HIS-Data
Home | Suche
Zedler: Philosophiren (Freyheit zu) HIS-Data
5028-27-2126-1
Titel: Philosophiren (Freyheit zu)
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 27 Sp. 2126
Jahr: 1741
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 27 S. 1080
Vorheriger Artikel: Philosophiren … bey dem Poiret
Folgender Artikel: Philosophischer Baum
Siehe auch:
Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Personen

  Text Quellenangaben
  Philosophieren (Freyheit zu) Libertas philosophandi.  
  Ein Philosoph muß in seinem Vortrage bloß lediglich darauf sehen, daß die Lehren, so er vorträgt, wahr seyn, sie mögen im übrigen alt oder neu, von gelehrten oder gemeinen Pöbel bejahet worden seyn u.s.f. Wird nun einem Philosophen im gemeinen Wesen dieses verstattet, so heißt diese Freyheit, die Freyheit zu philosophiren.  
  Es ist also die Freyheit zu philosophiren nichts anders, als ein ungehinderter Gebrauch des Verstandes im Vortrag der Wahrheiten.  
  Aus dieser gegebenen Erklärung erhellet so fort, daß die Freyheit zu philosophiren von der Freydenckerey gar merckwürdig unterschieden sey. Diese ist nichts anders als ein ungehinderter Mißbrauch des Verstandes im Vortrag alles dessen, was diejenigen Absichten befördert, die man sich vorgesetzet. Wir verstehen also durch den Mißbrauch des Verstandes nicht denjenigen und rechten Gebrauch des Verstandes, welcher nur von einer Schwäche desselben herrühret; sondern welcher von dem Willen ursprünglich herstammet, da man vorsetzlich den zur Erkäntniß der Wahrheit uns von Gott geschenckten Verstand dahin anwendet, daß man Irrthümer, und sonst seltsame Meynungen ersinnet oder fortpflanzt.  
  Wie nun hieraus Sonnenklar ist, daß die Freydenkerey auf keine Weise zu billigen sey: so ist hingegen die Freyheit zu philosophiren nicht nur erlaubt, sondern auch einem ieden gemeinen Wesen höchst ersprießlich; indem dadurch die Irrthümer verbannet, und dafür die Wahrheiten fortgepflantzet; hierdurch aber einem ieden die Augen geöffnet werden, wie er Gott, der Obrigkeit, seinem Nächsten, ja sich selbst, den göttlichen Absichten gemäß, dienen solle.  
  Es erfordert aber die Freyheit zu philosophiren, daß man sich im Vortrag der Lehren nicht nach andern, sondern bloß lediglich nach sich selbst richte. Denn die Freyheit zu philosophiren ist ein Gebrauch des Verstandes im Vortrag der Wahrheiten, betet man aber einem andern dessen Sätze nur nach, so gebrauchet man seinen Verstand nicht, noch weniger im Vortrag der Wahrheiten, indem man nicht überzeuget ist, ob auch des andern Lehren für Wahrheiten zu achten sind.  
  Da nun auf solche Weise die Freyheit zu philosophiren erfordert, daß man im Vortrag der Wahrheit sich nicht nach andern, sondern nach sich selbst richten solle; und aber der Vortrag einer Wahrheit nicht eintzig und allein darinnen bestehet, daß man die Wahrheit öffentlich bekenne, sondern auch über diß den andern davon überzeuget, und man niemals den andern von etwas überzeugen kan, davon man nicht selbst überzeuget ist, so flüsset nothwendig ferner hieraus, daß man krafft der Freyheit zu philosophiren, im Vortrage  
 
1) nichts vor wahr ausgeben solle, was man vor wahr erkennet, und
2) keinen Beweiß vor hinreichend halten solle,
 
  {Sp. 2127|S. 1081}  
  als den, bey welchem man nicht das geringste auszusetzen findet.  
  Wer philosophiret, der kan keinen Satz behaupten, so  
   
  entgegen stehet; welches man mit leichter Mühe darthun könnte, wofern nicht solches Herr Wolff in seinem discursu præliminari de philosophia, den er seiner philosophiæ rationali vorgesetzet, bereits gründlich erwiesen hätte.  
  Und dahero hat die Freyheit zu philosophiren, in so ferne man solche an und vor sich betrachtet, keine Schrancken von nöthen; dieweil aber doch der Mensch im Gebrauch seines Verstandes öffters wider Willen auf Neben-Wege gerathen kan, so werden dieser Freyheit in Ansehung derer, so sich solcher bedienen, gewisse Schrancken bestimmet, damit sie so gleich erkennen, ob sie auch der Freyheit zu philosophiren sich recht bedienet haben oder nicht. Diese Schrancken bestehen darinnen, daß kein Philosoph  
   
  damit auf diese Art die Gottesfurcht, als die Stütze aller Länder, befördert; die Tugenden ausgebreitet, und der Unterthan nicht irre gemachet und zum Ungehorsam, oder wohl gar zur Empörung verleitet werde.  
  Wir machen aus alle dem, was bißher gesaget worden ist, nunmehr folgenden Schluß: Wer im Vortrag der Wahrheiten  
 
  • 1) nichts vor wahr ausgiebet, als was er vor wahr erkennet,
  • 2) keinen Beweiß vor hinreichend hält, als den, bey welchem er nicht das geringste mehr auszusetzen gefunden, und
  • 3) die Schrancken der Freyheit zu philosophiren genau beobachtet, das ist, nichts lehret, welches der Religion, der Moralität und dem Staate zuwider läufft;
 
  der bedienet sich der Freyheit zu philosophiren gehöriger massen; einfolglich kan ein solcher keinesweges unter die Frey-Geister gerechnet werden.  
  Wir haben oben die Schrancken der Freyheit zu philosophiren, folgender gestalt bestimmet: wer philosophiret, der kan keinen Satz behaupten, so  
 
  • 1) den Haupt-Sätzen der Religion,
  • 2) der Moralität und
  • 3) dem Staate
 
  entgegen stehe. Da man nun aber hierinne niemals einig ist, ob dieser oder jener Satz den Haupt-Sätzen der Religion, der Moralität und dem Staat entgegen stehe; so ist die Frage: Ob nicht gewisse allgemeine Kennzeichen und Regeln könnten ausfündig gemachet werden, nach denen man bestimmen könne, ob ein Satz der Religion, der Moralität und dem Staate zuwider lauffe oder nicht?  
  Wir machen mit dem wichtigsten Stücke den Anfang, das ist, von der Religion. Eine jede Religion hat ihre Glaubens-Bücher, welche denen, so selbiger Religion zugethan seyn, zur Richtschnur ihres Glaubens dienen müssen. Wenn also ein Philosoph einer gewissen Religion seine Sätze so ein-  
  {Sp. 2128}  
  richtet, daß sie weder mittelbar noch unmittelbar einer oder der andern Lehre widersprechen, die in seinem Glaubens-Buche enthalten ist, und den Glauben betrifft; so sind seine Sätze mit der Religion einstimmig.  
  Er thut auch wohl, daß, wenn von einem Satze nur mit einigen Grund gedacht werden könne, als hätte er einen Schein eines Widerspruches mit einer Glaubens-Lehre; er so dann, um der Schwachen willen, die Glaubens- Lehre gleich dabey anführe, und die Ubereinstimmung eines Satzes mit derselbigen zeige. Hieraus flüsset ferner:  
  „Daß ein Philosoph sein Glaubens-Buch wohl inne, und beym Philosophieren beständig vor Augen haben müsse.„  
  Dieses ist eine allgemeine Regel. Allein, obwohl nur eine wahre Religion ist, so sind doch überhaupt verschiedene Religionen. Es entstehen demnach aus dieser allgemeinen Regel in Ansehung der Anwendung auf die mannigfältigen Religionen, viele besondere Regeln. Da wir GOtt nicht genug dancken können, daß er uns in der wahren Religion hat gebohren und erzogen werden lassen; so wollen wir die allgemeine Regel auf unsere Religion um so viel lieber anwenden. Die erste besondere Regel wird seyn:  
  „Ein Philosoph soll, wenn er einen Satz gefunden hat, selbigen so fort gegen die heilige Schrifft halten, nach dieser jenen aufs schärffste prüfen, und wenn er findet, daß zwischen beyden ein wahrer Widerspruch sey, das Kind mit dem Bade wegschütten.„  
  Bey angestellter genauer Prüfung kan es nicht anders kommen, als daß er zugleich entdecket, ob auch nur ein Schein-Widerspruch, oder einiger Grund zu selbigem vorhanden sey. Dieses giebet die andere Regel an die Hand:  
  „Wenn ein Philosoph mercket, daß sein Satz mit der heiligen Schrifft zu streiten scheine, oder daß iemand gar leicht an einen Widerspruch gedencken könne; muß er in einer Anmerckung den Spruch aus der Bibel nennen, und beydes den Schein-Widerspruch, als auch den Ungrund desselben eröffnen.„  
  Da auch die Regeln der Auslegungs-Kunst noch nicht auf das höchste gebracht sind, und selbst unsere Gottesgelehrten in Auslegung des wahren Verstandes einiger Biblischen Sprüche nicht einig sind; so giebt sich von sich selbst die dritte Regel:  
  „Wenn ein Philosoph erkennet, daß selbst über den wahren Verstand des Spruches ein Zweiffel sey erreget worden; muß das seine erste Bemühung seyn, wie er nach den Regeln einer gesunden Auslegungs-Kunst den wahren Verstand bestimmen möchte, und hernach in einer Anmerckung andeuten, wie er darbey verfahren habe, daß er den Verstand gefunden habe.  
  Dieses ist noch nicht genug. Wir wissen, daß die Kräffte unserer Seelen schwach sind, wir erfahren es, daß wenn wir vermeynen, den sichersten Weg gegangen zu seyn, wir dennoch geirret haben. Wir sind daher verbunden, unseren Gedancken mehr als einen Lauff-Zaum anzulegen, damit sie desto gewisse Tritte thun.  
  Als unsere erste Glaubens-Bekenner die Symbolischen Bücher unseres Glaubens aufsetzeten, haben sich so mannigfaltige als deutliche Merckmahle geäussert, daß GOtt selbst bey diesem Wercke mit  
  {Sp. 2129|S. 1082}  
  ein Spiel gewesen sey, daß er die Gedancken der Glaubensbekenner, und die Feder derer, welche das Glaubens-Bekänntniß zu Papier gebracht haben, dahin regieret, daß alles seinem Willen gemäß seyn möchte. So machen wir denn endlich die vierdte und letzte Regel:  
  „Ein Philosoph soll, indem er den wahren Verstand eines uns zweiffelhaften Biblischen Spruches nach den Regeln der Auslegungs-Kunst suchet, sich die symbolischen Glaubens-Bücher zum Leitfaden dienen lassen, auch in seinen Schriften die Ubereinstimmung seiner Auslegung mit den gedachten Büchern darthun.  
  Beobachtet nun ein Lutherischer Philosoph alle diese angegebenen Regeln, so sind wir versichert, und können ihm das Wort geben, daß man ihn nicht beschuldigen werde, seine Philosophischen Sätze lieffen wider die Religion. Wir müssen aber auch bekennen, daß, einen gantzen Philosophischen Lehr-Begriff nach dieser Vorschrift zu schreiben, eine Centner-schwere Last sey, die manchen eher in das Grab drücken wird, ehe er damit zu Stande kommt.  
  Von der Moralität haben wir nicht nöthig viel Regeln zu geben, wenn man nur erst festgesetzet hat, ob die Sittlichkeit innerlich oder äusserlich sey? (num moralitas sit intrinseca s. objectiva, an extrinseca s. subjectiva?)  
  Von dem Staate kan man die gantze Sache gantz kurtz in folgende Regel fassen: Ein Philosoph soll sich um seiner hohen Landes- Obrigkeit, um seine vorgesetzte Unter- Obrigkeiten, und um beyder Umstände, Gesetze, und Verordnungen bekümmern; nachher seine Sätze untersuchen, ob sie entweder die obrigkeitlichen Personen kräncken, oder ihre Gesetze und Verordnungen verletzen. Im übrigen muß er mit den Gesetzen und Verordnungen verfahren, wie mit der heiligen Schrifft, und in Auslegung derselben die von den Obrigkeiten gegebenen Erläuterungen zu Rathe zühen. Carl Günther Ludovici im Entwurffe der Historie der Wolffischen Philosophie I Th. §. 110. u. ff. II Th. §. 351. u. ff.
     

HIS-Data 5028-27-2126-1: Zedler: Philosophiren (Freyheit zu) HIS-Data Home
Stand: 11. November 2016 © Hans-Walter Pries