige Schlüsse herleiten können.  
  Da nun alle Gedancken, mit demjenigen, was wir durch die Sinne an den Objecten empfinden, übereinstimmen, Wahrheiten sind; So muß die letztere Art der Gedancken so wohl Wahrheit seyn, als die erstere. Folglich muß die Übereinstimmung einer supponirten Möglichkeit mit demjenigen, was wir durch die Sinne an den Objecten empfinden, ein zuverläßiges Mittel seyn, zu erforschen, ob eine supponirte Möglichkeit vor eine blosse Möglichkeit, oder vor etwas mehreres, nehmlich auch vor eine würckliche Wahrheit, gehalten zu werden verdiene; Nachdem sie nehmlich auf obgedachte Art mit alle demjenigen, was wir durch die Sinne an dem Objecte empfinden, übereinstimmend befunden wird, oder nicht; Und wird eine solche glaubliche Möglichkeit eine vernünfftige Vermuthung, oder Hypothesis, genennet.  
  Denn da keine Falschheit so subtil und versteckt seyn kan, daß sie sich nicht, durch etwa einen Widerspruch, in Absicht auf das, was uns die sinnliche Erfahrung an den Objecten lehret, oder doch wenigstens durch den Mangel gnugsamer Übereinstimmung, verrathen solte. So hat man keine Ursach zu zweiffeln, daß eine durchgängige Übereinstimmung mit alle dem, was wir durch die sinnliche Erfahrung an den Objecten gewahr werden, begabte Möglichkeit, in Ermangelung mehrerer Gewißheit, vor Wahrheit gehalten, und also würcklich geglaubet zu werden, verdiene.  
  Jedoch kan eine solche Wahrheit nicht vor demonstrativ, oder gäntzlich gewiß, geachtet werden. Denn gäntzliche Gewißheit ist eine so ungezweiffelte Versicherung der Wahrheit, daß sie den Verstand völlig überzeuget, daß kein Zweiffel übrig bleibet, indem das Gegenseitige nicht möglich ist. Z.E. Daß GOtt gerecht sey, wissen wir gewiß, d.i. wir haben nicht den geringsten Zweiffel, weil das Gegenseitige, als könnte GOtt ungerecht seyn, unmöglich ist.  
  Bey der Wahrscheinlichkeit hingegen geschiehet keine völlige Überzeugung, in dem noch eine ge-  
  {Sp. 1025|S. 526}  
  genseitige Möglichkeit dabey Statt findet, und daher ein und anderer Zweiffel übrig bleibet. Denn eine Hypothesis, oder Vermuthung, ist erstlich an sich selbst, und ehe sie noch durch befundene Übereinstimmung mit dem, was an dem Object in die Sinne fället, einen Grad der Glaubwürdigkeit erlanget, eine blosse Möglichkeit, welche, ihrer Natur nach, jederzeit eine gleichmäßige Möglichkeit des Gegentheils voraussetzet.  
  Nachgehends, wenn sie auch, durch befundene Übereinstimmung mit dem, was an dem Object in die Sinne fällt, einen gnugsamen Grad der Glaublichkeit erreichet, so wird sie dadurch doch nicht mehr, als eine glaubwürdige, wahrscheinliche, oder vermuthliche Möglichkeit; die also, durch alle ihre Glaubwürdigkeit, nicht aufhöret, als eine Möglichkeit, die Möglichkeit auch des Gegentheils zuzulassen; Obgleich diese letztere nicht, wie jene, zu vermuthen ist. Z.E. Daß man heute Gäste bekommen werde, ist nur wahrscheinlich; Indem, wenn sie gleich geschrieben haben, daß sie heute kommen wollen, ihnen doch etwas in den Weg gekommen seyn kan: Mithin ist es möglich, daß sie nicht kommen. Es ist dahero vor einen Fehler von nicht geringer Wichtigkeit zu achten, auch die wahrscheinlichste Hypothesin, oder Vermuthung, vor demonstrative oder gäntzliche Gewißheit, und folglich das Gegentheil derselben vor unmöglich zu halten.  
  Die Wahrscheinlichkeit muß ihren Grund haben, warum etwas wahrscheinlich, und nicht unwahrscheinlich, oder bloß möglich ist. Damit wir solchen erkennen, so ist zu wissen, daß zu einer Wahrscheinlichkeit drey Stücke erfordert werden.  
  Das eine ist die Meynung, oder der Satz, der als wahrscheinlich erkannt wird, welchen man entweder voraus setzet, und ihn durch gewisse Umstände wahrscheinlich machet; oder man folgert ihn aus den vorher angemerckten Umständen.  
  Das andere sind die Umstände selbst, welche man unmittelbar mit den äusserlichen Sinnen wahrnimmt, gleichwie der Satz, der als wahrscheinlich daraus erkannt wird, nur mit der Vernunft zu ergreiffen, z.E. Bey dem Donner empfinden wir unmittelbahr den Knall, das Prasseln, daß dasselbige bisweilen starck, hefftig; zuweilen aber schwach; wenn wir aber mit den Aristotelicis vermuthen, es käme der Donner daher, daß die Salpetrische und schwefliche Dämpffe, so die Sonne in die Höhe gezogen, sich in den Wolcken entzünden, so ist dieses eine Meynung, oder Hypothesis, die nur mit der Vernunft begriffen wird.  
  Das dritte, als der nächste Grund, kraft dessen eine supponirte Hypothesis vor wahrscheinlich, oder vermuthlich anzunehmen, ist, wie gedacht, die Übereinstimmung derselben mit alle demjenigen, was wir durch die Sinne an dem Object empfinden: Welches alles, was wir an dem Objecte empfinden, wir der Kürtze wegen, die Umstände des Objects nennen wollen. Z.E. Ich vermuthe, oder halte vor wahrscheinlich daß diese Heyrath nicht glücklich ablauffen werde, weil die Manns-Person sehr alt; die Weibs-Person sehr jung; jener ist geitzig und eigensinnig; diese aber wollüstig, frey erzogen, und hat viel Geld vor sich.  
  {Sp. 1026}  
  Solche Übereinstimmung fast keine nothwendige Verknüpffung in sich, daher nur eben eine Wahrscheinlichkeit daraus entstehet. Denn es folget in dem angegebenen Exempel nicht nothwendig, daß ein geitziger Mann und eine wollüstige Frau sich nicht mit einander vertragen könnten.  
  Aus dem gegebenen Exempel siehet man schon, daß eine Hypothesis mit einem Umstande des Objects überein kommt, wenn dieser letztere aus der Hypothesi, als ein Effect aus seiner Ursache, durch richtige Folge, sich schliessen, und solchergestalt die Art und Weise, wie er zugehe, sich erklären lässet. Also ist, z.E. die Copernicanische Hypothesis oder Vermuthung, von dem Systema oder Baue der Welt, allerdings wahrscheinlich, weil alle Umstände, die wir an dem Welt-Gebäude und, dessen Bewegungen wahrnehmen, sich aus derselben, durch richtige Folge herleiten, und in Ansehung der Art und Weise, wie sie zugehen, verstehen lassen.  
  Die Ptolomäische Hypothesis hingegen ist nicht wahrscheinlich, weil unterschiedene wichtige Umstände der Bewegung der grossen Welt- Cörper, insonderheit des Mercurs und der Venus, sich mit derselbigen auf keine Weise zusammen reimen lassen. Z.E. Es kan aus dieser Hypothesi nicht begriffen werden, wie es zugehe, daß die Erdkugel niemahls zwischen der Sonne und dem Mercur, oder der Venus, zu stehen komme.  
  Aus diesem Grunde lässet sich eine wohlgegründete Wahrscheinlichkeit von alle dem wohl unterscheiden, was nicht wahrscheinlich ist, als nehmlich von blosser Möglichkeit, ingleichen von blossen Schein-Gründen, dadurch man zuweilen den offenbaresten und nichtigsten Irrthümern ein Färbgen anstreichen, und dadurch den Augen der Unverständigen ein Blendwerck machen kan.  
  Dahin gehöret, z.E. wenn man, an stat, tüchtiger und in der Natur der Sache selbst zu suchender Gründe, sich auf das eingebildete Ehr- Ansehen der gemeinen Meynungen auf das Vorurtheil des Alterthums, ingleichen des Ehr-Ansehens dieses, oder jenes berühmten Mannes, zu beruffen weiß; wenn man, an statt trifftiger Beweiß-Gründe, durch artige Gleichnisse, Spiele des Ingenii, bewährt gepriesene Sprüchwörter, rednerische Erregungen der Affecten, den Beyfall heraus zu locken gedencket. Denn es ist fast keine Art des nichtigsten Geschwätzes, daß die Urheber derselben, wenn sie es verantworten sollen, nicht durch das übel verstandene und gemißbrauchte Prädicat der Wahrscheinlichkeit noch bey Ehren zu erhalten vermeynen solten.  
  Die Umstände des Objects, auf deren Übereinstimmung mit der Hypothesi die Wahrscheinlichkeit gegründet ist, können von zweyerley Gattung seyn: Einige eräugnen sich an dem Objecte von Natur, und ohne unser Zuthun; andere hingegen durch allerhand, so wohl theoretische, als practische Versuche der Menschen, die man insgemein Experimente nennet. Wer demnach in wahrscheinlichen Wissenschafften etwas leisten will, der muß zuförderst die völlige Historie des Objects, d.i. alles, was sich mit demselben begiebet, nach allen Um-  
  {Sp. 1027|S. 527}  
  ständen innen haben. Denn die Übereinstimmung nicht etwa nur mit einem, oder dem andern, sondern, so viel möglich, mit allen Umständen des Objects, machet eine Hypothesin wahrscheinlich. Wenn es dahero nicht gegeben ist, die Historie eines Objects zulänglich inne zu haben, z.E. einem Privat-Manne die eigentlichen Umstände der Staats-Geschäffte, der wird so weit ihm die Umstände der Sache verborgen sind, kein sattsam gegründetes Urtheil fällen können, was in Ansehung derselben glaublich sey.  
  Hieraus erhellet der Unterschied, zwischen einem demonstrativen und probablen Beweise. In jenem, ist ein eintziger wohlgegründeter und mit demonstrativer Gewißheit schliessender Beweis-Grund, so gut, als tausend: Indem ein jeder, eben weil er demonstrativ ist, die Möglichkeit des Gegentheils ausschliesset. In einem probablen Beweise hingegen, der von der Übereinstimmung der Umstände mit der zu beweisenden Hypothesi hergenommen ist, beweiset ein eintziger Umstand nichts; wenn er auch gleich durch demonstrative Folge aus der Hypothesi hergeleitet werden könnte: Gleichwie auch, wenn gleich alle Umstände des Objects mit demonstrativer Folge aus der Hypothesis hergeleitet werden könnten, die Hypothesis dennoch, durch solche demonstrative Übereinstimmung, nicht demonstrativ, sondern nur höchst wahrscheinlich wird.  
  Denn in der hypothetischen Nothwendigkeit, dergleichen in dieser demonstrativen Übereinstimmung ist, wäre es ein grober Paralogismus, von der Wahrheit und demonstrativen Folge des Nachfolgenden auf eine ebenfalls unstreitige Wahrheit des Vorhergehenden zu schliessen. In einem Beweise demnach, der demonstrativ seyn soll, kan die Vielheit der Gründe, deren man sich bedienet, den Mangel der demonstrativen Folge, der sich bey ihnen eintzeln befindet, auf keine Weise ersetzen: Wohl aber in dem probablen Beweise einer Hypothesis, als in welchem, obgleich aus keinem derer zu dem Beweise angezogenen Umstände des Objects, wenn man nehmlich einen jeden Umstand allein zu dem Beweise annehmen wolte, die Hypothesis weder gewiß noch wahrscheinlich folget, dennoch die Übereinstimmung ihrer aller mit der Hypothesi allerdings eine Wahrscheinlichkeit, die ihren Beyfall verdienet, hervorbringet.  
  Die Hypothesis ist an sich selbst eine Möglichkeit: Und der Brunnquell aller zu erfindenden Möglichkeiten ist das Ingenium. Wer derowegen in Erfindung probabler Wahrheiten etwas sonderbares leisten will, der muß von Natur, nebst einem guten Judicio, mit einem lebhafften Ingenio begabet seyn. Da hingegen zu Beurtheilung der Wahrscheinlichkeit schon erfundener Hypothesium, ingleichen zu Erfindung und Beurtheilung demonstrativer Wahrheiten, ein gutes Judicium, auch ohne besondere Lebhafftigkeit des Ingenii, zur Noth genug ist.  
  Wir sagen zur Noth. Denn bisweilen ist nicht minder ein gutes Ingenium beynöthig, die Wahrscheinlichkeit einer schon erfundenen Hypothesis  
  {Sp. 1028}  
  zu beurtheilen: Indem die Übereinstimmung der Umstände mit der Hypothesi, d.i. ihre Folge aus derselben, nicht allezeit demonstrativ ist, sondern zuweilen auch nur wahrscheinlich, oder möglich seyn kan; Da dann, um sich bald auf die mancherley Möglichkeiten zu finden, wie ein Umstand, als ein Effect, aus der supponirten Hypothesi, als seiner Ursache, vielleicht entstehen konnte, nicht minder gute und ingenieuse Einfälle vonnöthen sind, als zu Erfindung der Haupt-Hypothesis. Rüdiger (de Sens. Ver. et Fals. …) nennet dergleichen Einfälle Neben-Vermuthungen (Hypotheses subsidiarias,) von welchen bald mit mehrerm zu reden seyn wird.  
  Übrigens ist auch überhaupt das Judicium weit activer, alle Arten, so wohl demonstrativer, als probabler Wahrheiten; zu erfinden und zu beurtheilen, wenn es mit einem muntern Ingenium vergesellschafftet ist: Indem alles, was würcklich ist, nothwendig auch möglich seyn muß; Und also ein judiciöser Kopff bey einem lebhafften Ingenio auf alle Arten der Wahrheit überhaupt weit leichter fallen wird, als ein anderer, dessen gutes Judicium durch keine sinnreiche Munterkeit des Ingenii belebet wird.  
  Die Munterkeit und Hurtigkeit des Ingenii in guten Einfällen, die sich mit der von den Frantzosen sogenannten Gegenwärtigkeit des Geistes (Presence d' Esprit) sehr wohl ausdrücken und erklären lässet, nennet Aristoteles (Analyt. Post. …) angchinoian, und spricht von ihr, daß sie eine Glückseligkeit sey, zu beqvemer Zeit und aus dem Stege-Reiffe Mittel und Ursachen zu erfinden. Z.E. Wenn einer an dem Monden wahrnimmt, daß der lichte Theil desselben sich allezeit nach der Sonne kehret; Und ihm fällt alsofort dabey ein, daß der Mond von der Sonnen erleuchtet werde: Ingleichen, wenn einer einen andern mit einem reichen Manne in emsiger Unterhandlung siehet, und gar bald vermuthen kan, was sie vielleicht mit einander reden möchten: Oder, wenn einer siehet, daß Pilatus und Herodes, die ihm beede mit Gewogenheit nicht zum Besten bey gethan sind, schleunig und unverhofft gute Gevattern zusammen werden; Und er brauchet nicht viel Kopf-Brechens, zu errathen, wohin wohl diese neue Freundschafft abzielen möge.  
  Aus dieser Beschreibung und Exempeln ersiehet man, daß Aristoteles, nach seiner gewöhnlichen Scharffsinnigkeit, die ächten Gründe der Wahrscheinlichkeit gar leicht eingesehen haben würde, wenn nicht eines Theils in der Gelehrsamkeit der Demonstrations-Kützel, (Pruritus demonstrandi,) den er sich bey seinem grossen Fleisse in Metaphysicalischen Untersuchungen angewöhnet, andern Theils aber die Dialectic und Redner-Kunst, seiner Zeiten, ihn zu einem weit andern Begriffe von der Wahrscheinlichkeit verleitet hätte.  
  Wenn ein Umstand des Objects mit einer Hypothesi  
  {Sp. 1029|S. 528}  
  nicht übereinstimmend befunden wird, so kan solches auf zweyerley Art geschehen. Denn der Umstand widerspricht entweder der Hypothesi; Oder er widerspricht ihr zwar eben nicht, man kan aber nur nicht absehen, wie es aus der Hypothesi folgen, und also aus derselben, wie er eigentlich zugehe, begriffen werden könne.  
  In dem ersten Falle, da sich nehmlich ein widersprechender Umstand findet, ist die Hypothesis nicht vor wahrscheinlich anzunehmen, sondern vielmehr in Ansehung des Widerspruches, wenn demselben auf keine Weise abzuhelffen ist, als eine demonstrative Falschheit zu verwerffen; Wenn auch gleich sonst sehr viele gar wohl übereinstimmende Umstände sich finden solten.  
  In dem andern Falle hingegen, wenn sich nehmlich nur unverständliche, und schwierige Umstände, an dem Objecte hervorthun, ist ein Unterschied zu machen, ob deren nur etwa einer und der andere, oder aber sehr viele sich zeigen. Wenn dieses letztere ist, so ist die Hypothesis, in Ansehung des so vielfältigen Mangels der Übereinstimmung, vor unwahrscheinlich zu halten; Und zwar mehr, oder weniger, nachdem solche Schwierigkeiten, oder unverständliche Umstände, denen übereinstimmenden oder verständlichen an Anzahl nahe kommen, oder nicht, oder selbige wohl gar übertreffen.  
  Ist aber nur etwa einer, oder der andere unverständlich, und die übrigen stimmen mit der Hypothesi in grosser Anzahl überein: So höret, wegen der Schwierigkeit etwa eines oder weniger Umstände, die Hypothesis nicht so gleich auf, vermuthlich zu seyn; Dieweil solche Schwierigkeit, oder Unverständlichkeit, vielleicht aus dem Mangel des Ingenii, oder daß man etwa der Neben-Umstände eines solchen Umstandes nicht sattsam kundig ist, herrühren kan; Dahero auch offt mit der Zeit, wenn man von solchen Neben-Umständen mehr und mehr Erkundigung einzuziehen, Gelegenheit findet, eine solche Anfangs anscheinende Schwierigkeit sich gar leicht heben lässet: Ob wohl die Beysorge des Gegentheils, durch einen und den andern solchen unverständlichen Umstand, wenn man auf keine Wege siehet, wie ihm abzuhelffen sey, in etwas vermehret werden kan.  
  Die Wahrscheinlichkeit hat dahero ihre unterschiedenen Grade, welches sich auf zweyerley Art zutragen kan, so fern entweder der Grund davon in der Beschaffenheit der Sachen selbst, die erkannt wird; oder in dem Zustande dessen, der sie erkennet, lieget.  
  Nach dem ersten Grunde kommen die verschiedene Grade der Wahrscheinlichkeit von den Umständen der Sachen, die wir erkennen, her, nachdem derselbigen viel oder wenig; wichtig oder geringe sind; ingleichen nachdem gegenseitige Umstände vorhanden, die mit den andern, welche die Wahrscheinlichkeit machen sollen, streiten.  
  Wir können vier Grade setzen: der erste ist, wenn alle Umstände mit einer Meynung, oder Hypothesi durchgehends wohl übereinstimmen, wodurch sie im höchsten Grade wahrscheinlich wird; man kan aber nicht sagen, wie viel der Umstände seyn müssen.  
  {Sp. 1030}  
  Denn es kan bisweilen ein eintziger Umstand eine Wahrscheinlichkeit machen, wenn dieselbige nur aus einem Grunde kan geleitet werden; wenn sich aber mehr Principia angeben lassen, so sind auch mehrere Umstände nöthig; mit welcher Meynung nun alle Umstände überein treffen, dieselbe ist höchst wahrscheinlich, und also mit keiner, oder doch mit sehr geringer Beysorge des Gegentheils, verbunden. Dieser höchste Grad der Wahrscheinlichkeit kommt also der Demonstration ziemlich nahe, in Betrachtung, daß er keine, oder wenige Beysorge des Gegentheils übrig lässet: Er ist aber doch noch Wahrscheinlichkeit, und keine Demonstration, in Ansehung der Art des Beweises, und daß dieser die Möglichkeit des Gegentheils, ob gleich solches Gegentheil gar nicht zu besorgen ist, nicht auszuschliessen vermag.  
  Der andere Grund ist, wenn mit einer Hypothesi die meisten Umstände wohl überein kommen; es stehen aber einige Schwierigkeiten und unverständliche Umstände entgegen, welche damit nicht können vereiniget werden, da denn die Hypothesis nach Proportion solcher Schwierigkeiten in geringerm Grade wahrscheinlich wird.  
  Der dritte ist, wenn so viel wohl übereinstimmende Umstände als Schwierigkeiten, vor eine Meynung sind, welches die zweiffelhaffte Wahrscheinlichkeit ist, die in den Grentzen einer blossen Möglichkeit bleibet; Und man dahero weder sagen kan, daß sie mehr wahrscheinlich, noch, daß sie mehr unwahrscheinlich sey.  
  Und der vierdte, wenn wenigere Umstände mit der Hypothesis wohl übereinstimmen, und mehrere unverständlich sind; In welchem Falle die Hypothesis, nach Proportion ihrer Vielheit, unwahrscheinlich wird.  
  Eigentlich aber zu reden, gehören die beyden letztern Arten nicht hieher. Solche Grade liegen in der Sache selbst und ihren Umständen; Es können aber auch Grade der Wahrscheinlichkeit seyn, welche in dem Zustande derer, die sie erkennen, liegen, wenn man zweyerley Meynungen hat, davon die eine wahrscheinlicher ist, als die andere.  
  Wenn man einen Umstand findet, welcher der Hypothesi widerspricht, so ist diese nicht bloß unwahrscheinlich, sondern unmöglich, oder demonstrative falsch.  
  Es kan sich auch begeben, daß zwey Hypotheses entweder mit allen, oder mit den meisten Umständen des Objects, mit gleicher Leichtigkeit übereinstimmen: welches Rüdiger (de Sens. Ver. et Falsi …) die zweiffelhaffte Wahrscheinlichkeit (probabilitatem ambiguam) nennet. Dergleichen zwo Hypotheses sind zwar andern möglichen Hypothesibus, zwischen denen und den Umständen des Objects keine so gute Übereinstimmung ist, als wahrscheinlicher vorzuziehen: Wenn man sie aber gegen einander selbst betrachtet; so bleibet man, in Ansehung der Gleichheit der Übereinstimmung, in dem Zweiffel, welche von beyden man vor der andern vermuthlich zu seyn, urtheilen solle: Dahero sie, solange sich nicht etwan bey einer von beyden eine bessere Übereinstimmung findet, als gleichgültige Möglichkeiten gegen einander  
  {Sp. 1031|S. 529}  
  anzusehen sind.  
  Dergleichen zweyfache, oder zweiffelhaffte Wahrscheinlichkeit zweyer Hypothesen, thut sich insonderheit sehr offt in den Geschäfften der Menschen hervor: Und muß man nicht meynen, daß sie deßwegen, weil sie das Gemüth zwischen zweyen Hypothesibus in Zweiffel lässet, gantz unnütz, oder vergeblich sey. Denn es ist doch wenigstens schon ein grosser Vortheil, denn unter einer Menge von Möglichkeiten, die sich begeben können, man zwo oder weniger, vor andern wahrscheinlich findet: Indem in dem Zweiffel man allenfalls auf beyde sich gefaßt halten kan; Wenn bey aller bedachtsamen Überlegung der Umstände, bey keiner von beyden ein Ausschlag mehrerer Wahrscheinlichkeit sich geben will.  
  Bey dieser Art der Wahrscheinlichkeit muß man erstlich genau untersuchen, ob auch würcklich auf beyden Seiten gleich viel Umstände übereinstimmen, und gleich viel, oder gleich wichtige Schwierigkeiten sich finden: Denn wenn dieses nicht würcklich so seyn solte, so hört das Zweiffelhaffte auf, und man erwehlet das Wahrscheinlichste, mit Verwerffung des übrigen, denn eine grössere Wahrscheinlichkeit macht, daß die kleinere unwahrscheinlich wird, so, wie die unstreitige Wahrheit die ihr entgegen gesetzte vermeynte Wahrscheinlichkeit zu der Unwahrheit macht. Dieses ist der Haupt-Fehler in der Jesuittischen Lehre von dem Probabilismus, daß sie die kleinere Wahrscheinlichkeit der grössern, und gar die Wahrscheinlichkeit der unstreitigen Wahrheit vorziehen.  
  Zweytens, solte sich aber würcklich finden, daß beyde Hypotheses gleich viele Gründe vor sich hätten, so muß man versuchen, ob man nicht den Zweiffel heben, und eine vor der andern wahrscheinlicher machen könne: Weil uns der Verstand nicht zu dem Zweiffeln, sondern zu der Erkänntniß der Wahrheit gegeben worden ist. Solches geschiehet, wenn man aus beyden schliesset, und Achtung giebt, welche Schlüsse durch die Erfahrung bekräfftiget werden.  
  Drittens, ist dieses nicht möglich, so lässet man, wie man zu reden pfleget, die Sache an seinen Ort gestellet seyn. Man kan vor sich wohl eine Hypothesin erwählen, dabey man in dem Nachdencken, oder in seinen Handlungen, am sichersten zu seyn denckt; Andern Leuten aber muß man die Freyheit lassen, daß sie die andere annehmen, oder gar nichts bestimmen: Am wenigsten aber darff man sich unterstehen, andere aus seiner Hypothesi zu widerlegen, oder, weil  
  {Sp. 1032}  
  sie eine andere angenommen haben, solche deßwegen vor Unwissende, oder Ketzer, erklären, welches ein gemeiner Fehler der Pedanten, Sprach-Richter und GOttes-Gelehrten ist.  
  Es kan sich ferner zutragen, daß bey einer Sache nicht mehr, als eine eintzige Hypothesis, erdacht werden kan; Welches alsdenn eine Wahrscheinlichkeit kat' anthropon genennet wird. Bey dieser hat man weiter nichts zu beobachten, als daß man gewiß versichert sey, es könne nur eine Hypothesis ausgedacht werden, welche doch mit den Umständen übereinstimme, und daß man diese Wahrscheinlichkeit nicht mit der unstreitigen Wahrheit vermische.  
  Zuweilen widerspricht ein Umstand der Sache einer sonst guten und mit allen andern Umständen wohl übereinstimmenden Hypothesi nur zu dem Scheine: Indem alle Ideen und Propositionen, unter denen ein wahrhaffter Widerspruch seyn soll, allen Umständen nach, in einerley Absehen, oder Betrachtung, genommen werden müssen; Und es sich leicht begeben kan, daß entweder von der an sich selbst guten Hypothesi, oder von dem Umstand, der ihr zu widersprechen scheinet, etwa ein kleiner Neben-Umstand unbekannt ist, welcher, wenn er entweder durch Hülffe des Ingenii, oder durch genauere Erfahrung, sich endlich findet, der Widerspruch, oder auch die Schwierigkeit, hinwegfällt.  
  Dahero folget, daß man dem anscheinenden Widerspruche, oder auch nur der Schwierigkeit eines Umstandes, zuweilen dadurch abhelffen, und also die Wahrscheinlichkeit der Hypothesis, sicherer und vollkommener machen könne, wenn man zu der Hypothesi einen an sich selbst möglichen Zusatz, oder zu dem widersprechenden oder schwierigen Umstande, eine eigene Hypothesin, oder probable Raison zu finden weiß, vermittelst deren, wenn man sie setzet, der Widerspruch, oder die Schwierigkeit hinweg falle.  
  Dergleichen Zusatz, oder Neben-Hypothesin nennet Rüdiger (de Sens. Ver. et Fals. …) wie bereits oben gedacht ist, Hypothesin subsidiariam: Und erhellet aus der Natur der Wahrscheinlichkeit überhaupt, daß dergleichen Zusatz, oder Neben-Hypothesis, wenn sie anders vor wahrscheinlich, und nicht vor eine blosse Möglichkeit, oder Gedicht paßiren soll, nicht etwa nur mit dem unverständlichen, oder dem Scheine nach widersprechenden Um-  
  {Sp. 1033|S. 530}  
  stande, wegen welches sie angenommen wird, sondern auch mit den andern Umständen des Objects, so gut, als die Haupt-Hypothesis, übereinkommen müsse.  
  Wenn derowegen bey einer sonst wahrscheinlichen Hypothesi sich noch eine und andere Schwierigkeiten finden; so ist solches eine Anzeige, daß entweder die Hypothesis vielleicht noch unvollkommen, und zu derselben noch etwas hinzu zu thun sey; Oder, daß man vielleicht von den Neben-Umständen des mit der Hypothesi noch nicht zum besten übereinkommenden Haupt-Umstandes nicht gnugsame Erfahrung habe; Oder auch, daß ein solcher Umstand vielleicht seine eigene besondere Raison habe.  
  Dahero, wie schon erwehnet worden ist, die Wahrscheinlichkeit solchenfals nicht alsobald hinwegfällt, sondern etwa dem Grade nach in etwas vermindert wird. Also bleibet, z.E. bey der Copernicanischen Hypothesi von dem Welt-Gebäude, aus welcher sonst alle Umstände des Himmels-Lauffs sich ungemein wohl verstehen lassen, diese eintzige Schwierigkeit übrig, daß, wenn die Erdkugel einmahl an einem Puncte ihrer Bahn, in welcher sie sich um die Sonne herum beweget, daß anderemahl an dem andern entgegen gesetzten Puncte derselben, stünde, die Fix-Sterne, in Ansehung des Diameters der gedachten Bahn, eine merckliche Parallaxin haben müsten: welches doch mit der Erfahrung nicht übereinstimmet.  
  Diesen Zweiffel zu heben, hat Copernicus eine so unermeßliche Entfernung der Fix-Sterne von der Erd-Kugel supponiret und zu Hülffe genommen, daß, in Ansehung derselben, der Diameter der Erdbahn nur für einen Punct zu halten, und daher die Parallaxis eines Fix-Sterns unmercklich sey: Immassen die Parallaxis eines Sternes immer kleiner ist, je weiter er von der Erden abstehet, und also, durch die Weite der Entfernung, endlich unmercklich werden muß. Weil nun diese unermeßliche Entfernung der Fix- Sterne aus einer Menge von Umständen sehr wohl zu erweisen ist; so ist sie allerdings als eine gute Neben-Hypothesis zu billigen, aus welcher der obgedachten Schwierigkeit gar wohl abzuhelffen ist.  
  Hingegen wenn, zur Ablehnung der Schwierigkeiten, die sich mit der Ptolomäischen Hypothesi, in grosser Menge, nicht zusammen reimen lassen wollen, von den Vertheidigern derselben, supponiret wird, daß an den grossen Circkeln, welche die Sterne in ihrem Umlauffe um die Erde beschreiben, andere kleine, die sie Epicyclos nennen, zu finden, welche sie, neben den grossen, mit umlauffen müsten, so siehet man leicht, daß die Supponirung dieser Epicyclorum keine gute und wahrscheinliche Neben-Hypothesis, sondern ein blosses Gedicht sey: indem nicht allein diese supponirten Epicycli mit keinem andern Umstand erwiesen werden können, als auf das höchste mit denjenigen, wegen welcher sie aus Noth supponiret worden; sondern auch, wenn man sie gleich einräumen wolte, andere noch weit mehrere Schwierigkeiten daraus entstehen, denen auch, durch alle neue zu Hülffe genommenen Neben-Umstände, nicht einmahl abzuhelffen ist.  
  Übrigens ist bey der Wahrscheinlichkeit zu mercken, daß man zuweilen aus einem  
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  wahrscheinlichen Satze, nach den unstreitigen Arten zu schliessen, andere folgern kan, welche man deswegen nicht vor unstreitig halten darff. Ingleichen kan man auch die wahrscheinlichen Sätze, vermittelst der Urtheilungs-Krafft, durch Eintheilungen finden und vortragen, so wird es Unverständigen vorkommen, als wenn man demonstrirte.  
  Man nimmt nehmlich einen allgemeinen Satz, der aus Metaphysicalischen Begriffen bestehet, und die Ursach, die das Wesen eines Dinges von weitem auf eine unstreitige Art anzeiget, und zwar mit Unterschied; (disjunctive) Hernach räumt man das eine Glied des Unterschiedes, oder der Eintheilungen, durch eine widersprechende Erfahrung, (Phoenomenon, sensio contradicens) aus dem Wege, und behauptet also das andere; dieses theilet man wieder ein, und räumet wiederum eins davon weg, damit man das andere behaupte; biß man endlich, durch verschiedene Eintheilungen und Hinwegräumungen, zu der nächsten Hypothesi von der Ursache, Wesen, oder Beschaffenheit eines Dinges kommt, dabey man in dem Gemüthe einige Beruhigung und Gewißheit findet, dergleichen man bey einer Wahrscheinlichkeit haben kan. (Hypothetica certitudo)  
  Die Lehre der Wahrscheinlichkeit ist eine der allernöthigsten und nützlichsten, sowohl in dem gemeinen Leben, als in der Gelehrsamkeit, besonders in der Philosophie. Denn wie das meiste Thun und Lassen der Menschen aufs künftige gehet, daß man den Schaden abwenden, und das nützliche erlangen will, folglich die Haupt-Affecten, womit die menschlichen Gemüther eingenommen, Furcht und Hoffnung sind, also können diese nicht vernünfftig eingerichtet werden, wenn man nicht weiß, das wahrscheinliche von dem blos möglichen zu unterscheiden: denn vernünfftig ist die Hoffnung, wenn man ein wahrscheinlich zu erwartendes Gut hoffet; die Furcht hingegen, wenn man wegen eines wahrscheinlich zu besorgenden Übels bekümmert ist, mithin ist es unvernünfftig, woferne man blos mögliche Dinge entweder hoffet, oder fürchtet, wodurch man sein Gemüthe beunruhiget, und sein Leben unglücklich macht.  
  Solchen Nutzen hat auch die Lehre von der Wahrscheinlichkeit in der Gelehrsamkeit. Denn ein grosser Theil der Wahrheiten, die wir zu erkennen haben, sind wahrscheinlich, und daß wir der andern Facultäten nicht gedencken, so ist dieses von der Philosophie ausgemacht, welches diejenigen, die in einem pruritu demonstrandi stecken, zu mercken haben. Dieses werden wir deutlicher sehen, wenn wir insbesondere die verschiedenen Arten der Wahrscheinlichkeit durchgehen.  
     

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HIS-Data 5028-52-1020-7-01: Zedler: Wahrscheinlichkeit [1] HIS-Data Home
Stand: 7. April 2013 © Hans-Walter Pries