|
Text |
Quellenangaben |
|
Wahrscheinlichkeit, oder Probabilität,
Lat.
Probabilitas, Verisimilitudo, Verosimilitudo,
Fr.
Vraysemblence, ist eine
Möglichkeit, deren
Würcklichkeit, in Ansehung ihrer durchgängigen
Übereinstimmung mit den in die
Sinne fallenden
Umständen des Objects, zu
vermuthen ist. |
|
|
Oder, sie ist eine
Wahrheit, die nicht durch
unläugbare
Empfindungen der Sinne
erkennet,
noch aus denselben unumstößlich geschlossen
werden kan, sondern anfänglich nur als eine
Möglichkeit supponiret wird, welche jedoch
nachgehends, aus dem
Grunde ihrer
Übereinstimmung mit alle dem, was wir, durch die
Sinne, an dem Objecte gewahr werden, vor
würcklich, oder wahr, gehalten zu werden
verdienet, jedoch also, daß wir die Möglichkeit des
Gegentheils nicht gantzlich abzulehnen
vermögen. |
|
|
Es kan dergleichen Wahrscheinlichkeit nicht
in
GOtt, sondern nur in uns
Menschen, Statt
haben. |
|
|
Bey der Abhandlung dieser
Materie, wollen
wir vorhero eine kurtze
Historie dieser Lehre
geben, hierauf die
Sache selbst beschreiben, und
endlich die verschiedenen
Arten durchgehen.¶ |
|
|
|
|
|
I Historie der Lehre von der
Wahrscheinlichkeit.¶ |
|
|
Bey der Historie dieser Lehre ist zu mercken,
daß die
Philosophen vor des
Aristoteles
Zeiten
von dieser Art der Wahrheit nichts gelehret, in
dem man es nur bey der
Kunst, Vernunfft-Schlüsse zu machen, bewenden ließ.
Aristoteles
selbst machte einen Unterscheid unter der
Analytic und Dialectic, davon jene von der
Demonstration handele, und mit der gantz
gewissen Wahrheit beschäfftiget sey; diese aber
zeige, wie man einen wahrscheinlichen
Schluß
machen müsse, wiewohl dieses
Wort auf
verschiedene Art ist genommen worden. |
|
|
Es suchte dieser Philosophe den Grund der
Wahrscheinlichkeiten in der
Meynung anderer
Leute. Denn er sagte, dasjenige sey
wahrscheinlich, was allen, oder den meisten; oder
den klugen, und von diesen entweder allen oder
den meisten; oder den vornehmsten also schiene,
wie aus Lib. I. Topic. c. 1. zu ersehen, welches in
der
That ein schlechter
Begriff von der
Wahrscheinlichkeit war. Denn sie ist eine Art der
Wahrheit; die Wahrheit aber kommt nicht auf die
Meynung anderer Leute an, wenn es gleich kluge
und vornehme Leute sind, die sich ebenfalls
betrügen und irren können. |
|
|
Inzwischen ist schon dabey geblie- |
|
|
{Sp. 1021|S. 524} |
|
|
ben, so lange die Aristotelische Philosophie
im Schwange war, daß also diese Lehre lange
Zeit ununtersuchet bliebe. |
|
|
Zu den neuern Zeiten ist sie von den neuern
Logicis sorgfältiger abgehandelt worden, wiewohl
sie nicht alle auf einerley Art die Sache
vorgetragen haben. |
|
|
Gassendus meynte, es käme die
Wahrscheinlichkeit darauf an, daß sie mehr
Deutlichkeit, als Dunckelheit habe; wie aus seinen
instit. logic. … zu ersehen ist, welcher aber die
Sache nicht getroffen. Denn wenn man das
eigentliche
Wesen der Wahrscheinlichkeit zeigen
will, so muß man weisen, wie sie von der gantz
gewissen Wahrheit unterschieden; nun aber kan
man auch von dieser sagen, sie habe mehr
Deutlichkeit als Dunckelheit. Er unterscheidet wohl
das wahrscheinliche von dem
unwahrscheinlichen, welches mehr Dunckelheit als
Deutlichkeit hat, so aber noch nicht hinlänglich zu
einem richtigen und vollständigen Begriffe von der
Wahrscheinlichkeit. |
|
|
So ist es auch noch andern ergangen. Denn
wenn Locke de intellectu humano … saget, man
hätte einen doppelten
Grund der
Wahrscheinlichkeit, davon der eine die
Übereinstimmung einer ieglichen
Sache mit
unserer
Erfahrung; der andere das Zeugniß
anderer sey, so sind diese Gründe zwar richtig;
aber nicht hinlänglich, alle Arten der
Wahrscheinlichkeiten daraus zu erklären, wie aus
dem folgenden wird zu ersehen seyn. |
|
|
Thomasius in philosophia aulica … nennet sie
einen
Beweiß eines
Satzes vermittelst einer nicht
nothwendigen Verknüpffung mit dem erstern
Criterio der Wahrheit, und in der Einleitung der
Vernunfft-Lehre … giebt er zwey Criteria der
Probabilität an: das erste sey eines andern
Erfahrung, der sich nicht betrogen habe, auch
andere nicht betriegen wolle, daß, je stärcker das
Vertrauen oder die Furcht, je wahrscheinlicher
oder unwahrscheinlicher käme die Sache für; das
andere wäre der eigne Concept, der nicht von
allen, aber doch von etlichen Individuis
hergenommen werde, es sey nun von vielen; oder
von wenigen, welcher Concept nichts anders sey,
als der Concept der Accidentien, die der Essentz
entgegen gesetzet wären. |
|
|
Denn weil deren etliche so beschaffen, daß
sie bey vielen Individuis die unter einer
Idee
begriffen wären, angetroffen würden, so werde in
Zweiffel geschlossen, daß sie auch bey den
andern sich befinden müsten, biß daß man das
Gegentheil behaupte. Die nun bey vielen
anzutreffen wären, machten eine
Wahrscheinlichkeit, und wären dem allgemeinen
Satz am nächsten; die aber nur bey wenigen, oder
nur einem zu finden, machten eine
Unwahrscheinlichkeit. |
|
|
Clericus in logica … meinet, die
Wahrscheinlichkeit beruhe auf das Ansehen
anderer, auf die Beschaffenheit der Sache, auf
unsere
Erkenntniß und Erfahrung, auf die
Beschaffenheit des
Gemüths, und auf die
Vernunfft-Schlüsse. |
Man lese, was Walch in der histor. logic. …
hiervon weiter angeführet hat.¶ |
|
|
|
|
II. Lehre von der Wahrscheinlichkeit
überhaupt.¶ |
|
|
So sehr man wohl wünschen möchte,
daß |
|
|
{Sp. 1022} |
|
|
alle nützliche Wahrheiten mit demonstrativer
Gewißheit erkennet werden mögen: So lassen
doch solches die von
GOtt der
menschlichen
Vernunfft gesetzten Grentzen nicht zu. Jedoch
finden wir dieses Unvermögen des menschlichen
Verstandes, durch die ihm
verliehene
Krafft des
Ingenii nothdürfftig ersetzet: Als durch welche
Krafft er anfänglich in dem
Stande ist, in den
Fällen, da er durch die
Empfindung der
Sinne, und
daher geleitete untrügliche Folgerungen, keiner
gewissen und ungezweiffelten Wahrheit mächtig
ist, allerhand Möglichkeiten zu ersinnen;
Immassen auch einem jeden die Erfahrung lehren
wird, daß, wo er alles Grundes der Gewißheit sich
beraubet siehet, und gleichwohl von der wahren
Bewandniß einer Sache
Wissenschafft zu haben
von nöthen hat, er, durch die natürliche Führung
der Vernunfft, auf allerhand Einfälle geleitet
werde, was, in Ermangelung der Gewißheit,
vielleicht seyn könne, oder allenfalls möglich
sey. |
|
|
Weil aber dennoch dergleichen
Möglichkeit
noch keine
Wahrheit ist; Indem die
Natur des blos
möglichen darinnen bestehet, daß es je so schier
auch nicht seyn könne, als es seyn kan; Und also
die Wissenschafft, daß etwas möglich sey, ohne
zu
wissen, ob es auch
würcklich wahr sey, von
schlechtem
Unterricht und
Nutzen ist: So ist bey
allen dergleichen Einfällen, oder durch das
Ingenium ersonnenen Möglichkeiten, nun ferner
zu erwegen, ob nicht hinter einer und der andern
etwas mehrers und zuverläßlicheres, als blosse
Möglichkeit, stecke: Da dann, wann wir
bedencken, daß alles, was wahr, oder würcklich
ist, nothwendig auch möglich seyn müsse,
(obgleich nicht umgekehrt;) nothwendig erfolget,
daß also einige Möglichkeiten nicht blosse
Möglichkeiten, sondern unter denselben auch
würckliche Wahrheiten seyn müssen; Und daß
also alle Wahrheiten, die der Verstand aus den
Gründen gäntzlicher Gewißheit zu erreichen
unfähig ist, nothwendig unter der
Zahl der
Möglichkeiten zu suchen seyn müssen. |
|
|
Aber wie und durch was vor
Mittel sind sie
wohl aus der so unendlichen Zahl der
Möglichkeiten heraus zu lesen? Unstreitig muß
wohl dieses aus der Natur der Wahrheit
beurtheilet werden. Die Wahrheit nun ist eine
Übereinstimmung unserer
Urtheile d.i. unserer
Bejahungen und Verneinungen, mit dem, was wir
durch die
Sinne an den Objecten
empfinden.
Diese Übereinstimmung aber kan auf zweyerley
Art gefunden werden. |
|
|
Denn in einigen
Dingen können wir von den
Empfindungen der Sinne den Anfang machen,
und durch dieselben, als einen unumstößlichen
Grund, die
Würcklichkeit dessen, was wir
urtheilen, entweder unmittelbahr zeigen, oder
doch aus denselben, vermittelst richtiger
Folgerungen, schliessen. Dieses ist der
ordentliche Weg, die Wahrheit mit demonstrativer
Gewißheit zu erkennen, da wir nehmlich von den
Sinnen, als dem ersten Grunde derselben, den
Anfang machen, und aus denselben die Wahrheit,
durch richtige und untrügliche Folge
herleiten. |
|
|
Die andere Art, die Übereinstimmung dessen,
was wir urtheilen, mit den Empfindungen der Sin-
|
|
|
{Sp. 1023|S. 525} |
|
|
ne zu erforschen, geschiehet umgekehrt.
Denn einige Objecte stellen unsern Sinnen weder
dasjenige selbst und
unmittelbar dar, was wir an
ihnen zu
erkennen wünschen, noch auch etwas
unter alle demjenigen, was wir an ihnen durch
die Sinne empfinden, daraus wir das, was wir zu
erkennen wünschen, durch untrügliche Folge
schliessen könnten. |
|
|
Es ist also solchenfals kein anderes
Mittel
übrig, zu der gesuchten
Erkänntniß, wenigstens
so gut es möglich, zu gelangen, als daß man,
durch Hülffe des Ingenii, herum dencken, was, in
Ermangelung der Gewißheit, vielleicht möglich
sey, solche Möglichkeiten als einen Grund
supponire, oder annehme, und versuche, ob aus
einer oder der andern, vielleicht diejenigen
Eigenschafften,
Umstände, oder
Effecte, die wir
an dem Objecte noch durch die Sinne empfinden,
durch richtige Folgerungen, sich herleiten lassen
möchten. |
|
|
In solchem Bemühen also, die Wahrheit auch
in ungewissen Fällen, wenigstens so gut es
möglich ist, zu erforschen, kehren wir jenen ersten
Proceß, da die Wahrheit mit demonstrativer
Gewißheit zu erkennen war, gerade um. Denn da
in
Dingen, in denen gäntzliche
Gewißheit zu
haben ist, man mit den Empfindungen der Sinne
den Anfang machet, und aus dem Grunde
derselben dencket und richtig schliesset: So
machet man hingegen in ungewissen Fällen den
Anfang mit Dencken, indem man allerley
Möglichkeiten suchet, wie vielleicht die Sache
seyn könnte; Und versuchet so dann, ob aus einer
oder der andern solcher Möglichkeiten das, was
man durch die Sinne an dem Objecte empfindet,
durch richtiges Schliessen, sich herleiten und
begreiffen lassen möchte. |
|
|
Denn alle Wahrheit ist eine
Übereinstimmung
unserer
Urtheile mit dem, was wir durch die
Sinne
an den Objecten empfinden, und diese
Übereinstimmung lässet sich von unserm
Verstande auf zweyerley Art finden: Erstlich, wenn
wir von demjenigen, was wir an demselben
untersuchen, unläugbare
Empfindungen der Sinne
zu dem
Grunde setzen können, und aus diesem
Grunde alles, was wir urtheilen, durch
unumstößliche Folgen herzuführen wissen. Daß
nun diese erste Art, Wahrheit zu finden, angehen
möge, darzu wird unstreitig erfordert, daß das
Object in Ansehung dessen, was wir an ihm
untersuchen, sich den Sinnen
würcklich darstelle:
Es sey nun
unmittelbar, oder mittelbar. |
|
|
Weil aber in sehr vielen höchsten nöthigen
und nützlichen Untersuchungen die Objecte weder
dasjenige selbst, was wir an ihnen untersuchen,
denen Sinnen zu empfinden darstellen, noch auch
sonst etwas aufweisen, daraus das, was wir
untersuchen, auf einige Art sich nothwendig
schliessen lassen solte; Und dahero solchenfalls
dieser demonstrative Weg, die Wahrheit zu
erfinden, nicht practicable ist: So ist kein anderer
übrig, als daß wir den Proceß umkehren, und, da
wir keine ungezweiffelten Empfindungen der
Sinne haben, mit denen wir anfangen, und daraus
Wahr- |
|
|
{Sp. 1024} |
|
|
heit, d.i. mit solchen Empfindungen
übereinstimmende
Gedancken solten herleiten
können, wir hingegen gewisse an sich selbst
mögliche Gedancken, deren Einfall eben zu
diesem
Zwecke dem menschlichen Verstande
noch gegeben ist, zu dem Grunde supponiren,
und versuchen müssen, ob nicht etwa aus einer,
oder der andern solchen Möglichkeit, alles
dasjenige, was wir durch die Sinne an dem Object
empfinden, durch richtige Folge sich herleiten
lassen möchte. |
|
|
Also sind, wie
gesagt, zweene Wege, die
Übereinstimmung unserer Gedancken mit den
Empfindungen der Sinne, d.i. Wahrheit, zu finden:
Erstlich, wenn wir aus den Empfindungen der
Sinne, als einem an sich selbst ungezweiffelten
Grunde, unsere Gedancken herleiten: Zum
andern, wenn wir, wo solches sich nicht will thun
lassen, an sich selbst nur mögliche Gedancken zu
dem Grunde annehmen, und, bey angestelltem
Versuche, befinden, daß wir daraus das, was wir
noch etwa durch die Sinne an dem Objecte
empfinden, durch richtige
Schlüsse herleiten
können. |
|
|
Da nun alle Gedancken, mit demjenigen, was
wir durch die Sinne an den Objecten empfinden,
übereinstimmen, Wahrheiten sind; So muß die
letztere
Art der Gedancken so wohl Wahrheit
seyn, als die erstere. Folglich muß die
Übereinstimmung einer supponirten Möglichkeit
mit demjenigen, was wir durch die Sinne an den
Objecten empfinden, ein zuverläßiges Mittel seyn,
zu erforschen, ob eine supponirte Möglichkeit vor
eine blosse Möglichkeit, oder vor etwas mehreres,
nehmlich auch vor eine würckliche Wahrheit,
gehalten zu werden verdiene; Nachdem sie
nehmlich auf obgedachte Art mit alle demjenigen,
was wir durch die Sinne an dem Objecte
empfinden, übereinstimmend befunden wird, oder
nicht; Und wird eine solche
glaubliche Möglichkeit
eine vernünfftige Vermuthung, oder
Hypothesis,
genennet. |
|
|
Denn da keine Falschheit so subtil und
versteckt seyn kan, daß sie sich nicht, durch etwa
einen Widerspruch, in Absicht auf das, was uns
die sinnliche
Erfahrung an den Objecten lehret,
oder doch wenigstens durch den Mangel
gnugsamer Übereinstimmung, verrathen solte. So
hat man keine
Ursach
zu zweiffeln, daß eine durchgängige Übereinstimmung mit alle dem, was wir durch
die sinnliche Erfahrung an den Objecten gewahr werden, begabte Möglichkeit, in
Ermangelung mehrerer Gewißheit, vor Wahrheit gehalten, und also
würcklich
geglaubet zu werden,
verdiene. |
|
|
Jedoch kan eine solche
Wahrheit nicht vor
demonstrativ, oder gäntzlich gewiß, geachtet
werden. Denn gäntzliche Gewißheit ist eine so
ungezweiffelte Versicherung der Wahrheit, daß sie
den Verstand völlig überzeuget, daß kein Zweiffel
übrig bleibet, indem das Gegenseitige nicht
möglich ist. Z.E. Daß
GOtt gerecht sey, wissen wir
gewiß, d.i. wir haben nicht den geringsten
Zweiffel, weil das Gegenseitige, als könnte GOtt
ungerecht seyn, unmöglich ist. |
|
|
Bey der Wahrscheinlichkeit hingegen
geschiehet keine völlige Überzeugung, in dem
noch eine ge- |
|
|
{Sp. 1025|S. 526} |
|
|
genseitige Möglichkeit dabey Statt findet, und
daher ein und anderer Zweiffel übrig bleibet. Denn
eine Hypothesis, oder Vermuthung, ist erstlich an
sich selbst, und ehe sie noch durch befundene
Übereinstimmung mit dem, was an dem Object in
die Sinne fället, einen Grad der
Glaubwürdigkeit
erlanget, eine blosse Möglichkeit, welche, ihrer
Natur nach, jederzeit eine gleichmäßige
Möglichkeit des Gegentheils voraussetzet. |
|
|
Nachgehends, wenn sie auch, durch
befundene Übereinstimmung mit dem, was an
dem Object in die Sinne fällt, einen gnugsamen
Grad der Glaublichkeit erreichet, so wird sie
dadurch doch nicht mehr, als eine glaubwürdige,
wahrscheinliche, oder vermuthliche Möglichkeit;
die also, durch alle ihre Glaubwürdigkeit, nicht
aufhöret, als eine Möglichkeit, die Möglichkeit
auch des Gegentheils zuzulassen; Obgleich diese
letztere nicht, wie jene, zu vermuthen ist. Z.E. Daß
man heute Gäste bekommen werde, ist nur
wahrscheinlich; Indem, wenn sie gleich
geschrieben haben, daß sie heute kommen
wollen, ihnen doch etwas in den Weg gekommen
seyn kan: Mithin ist es möglich, daß sie nicht
kommen. Es ist dahero vor einen Fehler von nicht
geringer Wichtigkeit zu achten, auch die
wahrscheinlichste
Hypothesin, oder Vermuthung,
vor demonstrative oder gäntzliche Gewißheit, und
folglich das Gegentheil derselben vor unmöglich
zu halten. |
|
|
Die Wahrscheinlichkeit muß ihren
Grund
haben, warum etwas wahrscheinlich, und nicht
unwahrscheinlich, oder bloß möglich ist. Damit wir
solchen
erkennen, so ist zu wissen, daß zu einer
Wahrscheinlichkeit drey Stücke erfordert
werden. |
|
|
Das eine ist die
Meynung, oder der Satz, der
als wahrscheinlich erkannt wird, welchen man
entweder voraus setzet, und ihn durch gewisse
Umstände wahrscheinlich machet; oder man
folgert ihn aus den vorher angemerckten
Umständen. |
|
|
Das andere sind die Umstände selbst, welche
man unmittelbar mit den äusserlichen Sinnen
wahrnimmt, gleichwie der Satz, der als
wahrscheinlich daraus erkannt wird, nur mit der
Vernunft zu ergreiffen, z.E. Bey dem Donner
empfinden wir unmittelbahr den Knall, das
Prasseln, daß dasselbige bisweilen starck, hefftig;
zuweilen aber schwach; wenn wir aber mit den
Aristotelicis vermuthen, es käme der Donner daher,
daß die Salpetrische und schwefliche Dämpffe, so
die Sonne in die Höhe gezogen, sich in den
Wolcken entzünden, so ist dieses eine Meynung,
oder Hypothesis, die nur mit der Vernunft begriffen
wird. |
|
|
Das dritte, als der nächste Grund, kraft
dessen eine supponirte Hypothesis vor
wahrscheinlich, oder vermuthlich anzunehmen, ist,
wie gedacht, die Übereinstimmung derselben mit
alle demjenigen, was wir durch die Sinne an dem
Object empfinden: Welches alles, was wir an dem
Objecte empfinden, wir der Kürtze wegen, die
Umstände des Objects nennen wollen. Z.E. Ich
vermuthe, oder halte vor wahrscheinlich daß diese
Heyrath nicht glücklich ablauffen werde, weil die
Manns-Person sehr alt; die
Weibs-Person sehr
jung; jener ist geitzig und eigensinnig; diese aber
wollüstig, frey erzogen, und hat viel
Geld vor
sich. |
|
|
{Sp. 1026} |
|
|
Solche Übereinstimmung fast keine
nothwendige Verknüpffung in sich, daher nur
eben eine Wahrscheinlichkeit daraus entstehet.
Denn es folget in dem angegebenen Exempel
nicht nothwendig, daß ein geitziger Mann und eine
wollüstige
Frau sich nicht mit einander vertragen
könnten. |
|
|
Aus dem gegebenen Exempel siehet man
schon, daß eine Hypothesis mit einem Umstande
des Objects überein kommt, wenn dieser letztere
aus der Hypothesi, als ein
Effect aus seiner
Ursache, durch richtige Folge, sich schliessen,
und solchergestalt die Art und Weise, wie er
zugehe, sich erklären lässet. Also ist, z.E. die
Copernicanische Hypothesis oder Vermuthung,
von dem Systema oder
Baue der
Welt, allerdings
wahrscheinlich, weil alle Umstände, die wir an
dem Welt-Gebäude und, dessen
Bewegungen
wahrnehmen, sich aus derselben, durch richtige
Folge herleiten, und in Ansehung der Art und
Weise, wie sie zugehen, verstehen lassen. |
|
|
Die Ptolomäische Hypothesis hingegen ist
nicht wahrscheinlich, weil unterschiedene wichtige
Umstände der Bewegung der grossen
Welt-
Cörper, insonderheit des Mercurs und der Venus,
sich mit derselbigen auf keine Weise zusammen
reimen lassen. Z.E. Es kan aus dieser Hypothesi
nicht begriffen werden, wie es zugehe, daß die
Erdkugel niemahls zwischen der Sonne und dem
Mercur, oder der Venus, zu stehen komme. |
|
|
Aus diesem Grunde lässet sich eine
wohlgegründete Wahrscheinlichkeit von alle dem
wohl unterscheiden, was nicht wahrscheinlich ist,
als nehmlich von blosser Möglichkeit, ingleichen
von blossen Schein-Gründen, dadurch man
zuweilen den offenbaresten und nichtigsten
Irrthümern ein Färbgen anstreichen, und dadurch
den Augen der Unverständigen ein Blendwerck
machen kan. |
|
|
Dahin gehöret, z.E. wenn man, an stat,
tüchtiger und in der Natur der Sache selbst zu
suchender Gründe, sich auf das eingebildete
Ehr-
Ansehen der gemeinen
Meynungen auf das
Vorurtheil des Alterthums, ingleichen des Ehr-Ansehens dieses, oder jenes berühmten Mannes,
zu beruffen weiß; wenn man, an statt trifftiger
Beweiß-Gründe, durch artige Gleichnisse, Spiele
des Ingenii, bewährt gepriesene Sprüchwörter,
rednerische Erregungen der
Affecten, den Beyfall
heraus zu locken gedencket. Denn es ist fast
keine Art des nichtigsten Geschwätzes, daß die
Urheber derselben, wenn sie es verantworten
sollen, nicht durch das übel verstandene und
gemißbrauchte Prädicat der Wahrscheinlichkeit
noch bey Ehren zu erhalten vermeynen
solten. |
|
|
Die Umstände des Objects, auf deren
Übereinstimmung mit der
Hypothesi die
Wahrscheinlichkeit gegründet ist, können von
zweyerley Gattung seyn: Einige eräugnen sich an
dem Objecte von
Natur, und ohne unser Zuthun;
andere hingegen durch allerhand, so wohl
theoretische, als practische Versuche der
Menschen, die man insgemein Experimente
nennet. Wer demnach in wahrscheinlichen
Wissenschafften etwas leisten will, der muß
zuförderst die völlige
Historie des Objects, d.i.
alles, was sich mit demselben begiebet, nach
allen Um- |
|
|
{Sp. 1027|S. 527} |
|
|
ständen innen haben. Denn die
Übereinstimmung nicht etwa nur mit einem, oder
dem andern, sondern, so viel möglich, mit allen
Umständen des Objects, machet eine Hypothesin
wahrscheinlich. Wenn es dahero nicht gegeben
ist, die Historie eines Objects zulänglich inne zu
haben, z.E. einem Privat-Manne die eigentlichen
Umstände der Staats-Geschäffte, der wird so weit
ihm die Umstände der Sache verborgen sind, kein
sattsam gegründetes
Urtheil fällen können, was in
Ansehung derselben glaublich sey. |
|
|
Hieraus erhellet der Unterschied, zwischen
einem demonstrativen und probablen
Beweise. In
jenem, ist ein eintziger wohlgegründeter und mit
demonstrativer Gewißheit schliessender Beweis-Grund, so gut, als tausend: Indem ein jeder, eben
weil er demonstrativ ist, die Möglichkeit des
Gegentheils ausschliesset. In einem probablen
Beweise hingegen, der von der Übereinstimmung
der Umstände mit der zu beweisenden Hypothesi
hergenommen ist, beweiset ein eintziger Umstand
nichts; wenn er auch gleich durch demonstrative
Folge aus der Hypothesi hergeleitet werden
könnte: Gleichwie auch, wenn gleich alle
Umstände des Objects mit demonstrativer Folge
aus der Hypothesis hergeleitet werden könnten,
die Hypothesis dennoch, durch solche
demonstrative Übereinstimmung, nicht
demonstrativ, sondern nur höchst wahrscheinlich
wird. |
|
|
Denn in der hypothetischen
Nothwendigkeit,
dergleichen in dieser demonstrativen
Übereinstimmung ist, wäre es ein grober
Paralogismus, von der
Wahrheit und
demonstrativen Folge des Nachfolgenden auf eine
ebenfalls unstreitige Wahrheit des
Vorhergehenden zu schliessen. In einem Beweise
demnach, der demonstrativ seyn soll, kan die
Vielheit der Gründe, deren man sich bedienet,
den Mangel der demonstrativen Folge, der sich
bey ihnen eintzeln befindet, auf keine Weise
ersetzen: Wohl aber in dem probablen Beweise
einer Hypothesis, als in welchem, obgleich aus
keinem derer zu dem Beweise angezogenen
Umstände des Objects, wenn man nehmlich einen
jeden Umstand allein zu dem Beweise annehmen
wolte, die Hypothesis weder gewiß noch
wahrscheinlich folget, dennoch die
Übereinstimmung ihrer aller mit der Hypothesi
allerdings eine Wahrscheinlichkeit, die ihren
Beyfall verdienet, hervorbringet. |
|
|
Die Hypothesis ist an sich selbst eine
Möglichkeit: Und der Brunnquell aller zu
erfindenden Möglichkeiten ist das
Ingenium. Wer
derowegen in Erfindung probabler Wahrheiten
etwas sonderbares leisten will, der muß von
Natur, nebst einem guten Judicio, mit einem
lebhafften Ingenio begabet seyn. Da hingegen zu
Beurtheilung der Wahrscheinlichkeit schon
erfundener Hypothesium, ingleichen zu Erfindung
und Beurtheilung demonstrativer Wahrheiten, ein
gutes Judicium, auch ohne besondere
Lebhafftigkeit des Ingenii, zur Noth genug ist. |
|
|
Wir sagen zur Noth. Denn bisweilen ist nicht
minder ein gutes Ingenium beynöthig, die
Wahrscheinlichkeit einer schon erfundenen
Hypothesis |
|
|
{Sp. 1028} |
|
|
zu beurtheilen: Indem die Übereinstimmung
der Umstände mit der Hypothesi, d.i. ihre Folge
aus derselben, nicht allezeit demonstrativ ist,
sondern zuweilen auch nur wahrscheinlich, oder
möglich seyn kan; Da dann, um sich bald auf die
mancherley Möglichkeiten zu finden, wie ein
Umstand, als ein Effect, aus der supponirten
Hypothesi, als seiner Ursache, vielleicht entstehen
konnte, nicht minder gute und ingenieuse Einfälle
vonnöthen sind, als zu
Erfindung der Haupt-Hypothesis. Rüdiger (de Sens. Ver. et Fals. …)
nennet dergleichen Einfälle Neben-Vermuthungen
(Hypotheses subsidiarias,) von welchen bald mit
mehrerm zu
reden seyn wird. |
|
|
Übrigens ist auch überhaupt das Judicium
weit activer, alle
Arten, so wohl demonstrativer,
als probabler
Wahrheiten; zu erfinden und zu
beurtheilen, wenn es mit einem muntern
Ingenium
vergesellschafftet ist: Indem alles, was würcklich
ist, nothwendig auch möglich seyn muß; Und also
ein judiciöser
Kopff bey einem lebhafften Ingenio
auf alle Arten der Wahrheit überhaupt weit leichter
fallen wird, als ein anderer, dessen gutes Judicium
durch keine sinnreiche Munterkeit des Ingenii
belebet wird. |
|
|
Die Munterkeit und Hurtigkeit des Ingenii in
guten Einfällen, die sich mit der von den
Frantzosen sogenannten Gegenwärtigkeit des
Geistes (Presence d' Esprit) sehr wohl
ausdrücken und erklären lässet, nennet
Aristoteles (Analyt. Post. …) angchinoian, und
spricht von ihr, daß sie eine
Glückseligkeit sey, zu
beqvemer
Zeit und aus dem Stege-Reiffe
Mittel
und
Ursachen zu erfinden. Z.E. Wenn einer an
dem Monden wahrnimmt, daß der lichte Theil
desselben sich allezeit nach der Sonne kehret;
Und ihm fällt alsofort dabey ein, daß der Mond von
der Sonnen erleuchtet werde: Ingleichen, wenn
einer einen andern mit einem
reichen
Manne in
emsiger Unterhandlung siehet, und gar bald
vermuthen kan, was sie vielleicht mit einander
reden möchten: Oder, wenn einer siehet, daß
Pilatus und Herodes, die ihm beede mit
Gewogenheit nicht zum Besten bey gethan sind,
schleunig und unverhofft gute Gevattern
zusammen werden; Und er brauchet nicht viel
Kopf-Brechens, zu errathen, wohin wohl diese
neue Freundschafft abzielen möge. |
|
|
Aus dieser Beschreibung und Exempeln
ersiehet man, daß Aristoteles, nach seiner
gewöhnlichen Scharffsinnigkeit, die ächten
Gründe der Wahrscheinlichkeit gar leicht
eingesehen haben würde, wenn nicht eines Theils
in der
Gelehrsamkeit der Demonstrations-Kützel,
(Pruritus demonstrandi,) den er sich bey seinem
grossen
Fleisse in Metaphysicalischen
Untersuchungen angewöhnet, andern Theils aber
die Dialectic und Redner-Kunst, seiner Zeiten, ihn
zu einem weit andern
Begriffe von der
Wahrscheinlichkeit verleitet hätte. |
|
|
Wenn ein Umstand des Objects mit einer
Hypothesi |
|
|
{Sp. 1029|S. 528} |
|
|
nicht übereinstimmend befunden wird, so kan
solches auf zweyerley Art geschehen. Denn der
Umstand widerspricht entweder der Hypothesi;
Oder er widerspricht ihr zwar eben nicht, man kan
aber nur nicht absehen, wie es aus der Hypothesi
folgen, und also aus derselben, wie er eigentlich
zugehe, begriffen werden könne. |
|
|
In dem ersten Falle, da sich nehmlich ein
widersprechender Umstand findet, ist die
Hypothesis nicht vor wahrscheinlich anzunehmen,
sondern vielmehr in Ansehung des
Widerspruches, wenn demselben auf keine Weise
abzuhelffen ist, als eine demonstrative Falschheit
zu verwerffen; Wenn auch gleich sonst sehr viele
gar wohl übereinstimmende Umstände sich finden
solten. |
|
|
In dem andern Falle hingegen, wenn sich
nehmlich nur unverständliche, und schwierige
Umstände, an dem Objecte hervorthun, ist ein
Unterschied zu machen, ob deren nur etwa einer
und der andere, oder aber sehr viele sich zeigen.
Wenn dieses letztere ist, so ist die Hypothesis, in
Ansehung des so vielfältigen Mangels der
Übereinstimmung, vor unwahrscheinlich zu halten;
Und zwar mehr, oder weniger, nachdem solche
Schwierigkeiten, oder unverständliche Umstände,
denen übereinstimmenden oder verständlichen an
Anzahl nahe kommen, oder nicht, oder selbige
wohl gar übertreffen. |
|
|
Ist aber nur etwa einer, oder der andere
unverständlich, und die übrigen stimmen mit der
Hypothesi in grosser Anzahl überein: So höret,
wegen der Schwierigkeit etwa eines oder weniger
Umstände, die Hypothesis nicht so gleich auf,
vermuthlich zu seyn; Dieweil solche Schwierigkeit,
oder Unverständlichkeit, vielleicht aus dem
Mangel des Ingenii, oder daß man etwa der
Neben-Umstände eines solchen Umstandes nicht
sattsam kundig ist, herrühren kan; Dahero auch
offt mit der Zeit, wenn man von solchen Neben-Umständen mehr und mehr Erkundigung
einzuziehen, Gelegenheit findet, eine solche
Anfangs anscheinende Schwierigkeit sich gar
leicht heben lässet: Ob wohl die Beysorge des
Gegentheils, durch einen und den andern solchen
unverständlichen Umstand, wenn man auf keine
Wege siehet, wie ihm abzuhelffen sey, in etwas
vermehret werden kan. |
|
|
Die Wahrscheinlichkeit hat dahero ihre
unterschiedenen Grade, welches sich auf
zweyerley Art zutragen kan, so fern entweder der
Grund davon in der Beschaffenheit der
Sachen
selbst, die erkannt wird; oder in dem
Zustande
dessen, der sie erkennet, lieget. |
|
|
Nach dem ersten Grunde kommen die
verschiedene Grade der Wahrscheinlichkeit von
den Umständen der Sachen, die wir erkennen,
her, nachdem derselbigen viel oder wenig; wichtig
oder geringe sind; ingleichen nachdem
gegenseitige Umstände vorhanden, die mit den
andern, welche die Wahrscheinlichkeit machen
sollen, streiten. |
|
|
Wir können vier Grade setzen: der erste ist,
wenn alle Umstände mit einer
Meynung, oder
Hypothesi durchgehends wohl übereinstimmen,
wodurch sie im höchsten Grade wahrscheinlich
wird; man kan aber nicht sagen, wie viel der
Umstände seyn müssen. |
|
|
{Sp. 1030} |
|
|
Denn es kan bisweilen ein eintziger Umstand
eine Wahrscheinlichkeit machen, wenn dieselbige
nur aus einem Grunde kan geleitet werden; wenn
sich aber mehr
Principia angeben lassen, so sind
auch mehrere Umstände nöthig; mit welcher
Meynung nun alle Umstände überein treffen,
dieselbe ist höchst wahrscheinlich, und also mit
keiner, oder doch mit sehr geringer Beysorge des
Gegentheils, verbunden. Dieser höchste Grad der
Wahrscheinlichkeit kommt also der Demonstration
ziemlich nahe, in Betrachtung, daß er keine, oder
wenige Beysorge des Gegentheils übrig lässet: Er
ist aber doch noch Wahrscheinlichkeit, und keine
Demonstration, in Ansehung der Art des
Beweises, und daß dieser die Möglichkeit des
Gegentheils, ob gleich solches Gegentheil gar
nicht zu besorgen ist, nicht auszuschliessen
vermag. |
|
|
Der andere Grund ist, wenn mit einer
Hypothesi die meisten Umstände wohl überein
kommen; es stehen aber einige Schwierigkeiten
und unverständliche Umstände entgegen, welche
damit nicht können vereiniget werden, da denn die
Hypothesis nach Proportion solcher
Schwierigkeiten in geringerm Grade
wahrscheinlich wird. |
|
|
Der dritte ist, wenn so viel wohl
übereinstimmende Umstände als Schwierigkeiten,
vor eine Meynung sind, welches die zweiffelhaffte
Wahrscheinlichkeit ist, die in den Grentzen einer
blossen Möglichkeit bleibet; Und man dahero
weder sagen kan, daß sie mehr wahrscheinlich,
noch, daß sie mehr unwahrscheinlich sey. |
|
|
Und der vierdte, wenn wenigere Umstände mit
der Hypothesis wohl übereinstimmen, und
mehrere unverständlich sind; In welchem Falle die
Hypothesis, nach Proportion ihrer Vielheit,
unwahrscheinlich wird. |
|
|
Eigentlich aber zu reden, gehören die beyden
letztern Arten nicht hieher. Solche Grade liegen in
der Sache selbst und ihren Umständen; Es
können aber auch Grade der Wahrscheinlichkeit
seyn, welche in dem Zustande derer, die sie
erkennen, liegen, wenn man zweyerley
Meynungen hat, davon die eine wahrscheinlicher
ist, als die andere. |
|
|
Wenn man einen Umstand findet, welcher der
Hypothesi widerspricht, so ist diese nicht bloß
unwahrscheinlich, sondern unmöglich, oder
demonstrative falsch. |
|
|
Es kan sich auch begeben, daß zwey
Hypotheses entweder mit allen, oder mit den
meisten Umständen des Objects, mit gleicher
Leichtigkeit übereinstimmen: welches Rüdiger (de
Sens. Ver. et Falsi …) die zweiffelhaffte Wahrscheinlichkeit (probabilitatem ambiguam)
nennet. Dergleichen zwo Hypotheses sind zwar
andern möglichen Hypothesibus, zwischen denen
und den Umständen des Objects keine so gute
Übereinstimmung ist, als wahrscheinlicher
vorzuziehen: Wenn man sie aber gegen einander
selbst betrachtet; so bleibet man, in Ansehung der
Gleichheit der Übereinstimmung, in dem Zweiffel,
welche von beyden man vor der andern
vermuthlich zu seyn, urtheilen solle: Dahero sie,
solange sich nicht etwan bey einer von beyden
eine bessere Übereinstimmung findet, als
gleichgültige Möglichkeiten gegen einander |
|
|
{Sp. 1031|S. 529} |
|
|
anzusehen sind. |
|
|
Dergleichen zweyfache, oder zweiffelhaffte
Wahrscheinlichkeit zweyer Hypothesen, thut sich
insonderheit sehr offt in den Geschäfften der
Menschen hervor: Und muß man nicht meynen,
daß sie deßwegen, weil sie das Gemüth zwischen
zweyen Hypothesibus in Zweiffel lässet, gantz
unnütz, oder vergeblich sey. Denn es ist doch
wenigstens schon ein grosser Vortheil, denn unter
einer Menge von Möglichkeiten, die sich begeben
können, man zwo oder weniger, vor andern
wahrscheinlich findet: Indem in dem Zweiffel man
allenfalls auf beyde sich gefaßt halten kan; Wenn
bey aller bedachtsamen Überlegung der
Umstände, bey keiner von beyden ein Ausschlag
mehrerer Wahrscheinlichkeit sich geben will. |
|
|
Bey dieser Art der Wahrscheinlichkeit muß
man erstlich genau untersuchen, ob auch
würcklich auf beyden Seiten gleich viel Umstände
übereinstimmen, und gleich viel, oder gleich
wichtige Schwierigkeiten sich finden: Denn wenn
dieses nicht würcklich so seyn solte, so hört das
Zweiffelhaffte auf, und man erwehlet das
Wahrscheinlichste, mit Verwerffung des übrigen,
denn eine grössere Wahrscheinlichkeit macht,
daß die kleinere unwahrscheinlich wird, so, wie
die unstreitige Wahrheit die ihr entgegen gesetzte
vermeynte Wahrscheinlichkeit zu der Unwahrheit
macht. Dieses ist der Haupt-Fehler in der
Jesuittischen Lehre von dem Probabilismus, daß
sie die kleinere Wahrscheinlichkeit der grössern,
und gar die Wahrscheinlichkeit der unstreitigen
Wahrheit vorziehen. |
|
|
Zweytens, solte sich aber würcklich finden,
daß beyde Hypotheses gleich viele Gründe vor
sich hätten, so muß man versuchen, ob man nicht
den Zweiffel heben, und eine vor der andern
wahrscheinlicher machen könne: Weil uns der
Verstand nicht zu dem Zweiffeln, sondern zu der
Erkänntniß der
Wahrheit gegeben worden ist.
Solches geschiehet, wenn man aus beyden
schliesset, und Achtung giebt, welche
Schlüsse
durch die
Erfahrung bekräfftiget werden. |
|
|
Drittens, ist dieses nicht möglich, so lässet
man, wie man zu reden pfleget, die
Sache an
seinen
Ort gestellet seyn. Man kan vor sich wohl
eine Hypothesin erwählen, dabey man in dem
Nachdencken, oder in seinen
Handlungen, am
sichersten zu seyn denckt; Andern Leuten aber
muß man die
Freyheit
lassen, daß sie die andere
annehmen, oder gar nichts bestimmen: Am
wenigsten aber darff man sich unterstehen,
andere aus seiner Hypothesi zu widerlegen, oder,
weil |
|
|
{Sp. 1032} |
|
|
sie eine andere angenommen haben, solche
deßwegen vor Unwissende, oder Ketzer, erklären,
welches ein gemeiner Fehler der Pedanten,
Sprach-Richter und GOttes-Gelehrten ist. |
|
|
Es kan sich ferner zutragen, daß bey einer
Sache nicht mehr, als eine eintzige Hypothesis,
erdacht werden kan; Welches alsdenn eine
Wahrscheinlichkeit kat' anthropon genennet wird.
Bey dieser hat man weiter nichts zu beobachten,
als daß man gewiß versichert sey, es könne nur
eine Hypothesis ausgedacht werden, welche doch
mit den Umständen übereinstimme, und daß man
diese Wahrscheinlichkeit nicht mit der unstreitigen
Wahrheit vermische. |
|
|
Zuweilen widerspricht ein Umstand der Sache
einer sonst guten und mit allen andern Umständen
wohl übereinstimmenden Hypothesi nur zu dem
Scheine: Indem alle
Ideen und Propositionen,
unter denen ein wahrhaffter Widerspruch seyn
soll, allen Umständen nach, in einerley Absehen,
oder Betrachtung, genommen werden müssen;
Und es sich leicht begeben kan, daß entweder
von der an sich selbst guten Hypothesi, oder von
dem Umstand, der ihr zu widersprechen scheinet,
etwa ein kleiner Neben-Umstand unbekannt ist,
welcher, wenn er entweder durch Hülffe des
Ingenii, oder durch genauere Erfahrung, sich
endlich findet, der Widerspruch, oder auch die
Schwierigkeit, hinwegfällt. |
|
|
Dahero folget, daß man dem anscheinenden
Widerspruche, oder auch nur der Schwierigkeit
eines Umstandes, zuweilen dadurch abhelffen,
und also die Wahrscheinlichkeit der Hypothesis,
sicherer und vollkommener machen könne, wenn
man zu der Hypothesi einen an sich selbst
möglichen Zusatz, oder zu dem widersprechenden
oder schwierigen Umstande, eine eigene
Hypothesin, oder probable
Raison zu finden weiß,
vermittelst deren, wenn man sie setzet, der
Widerspruch, oder die Schwierigkeit hinweg
falle. |
|
|
Dergleichen Zusatz, oder Neben-Hypothesin
nennet Rüdiger (de Sens. Ver. et Fals. …) wie
bereits oben gedacht ist, Hypothesin subsidiariam: Und erhellet aus der
Natur der Wahrscheinlichkeit
überhaupt, daß dergleichen Zusatz, oder Neben-Hypothesis, wenn sie anders vor wahrscheinlich,
und nicht vor eine blosse Möglichkeit, oder
Gedicht paßiren soll, nicht etwa nur mit dem
unverständlichen, oder dem Scheine nach
widersprechenden Um- |
|
|
{Sp. 1033|S. 530} |
|
|
stande, wegen welches sie angenommen
wird, sondern auch mit den andern Umständen
des Objects, so gut, als die Haupt-Hypothesis,
übereinkommen müsse. |
|
|
Wenn derowegen bey einer sonst
wahrscheinlichen Hypothesi sich noch eine und
andere Schwierigkeiten finden; so ist solches eine
Anzeige, daß entweder die Hypothesis vielleicht
noch unvollkommen, und zu derselben noch
etwas hinzu zu thun sey; Oder, daß man vielleicht
von den Neben-Umständen des mit der Hypothesi
noch nicht zum besten übereinkommenden Haupt-Umstandes nicht gnugsame Erfahrung habe; Oder
auch, daß ein solcher Umstand vielleicht seine
eigene besondere
Raison habe. |
|
|
Dahero, wie schon erwehnet worden ist, die
Wahrscheinlichkeit solchenfals nicht alsobald
hinwegfällt, sondern etwa dem Grade nach in
etwas vermindert wird. Also bleibet, z.E. bey der
Copernicanischen Hypothesi von dem Welt-Gebäude, aus welcher sonst alle Umstände des
Himmels-Lauffs sich ungemein wohl verstehen
lassen, diese eintzige Schwierigkeit übrig, daß,
wenn die Erdkugel einmahl an einem Puncte ihrer
Bahn, in welcher sie sich um die Sonne herum
beweget, daß anderemahl an dem andern
entgegen gesetzten Puncte derselben, stünde, die
Fix-Sterne, in Ansehung des Diameters der
gedachten Bahn, eine merckliche Parallaxin
haben müsten: welches doch mit der Erfahrung
nicht übereinstimmet. |
|
|
Diesen Zweiffel zu heben, hat Copernicus
eine so unermeßliche Entfernung der Fix-Sterne
von der Erd-Kugel supponiret und zu Hülffe
genommen, daß, in Ansehung derselben, der
Diameter der Erdbahn nur für einen Punct zu
halten, und daher die Parallaxis eines Fix-Sterns
unmercklich sey: Immassen die Parallaxis eines
Sternes immer kleiner ist, je weiter er von der
Erden abstehet, und also, durch die Weite der
Entfernung, endlich unmercklich werden muß.
Weil nun diese unermeßliche Entfernung der Fix-
Sterne aus einer Menge von Umständen sehr
wohl zu erweisen ist; so ist sie allerdings als eine
gute Neben-Hypothesis zu billigen, aus welcher
der obgedachten Schwierigkeit gar wohl
abzuhelffen ist. |
|
|
Hingegen wenn, zur Ablehnung der
Schwierigkeiten, die sich mit der Ptolomäischen
Hypothesi, in grosser Menge, nicht zusammen
reimen lassen wollen, von den Vertheidigern
derselben, supponiret wird, daß an den grossen
Circkeln, welche die Sterne in ihrem Umlauffe um
die Erde beschreiben, andere kleine, die sie
Epicyclos nennen, zu finden, welche sie, neben
den grossen, mit umlauffen müsten, so siehet man
leicht, daß die Supponirung dieser Epicyclorum
keine gute und wahrscheinliche Neben-Hypothesis, sondern ein blosses Gedicht sey:
indem nicht allein diese supponirten Epicycli mit
keinem andern Umstand erwiesen werden
können, als auf das höchste mit denjenigen,
wegen welcher sie aus Noth supponiret worden;
sondern auch, wenn man sie gleich einräumen
wolte, andere noch weit mehrere Schwierigkeiten
daraus entstehen, denen auch, durch alle neue zu
Hülffe genommenen Neben-Umstände, nicht
einmahl abzuhelffen ist. |
|
|
Übrigens ist bey der Wahrscheinlichkeit zu
mercken, daß man zuweilen aus einem |
|
|
{Sp. 1034} |
|
|
wahrscheinlichen Satze, nach den
unstreitigen Arten zu schliessen, andere folgern
kan, welche man deswegen nicht vor unstreitig
halten darff. Ingleichen kan man auch die
wahrscheinlichen Sätze, vermittelst der
Urtheilungs-Krafft, durch Eintheilungen finden und
vortragen, so wird es Unverständigen vorkommen,
als wenn man demonstrirte. |
|
|
Man nimmt nehmlich einen allgemeinen Satz,
der aus Metaphysicalischen
Begriffen bestehet,
und die
Ursach, die das
Wesen eines
Dinges von
weitem auf eine unstreitige Art anzeiget, und zwar
mit Unterschied; (disjunctive) Hernach räumt man
das eine Glied des Unterschiedes, oder der
Eintheilungen, durch eine widersprechende
Erfahrung, (Phoenomenon, sensio contradicens)
aus dem Wege, und behauptet also das andere;
dieses theilet man wieder ein, und räumet
wiederum eins davon weg, damit man das andere
behaupte; biß man endlich, durch verschiedene
Eintheilungen und Hinwegräumungen, zu der
nächsten Hypothesi von der Ursache, Wesen,
oder Beschaffenheit eines Dinges kommt, dabey
man in dem
Gemüthe einige Beruhigung und
Gewißheit findet, dergleichen man bey einer
Wahrscheinlichkeit haben kan. (Hypothetica
certitudo)¶ |
|
|
Die Lehre der Wahrscheinlichkeit ist eine der
allernöthigsten und nützlichsten, sowohl in dem
gemeinen
Leben, als in der
Gelehrsamkeit,
besonders in der
Philosophie. Denn wie das
meiste
Thun und Lassen der
Menschen aufs
künftige gehet, daß man den
Schaden abwenden,
und das nützliche erlangen will, folglich die Haupt-Affecten, womit die menschlichen Gemüther
eingenommen, Furcht und
Hoffnung sind, also
können diese nicht
vernünfftig eingerichtet
werden, wenn man nicht weiß, das
wahrscheinliche von dem blos möglichen zu
unterscheiden: denn vernünfftig ist die Hoffnung,
wenn man ein wahrscheinlich zu erwartendes
Gut
hoffet; die Furcht hingegen, wenn man wegen
eines wahrscheinlich zu besorgenden
Übels
bekümmert ist, mithin ist es unvernünfftig, woferne
man blos mögliche Dinge entweder hoffet, oder
fürchtet, wodurch man sein Gemüthe beunruhiget,
und sein Leben unglücklich macht. |
|
|
Solchen
Nutzen hat auch die Lehre von der
Wahrscheinlichkeit in der Gelehrsamkeit. Denn ein
grosser Theil der
Wahrheiten, die wir zu
erkennen
haben, sind wahrscheinlich, und daß wir der
andern Facultäten nicht gedencken, so ist dieses
von der Philosophie ausgemacht, welches
diejenigen, die in einem pruritu demonstrandi
stecken, zu mercken haben. Dieses werden wir
deutlicher sehen, wenn wir insbesondere die
verschiedenen
Arten der Wahrscheinlichkeit
durchgehen.¶ |
|
|
|
|