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Zedler: Natur-Rechts (Grund-Satz des) [4] HIS-Data
5028-23-1205-1-04
Titel: Natur-Rechts (Grund-Satz des) [4]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 23 Sp. 1216
Jahr: 1740
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 23 S. 625
Vorheriger Artikel: Natur-Rechts (Grund-Satz des) [3]
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Hinweise:
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Übersicht
Grund des Naturrechts
  Man soll gesellschaftlich leben (socialiter est vivendum)
 
  Erklärung dieses Prinzips
  Einwendungen
  abweichende Befürworter
 
  1. Gundling
  2. Gerhard
  3. Böhmer
  4. Gentzken
  5. Georg Bayer
  6. Schwartz
  7. Thomasius
  Liebe gegen den Nächsten
  Drei Prinzipien
 
  Einwendungen dagegen

Stichworte Text  
Grund des Naturrechts Es ist der sogenannte Grund des Natur-Rechts nichts anders  
  {Sp. 1217|S. 626}  
  als das allgemeine natürliche Gesetz; weil aber die Gesetze als Mittel der Göttlichen Absicht anzusehen, so haben andere vermeynet, man müsse in dem Principio nicht sowol den Göttlichen Endzweck, als vielmehr das allgemeine Göttliche Mittel angeben.  
gesellschaftlich leben Intendirte aber GOtt die menschliche Glückseligkeit, und die Glückseligkeit vieler gienge dem Wohlseyn einer einzelen Person für, so müste die Vernunfft ein solches Gesetz an die Hand geben, welches als ein Mittel zu dieser Absicht diente, so nach dieser Meynung: Man soll gesellschafftlich leben, (socialiter est vivendum,) heisen soll.  
  Es ist wohl kein Principium, worüber mehr Streitigkeiten entstanden sind, als eben dieses, die aus verschiedenen Grund herkommen, nachdem selbige sich so wohl, und zwar am meisten zu den Zeiten Pufendorfs, als auch nach dem ereignet haben. Im Anfang war man mit hefftigen Affecten wieder Pufendorfen eingenommen, und man dachte, es könte kein schlimmer und schädlicher Principium, als dieses ausgedacht werden; wie sich aber der Lermen ein wenig geleget, und vernünfftige Leute untersuchten die Sache ohne Paßion, so erkannte man wohl durchgehend, daß der Satz wahr, nur haben ihn verschiedene vor unzulänglich gehalten.  
  Kulpisius in Colleg. Grotian exerc. 1. §. 7. p. 11. erinnert, es hätten diese Meynung schon  
 
  • Aristoteles in seinen politischen Büchern,
  • Cicero de officiis,
  • und von denen Kirchen-Lehrern
    • Augustinus doct. christ. lib. 3. cap. 14.
    • und Ambrosius de offic. lib. 1. cap. 8.
 
  gehabt, die man auch den Stoicis beyleget, wie denn Kuhnius eine Disputation de stoicorum socialitate philosophica, zu Straßburg 1700 gehalten.  
  Doch aus dem, was in den alten Schrifften zerstreuet anzutreffen, läßt sich nichts gewisses sagen. Denn wenn sie gleich das gesellige Leben und das vernünfftige Verhalten in einer Gesellschafft angepriesen, so wird man doch nicht ausdrücklich finden, daß sie die Geselligkeit zum Grund des natürlichen Rechts geleget, an dessen systematische Einrichtung sie wohl wenig gedacht haben.  
  Unter den neuern ist Grotius darauf gefallen, wiewol er dessen in den besondern Materien gar selten gedencket, worauf Pufendorf solches bisher untersuchet, und auf festern Fuß zu setzen, sich bemühet. Denn obschon Grotius das natürliche Recht in der Natur des Menschen selbst, und in der allgemeinen friedlichen Gesellschafft suchte, so wolte er es doch mit denen Scholasticis und dem menschlichen Ansehen nicht so fort auf einmal verderben, sondern bedunge sich bald anfangs, daß er zuweilen auch der Ubereinstimmung und Beyfalls der alten heydnischen Philosophen in Herleitung der Lehren des Rechts sich bedienen wolte.  
  Diejenigen, welche das Principium: Man solle Gesellschafftlich leben, angenommen haben, sind  
 
  • Pufendorf de officio hom. et civis lib. 1. cap. 3. §. 9. und 13. und de jure nat. et gent. lib. 2. cap. 3.
  • Thomasius in jurisprud. divin.
  • Ludovici in delineat. hist. jur. nat.
  • Weber in not. ad Pufend. und Dissertatione de lege naturali.
  • Sibrandus in Dissertatione de princip. juris nat.
  • Kulpisius in Collegio Grotiano.

    {Sp. 1218}

    Hochstetter in Colleg. Pufend.
 
  nebst einigen andern.  
  Doch sind ihrer sehr viel, welche dasselbige nicht billigen wollen, und entweder Pufendorfen widerleget, oder doch andere Principia erwehlet, wie aus denen, was wir bisher angeführet, zu ersehen, welches wieder auf unterschiedliche Art geschehen.  
Erklärung dieses Prinzips Ehe wir aber die vornehmsten Einwürffe berühren, so müssen wir uns den Verstand dieses Principii recht bekannt machen. Es wird damit nicht schlechterdings angezeiget, daß der Mensch nur verbunden sey, in der Gesellschafft zu leben, indem Gesellschafft (Societas) und die Geselligkeit (Socialitas) allerdings unterschieden, wenn gleich das letztere das erstere voraus setzet; massen jenes die Gesellschafft selbst; dieses aber die Geflissenheit ist, alles dasjenige zu thun, wodurch die äusserliche Ruhe zu erhalten, und zu unterlassen was dieselbe stöhret, damit die Menschen glücklich leben mögen, folglich soll die Socialität nach der Göttlichen Intention ein Mittel zu der menschlichen Glückseligkeit seyn, so versteht sichs, daß man in einer solchen Gesellschafft leben müsse, die seinem Willen gemäß, und der Endzweck kan erhalten werden, womit der wider Pufendorfen gemachte Einwurff wegfällt, als hätte er mit seinem Principio auch die Mörder und See-Räuber unter einander, und andere gegen sie zur Socialität angewiesen.  
  Es müssen alle vernünfftige Leute, die nur das geringste Nachdencken haben, zugeben, daß dieses ein wahres Principium des natürlichen Rechts. Denn der Grund davon liegt in der menschlichen Natur, bey der wir sonderlich drey hieher gehörige Umstände antreffen, als  
 
  • das Vermögen zu reden, welches der Mensch weder in Ansehung GOttes, noch sein selbst brauchet, weil GOtt vermöge seiner Allwissenheit schon unsere Gedancken und Begierden ohne einer äusserlichen Rede wissen kan; und ein ieglicher selbst sich dessen, was in seiner Seelen vorgehet, bewust ist;
  • denn der von Natur eingepflantzte Trieb zur Gesellschafft, weswegen Aristoteles den Menschen recht ein Animal politicum genennet,
  • und diejenige Beschaffenheit unsers Verstands, daß er zur Erkänntniß so vieler Wahrheiten, davon wir die wenigsten in der Einsamkeit ausser der Gesellschafft brauchen, geschickt ist.
 
  Thut man GOTT in Ansehung seiner Weisheit nichts vergebens, es beziehen sich aber alle diese drey Umstände auf andere Menschen, daß sie als Mittel anzusehen sind, wodurch der Mensch zur Gesellschafft soll angetrieben, und zur Unterhaltung derselben geschickt gemacht werden, so folget er daraus, daß GOtt die Gesellschafft zur Glückseligkeit der Menschen intendiret, zumal solche ohne Hülffe anderer Menschen nicht kan erlangt werden, es sey denn, daß GOTT Wunder thun wolte, davon die Vernunfft nichts weiß, ja vielmehr wahrscheinlich das Gegentheil schlüsset.  
Einwendungen Allein man hat wider das Principium eingewendet, es sey nicht der erste Grund-Satz, weil man die Geselligkeit als eine Folgerung anzusehen, die man darum nicht beleidigen müste, weil der Natur hier durch Schaden zugefüget würde. Wäre man hievon nicht gewiß, sondern glaubte, daß man das  
  {Sp. 1219|S. 627}  
  Recht habe, seine und des andern Natur zu zerstöhren, so falle auch die Geselligkeit weg, zu geschweigen, daß keiner selbige zu beobachten schlechterdings verbunden, sondern nur soweit sie ehrbar, vernünfftig und zugelassen sey, indem auch sonst Räuber und Diebe zu ihrer Gesellschafft und Erhaltung derselben verbunden seyn würden; welche Geselligkeit nun, und wie weit dieselbe zu erhalten sey, solches müsse man aus der gesunden Vernunfft und gewissen Demonstrationen wissen.  
  Doch der Haupt-Einwurff beruhet darinnen, daß dieses Principium nicht adäquat sey, und begreiffe weniger, als es seyn solte, unter sich, massen die Pflichten gegen GOTT und gegen sich selbst nicht daraus flössen, welches auch Pufendorff wohl sahe, und dahero in seinem Werck de jure nat. et gent. die Pflichten gegen GOTT bey Seite satzte, auch lib. 2. cap. 3. §. 13. anzeigte, daß sein Principium nur zum Grund bey den Handlungen gegen andere Menschen liegen solte; nach dem man ihm aber schuld gab, er hielte von den Pflichten gegen GOTT nicht viel, so satzte er sie in seinem Buch de offic. hom et civ. hinzu, und gab für, sie flössen aus der Geselligkeit, aber auch hier fehlt es an neuen Einwürffen nicht.  
  Denn man wendete ein: sollen die Pflichten gegen GOTT aus der Geselligkeit fliessen, so müste folgen, daß dieselben in der Collision der Socialität nachzusetzen, weil sie nemlich alsdenn der Grund von ihnen wären, weßwegen solches zu thun, und zu unterlassen, wenn aber der Grund des Gesetzes mit dem Gesetz streite, so müsse das Gesetz weichen.  
  Es würde dergestalt ferner folgen, daß, wenn der Fürst etwas beföhle, davon GOTT das Gegentheil verlange, man den Göttlichen Befehl übertreten, und hingegen das Fürstliche Gebot weit vorziehen müste, wie nicht weniger, daß man ehe GOTT und alles verleugnen solte, ehe man der Geselligkeit etwas zu nahe thäte.  
  In Ansehung der Pflichten gegen sich wendet man ein, daß, wenn auch die Socialität der Grund von diesen seyn solte, viele ungereimte Folgerungen daher kämen, es könte sich der Mensch um das Leben bringen, im Fall er der Republick nichts mehr nutze; man dürffte sich bey einem gewaltsamen Anfall eines, der der Republick nützlicher, nicht vertheidigen; im Fall der Mensch ausser der Gesellschafft sich befände, so habe er keine Pflichten gegen sich zu beobachten, und wenn man vorgiebt, es könne der Mensch keine Pflichten gegen sich auf sich haben, weil er sich nicht selbst könte verbunden seyn, so antwortet man darauf, es sey freylich der Mensch nicht sich selbst, sondern seinem Gesetzgeber verbunden, in Ansehung dessen diese Verrichtungen gegen sich selbst Pflichten wären.  
  Ja es stünde dahin, ob man auch von allen Pflichten gegen andere aus diesem Grund die hinlänglichen Ursachen leiten könte, und selbige nicht bisweilen noch gründlicher und deutlicher aus andern Umständen der menschlichen Natur her zu führen, wovon mit mehrern Schwartzs disquist. 2. probl. jur. nat. et gent. probl. 1. wo er  
  {Sp. 1220}  
  auch pag. 2. die hieher gehörigen Scribenten anführet, zu lesen ist.  
abweichende Befürworter Es sind die berührten Einwürffe wegen der Pflichten gegen GOtt und gegen sich selbst so beschaffen, daß sie nicht wol anders zu heben, als daß man unter das natürliche Recht nur die Pflichten gegen andere fasset: die Pflichten aber gegen GOTT und gegen sich selbst in andere Disciplinen verweiset, welches auch viele neuere gethan, die in der That Pufendorffs Principium angenommen, und nur in den Worten von ihm abweichen, als  
 
1) pacem externam ante omnia sectare, ubi haberi potest, ne prorsus ad vitam cum aliis traducendam, virtutemque acquirendam inutilis fias, das ist, man soll vor allen sich des äusserlichen Friedens angelegen seyn lassen, wenn man seiner teilhafftig werden kan, damit man nicht gantz ungeschickt werde mit andern zu leben, und die Tugend zu erlangen, welches das Principium des Herrn Gundlings in via ad verit. part. 3. cap. 2. §. 18.
 
 
2) omne illud, quod pacem externam humani generis necessario impedit, illud evitandum, das ist, alles das ist zu vermeiden, was den äusserlichen Frieden des menschlichen Geschlechts nothwendig verhindert, so der Grund-Satz des Herrn Gerhards in delin. jur. nat. lib. 1. cap. 9. §. 19. ist.
 
 
3) quilibet ex voluntate Dei in societate humana alteri obligatur, ad ea facienda, quae tranquilitatem et pacem inter homines necessario conservant, et ad contraria vitanda, das ist, ein ieder ist nach dem Willen GOTTes in der menschlichen Gesellschafft gegen den andern verpflichtet, das zu thun, was die Ruhe und den Frieden unter den Menschen nothwendig erhält, und das Gegentheil zu vermeiden. Dieses ist der Grund-Satz des Herrn Böhmers in introd. in jus publ. univers. §. 37.
 
 
4) Man soll alles dasjenige, was zur Erhaltung friedlicher Gesellschafft unter den Menschen nothwendig erfordert wird, thun; und hingegen alles, was selbige verunruhiget oder gar aufhebet, lassen; des Herrn Gentzkens in der Anleitung glückselig zu leben, cap. 2.§ 2.
 
 
5) quicquid ad tranquillitatem generis humani necessarium est, illud jure naturae praecipitur, und quicquid hanc unionem dissolvit, illud jure naturae prohibetur, das ist, was nur zur Ruhe des menschlichen Geschlechts nöthig ist, das ist nach dem Rechte der Natur geboten, und was diese Einigkeit aufhebet, das ist nach dem Rechte der Natur verboten; dieser ist der Grund-Satz des Herrn Georg Bayers in delineat. jur. divin. cap. 9. §. 22. u.ff.
 
 
6) omne, quod pacem externam societatis humanae necessario et directe turbat atque impedit, illud est vitandum, das ist, alles, was den äusserlichen Frieden der menschlichen Gesellschafft nothwendig und directe stöhret und hindert, das ist zu vermeiden; so ein Satz des Herrn Schwartzens in disquis. 1. prob. jur. nat. et gent.
 
  wohin man auch  
 
7) den Grund-Satz des Herrn Thomasii: was du willst, dass die Leute nicht thun sollen, das thue ihnen auch nicht, rechnen kan, wiewol der Schwartz in der angeführten Schrifft pag. 13. verschiedenes dagegen erinnert.
 
Pufendorffs Prinzip Alle diese Principia lauffen  
  {Sp. 1221|S. 628}  
  auf das Pufendorffische: Man soll gesellschafftlich leben, hinaus, und man hat nur, weil das Wort: Gesellschafftlich (socialiter) etwas dunckel seyn dürffte, die Sache deutlicher ausdrücken wollen; in der Abhandlung aber selbst der besondern Materien gehen sie einiger massen von ihm ab.  
  Denn sie suchen daher die Pflichten gegen GOTT und gegen sich selbst nicht Folgerungs-weise zu leiten, sondern nehmen das natürliche Recht in engerm Verstande, daß dahin nur die nothwendigen Pflichten gegen andere gehören, die Pflichten aber gegen GOTT verweisen sie in die Theologie; gegen sich selbst in die Ethick, und des Wohlstandes, wenn man andern Gefälligkeit erweiset, in die Politick.  
  Wenn die Sache bloß auf die Ordnung ankommt, wo man von dieser oder iener Materie am bequemsten handeln kan, ohne daß in den Wahrheiten selbst etwas geändert wird, und man die Pflichten gegen GOTT und gegen sich für eigentliche Pflichten, die aus dem natürlichen Gesetz entspringen, gelten lässet, so ist an diesem Unterscheid nicht viel gelegen, und die Sache kommt auf eins hinaus.  
  Noch einen anderen Weg hat hierinnen Rüdiger in Instit. erud. pag. 447. edit. 3. indem er zwar Socialität zum Grund setzet, daraus aber zweyerley Pflichten der Nothwendigkeit und Bequemlichkeit folgert, auch die Lehre von der Tugend zu dem natürlichen Recht rechnet. Die Pflichten gegen sich nennet er Pflichten gegen andere, welche gegen sie indirecte beobachtet würden, und die Pflichten gegen GOTT siehet er für ein Stück der Theologie an.  
Liebe gegen den Nächsten Es gehören auch diejenigen hieher, welche die Liebe gegen den Nächsten zum Grund setzen. Richard Cumberland war dem Hobbesio entgegen, und weil dieser das natürliche Recht aus der Furcht gegen einander und iedermans Krieg wieder iemanden herleiten wolte, so ergrieff er in Disquisit. philos. de legibus not. cap. 1. §. 4. den Gegen-Satz, und sagte, die Liebe und Wohlgewogenheit gegen einander sey der Grund-Satz des natürlichen Rechts.  
  Eben dahin gehen die Gedancken des Herrn Müllers über Gracians Orac. Max. 54. pag. 405. Cent. 1. daß die Liebe gegen den Nächsten, als uns selbst, das Principium des natürlichen Gesetzes sey. Denn da vermöge der generalesten Grund-Regeln der natürlichen Sitten-Lehre wir GOTT zu gehorchen, das ist, unsern Willen mit seinem durch die Vernunfft erkannten Willen zu conformiren schuldig; so folge, daß auch die Liebe, die wir unserm Nächsten schuldig, dem Willen GOTTes gemäß seyn müsse.  
  Nun erkenne die Vernunfft aus dem Wesen der besondern Vorsehung GOTTes, die er durchgehends vor das gantze menschliche Geschlecht habe, daß er alle Menschen gleich durch, und meinen Nächsten sowol, als mich liebe, und in der Gesellschafft erhalten wissen wolle. Also, da unser Wille und unsere Liebe, wenn sie vernünfftig seyn soll, den Willen GOTTES zur Richtschnur haben  
  {Sp. 1222}  
  müsse, so sey der Vernunfft und natürlichen Billigkeit gemäß, daß wir unsern Nächsten lieben als uns selbst, und also einen solchen Grad mutueller Zuneigung gegen einander hegen, daß einer des andern Wohlergehen, als sein eigenes sich anbefohlen seyn lasse.  
  Eben dieses sey auch leicht folgender Gestalt zu erweisen: Diejenige Liebe, die ich meinem Nächsten zu erweisen schuldig sey, die sey er auch mir zu erweisen verpflichtet, und also eine iede Schuldigkeit, die ich ihm, in Krafft meiner Liebe gegen ihn, erweisen solle, die müsse er hinwiederum in Regard seiner Liebe gegen mich auch prätendiren zu können, berechtiget seyn.  
  Dahero dependirten auf einer Seiten die Pflichten, die ich meinem Nächsten erweisen solle, und auf der andern Seiten die Befugniß oder das Recht, solche Pflichten von mir zu fordern, auf einerley Grund, nemlich auf der mutuellen Liebe der Menschen gegen einander. Es hat schon Benedictus Winckler, welcher noch vor dem Grotio de principiis justi geschrieben, gelehret, was die wahre und aufrichtige Liebe gegen GOTT und den Menschen befiehlet, das ist Rechtens der Natur, und Hugo de Roy de eo quod justum est lib. 1. tit. 3. §. 5. sagt gleichfalls, es gründe sich das Gesetz der Natur darauf, daß man GOTT liebe, und seinen Nächsten als sich selbst, wiewol diese zugleich die Pflichten gegen GOTT und gegen sich selbst zum natürlichen Recht rechnen.  
Drei Prinzipien So haben auch verschiedene dafür gehalten, man gäbe sich vergebene Mühe, wenn man ein einiges Principium suchen wolte, und da man dreyerley Pflichten im natürlichen Recht hätte, so müste man auch nach diesem dreyfachen Objecto drey Principia setzen, wie der Herr Doctor Buddeus in Element. philos. pract. part. 2. cap. 4. Sect. 1 welcher diese drey Grund-Regeln: ehre GOTT, lebe mäßig und gesellschafftlich (DEUM cole, temperanter vive, socialiter vive) hat.  
  Im Jahr 1697 wurde unter ihm eine Disputation de primo juris naturae principio gehalten, darinnen man die ordentliche Liebe seiner eigenen Glückseligkeit zum Grunde dieses Rechts machte. Auf gleiche Art nehmen Pagenstecher in Syllog. dissertation. diss. 1. pag. 30. und Becman polit. parall. cap. 2. §. 11. die Liebe gegen GOTT, gegen sich selbst und gegen andere, als Principia an.  
Einwendungen dagegen Es haben einige diesen Einwurff dagegen gemacht: Diese drey Principia sind entweder einander entgegen gesetzet, und also muß eins davon falsch seyn, oder subordiniret, und muß daher ein ersteres da seyn, das die andern unter sich begreifft. Wie nun das erstere falsch, daß diese drey Regeln einander entgegen gesetzt seyn solten, also haben einige in Ansehung des letztern vermeynet, sie stünden unter dem allgemeinen moralischen Grund-Satz: man müsse GOtt gehorchen, oder damit man dem natürlichen Recht näher komme: man müsse der menschlichen Natur gemäß leben.  
     

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Stand: 23. August 2016 © Hans-Walter Pries