|
Text |
Quellenangaben |
|
Zeit,
Lat.
Tempus,
Frantz.
Temps oder Tems, Ital.
Tempo, ist eine
gewisse und
determinirte Verweilung der Gestirne in ihrem Lauffe, wornach das
Seyn und
Dauern anderer
Dinge gemessen wird; oder die Zeit ist das Maas der Währung der Dinge; oder, wie sie die
Alten beschrieben, die Zeit ist eine
Zahl oder Abmessung der vergangenen und zukünfftigen
Bewegung. |
|
|
Wenn durch die Bewegung diejenige gemeynet wird, so die Sonne und der Mond mit
ihrem Umlauff verrichten, hat sothane Beschreibung ihre Richtigkeit. Denn weil alles
Thun
und alle
Handlungen nicht auf einmahl und in einem Augenblick vollbracht werden, sondern
einen gewissen Zug oder Fluß erfordern, in welchem sie geschehen können, und solcher
Zug aus unzehlbaren kleinen an einander hangenden Theilen bestehet; hat man zu einem
Maaß desselben die Bewegung solcher grossen Himmels-Lichter, als das richtigste,
beständigste, allgemeineste, und von der
Natur selbst angewiesene, ja von dem Urheber der
Natur eingesetzte Maaß angenommen, und nach solchen die Zeit in Minuten,
Stunden,
Tage, Wochen, Monate und
Jahre abgetheilet. Diesemnach ist die Zeit ein äusserlicher
Umstand der wesentlichen
Dinge, wie sie in ihrer Währung mit mehrbesagtem Umlauff
zugleich bestehen, und von unserem
Verstande damit verglichen werden. |
|
|
Andere wollen der Zeit weder Zahl noch
Bewegung, weder das erste noch das letzte,
sondern ein stets abweichendes und wiederkommendes Nun zugestehen, weil, wie sie
sagen, das vergangene nicht mehr vorhanden, das zukünfftige noch erst kommen soll, das
gegenwärtige aber so schnell vorbey gehet, daß es kaum begreifflich ist. |
|
|
Einige unter den neuern
Philosophen haben behauptet: Daß die Zeit in dem
weitläufftigsten
Verstande genommen, mit dem
Begriff des
quando einerley sey. Das
Quando aber nennen sie ein Abstractum des Daseyns, worinne wir die Möglichkeit vieler
Dinge gedencken. In engern Verstande soll die Zeit ein solches
quando seyn, in welchem
wahrhafftig eine Folge der Dinge, und der
Veränderungen, die auf einander folgen, vorgehet.
Die Zeit hätte sich mit der
Welt angefangen. Die Natur unsers
Verstandes nöthigte uns in
beyden
Arten der Zeiten einige Theilgen oder Augenblicke, ob sie gleich nicht
entia completa sind, und in dem Subjecte hangen, sondern nur von aussen dabey sind, zu
unterscheiden. |
|
|
Der Begriff des Quando wäre der
Natur nach eher als der
Begriff der Zeit im engen
Verstande. Wenn etwas existirte: So erforderte es zum wenigsten zwey Momente der Zeit zu
seinem Daseyn. Denn ein Moment sey der kleinste Theil der Zeit und des quando. Wenn
nun etwas in einem Moment existirte; so würde folgen, daß es in einem kurtzen Puncte der
Zeit und des quando zugleich wäre, weil es anfinge; und nicht wäre, |
|
|
{Sp. 726} |
|
|
weil es aufhörete. Dieses aber wäre ein Widerspruch. |
Röselitz Disp. de successione momentorum in ipsa aeternitate,
Leipzig
1746. Siehe auch die Vollständige Nachrichten von dem Innhalte der kleinen Academischen
Schrifften, III
Band,…¶ |
|
Denen Leibnitz-Wolfianern ist die Zeit eine
Ordnung dessen, was aufeinander folgt,
dergestalt, daß, wenn man eins als das erste annimmt, ein anders das andere, und noch ein
anders das dritte wird u.s.f. Die Erläuterung dieser Erklärung folget in dem nachstehende
Abschnitte.¶ |
|
|
|
|
|
1. Erläuterung der von der Zeit gegebenen Erklärung der neuern Weltweisen.
¶ |
|
|
Wir erlangen einen
Begriff von der Zeit dadurch, daß wir
erkennen, daß etwas nach und
nach entstehen könne; ingleichen, wenn wir darauf Acht haben, daß unsere
Gedancken auf
einander folgen, erlangen wir einen Begriff von der Zeit, nehmlich daß sie sey eine
Ordnung
dessen, was auf einander folget, dergestalt, daß, wenn man eins als das erste annimmt, ein
anders das andere, und noch ein anders das dritte wird, u.s.f. von welcher Erklärung wir
kurtz vorhergesagt, daß sie die Leibnitz-Wolffische sey. |
|
|
Was demnach der Raum in den
Dingen ist, die nebeneinander zugleich sind, das ist die
Zeit in denen, die nacheinander sind, oder deren eines auf das andere folgt. Weil wir den
Begriff von der Zeit haben, vermittelst der
Veränderungen, die in unsern
Gedancken oder
auch den Dingen, die wir uns vorstellen, sich ereignen; so können wir alle Zeiten
unterscheiden und
erkennen, in welchen sich eine Veränderung zuträgt, die wir von andern
zu unterscheiden auf einige Art und Weise vermögend sind. Und die Zeiten, die wir auf
solche Weise unterscheiden, sind würckliche Theile der Zeit. Es ist aber hieraus leicht zu
erachten, daß die Zeit an einem Dinge nichts ändere, indem sie mit seinem innern gar nichts
zu thun hat; unterdessen doch von ihm, und einer andern Zeit, jedoch von der letztern nur
der Zahl nach, unterschieden ist.¶ |
|
|
Alles was nach und nach geschiehet, das geschiehet in der Zeit. Denn da man hier
vieles von einander unterscheiden kan, deren eines vorher gehet, daß andere darauf folgt,
so hat man eine Zeit. Derowegen weil zusammengesetzte
Dinge nach und nach entstehen
können; so können sie auch in einer Zeit entstehen, das ist, indem sie entstehen, oder zur
Würcklichkeit gelangen, verfliesset eine gewisse Zeit. Hingegen kan keine Zeit verfliessen,
indem ein einfaches Ding entstehet, wenn man annimmt, daß es entstehen, oder zur
Würcklichkeit gelangen soll, da es vorher bloß möglich war. Denn da sie auf einmahl
entstehen müssen, wenn sie entstehen sollen: so lässet sich hier nichts unterscheiden, was,
indem sie entstunden, auf einander folgte. Und also hat man hier keine Zeit. Es ist hierdurch
überhaupt klar, daß nichts, was auf |
|
|
{Sp. 727|S. 377} |
|
|
einmahl geschiehet, in einer Zeit geschiehet, das ist, daß keine Zeit vorbey streichet,
indem es geschiehet. Der
Beweiß ist allgemein, ob er gleich bloß in einem besondern Falle
angebracht wird.¶ |
|
|
Es ist indessen gewiß, daß sich die allerwenigsten
Menschen, um die wahre
Beschaffenheit der Zeit bekümmern. Die allermeisten haben die dunckelsten und
verworrensten
Begriffe davon, ob sie gleich mehr als der gemeine Pöbel bedeuten wollen.
Sie legen einen
Tag nach dem andern, eine Woche nach der andern, ja wohl gar ein
Jahr
nach dem andern zurück, und dencken doch offt so wenig an ihre Zeit, die sie in der
Welt
zubringen, ja an ihr gantzes
Leben, welches aus derselben bestehet, und gleichsam
zusammen gesetzet ist, mit einiger Aufmercksamkeit zurück. Ein Tag vergehet nach dem
andern, ja ein Jahr, das so viele Tage zählet, vergehet, nach dem andern, so, daß offt 30-40
und mehrere Jahre endlich vorüber streichen, ehe wir es einmahl recht gewahr werden.
Diese gantze Zeit über machen wir uns offt mit allerhand
Dingen viel zu thun, und zu
schaffen: Wir lauffen und rennen, wir tichten und trachten, und nehmen allerhand vor, womit
wir diese Zeit nur hinbringen können, ja wir bemühen uns offt, daß wir nur etwas zu thun
bekommen, damit dieselbe inzwischen unvermerckt vergehen möge. |
|
|
Bey alledem aber fällt es uns nicht einmahl ein, über die Beschaffenheit der Zeit zu
dencken. Die meisten stellen sich die Zeit fast nicht anders als ein allgemeines Behältniß
vor, darinne sie, und andere neben ihnen in der
Welt befindlichen
Dinge, gleichsam
verschlossen, und von allen Seiten umgeben sind, ja sie bilden sich dieselbe wie einen
Strom ein, der sie nebst andern Dingen gleichsam mit sich fortführe, und dahin reisse, ohne
zu bedencken, daß sie selbst, und die Dinge, die neben ihnen in der Welt sind, mit ihrer
Dauer die Zeit selbst erst machen, und derselben so zu reden ihr gantzes Leben geben.¶ |
|
|
|
|
|
2. Eintheilung der Zeit.¶ |
|
|
Die Natur theilet die Zeit sehr klein ein. Wir können die Theile der Zeit nicht anders
erkennen, und von andern Theilen unterscheiden, als durch die
Veränderungen, die sich
darinne zutragen. Da nun die Vergrösserungs-Gläser die Kleinigkeiten in der Natur
entdecken, die wir sonst wahrzunehmen nicht vermögend sind; so müssen wir nicht weniger
bey der Eintheilung der Zeit als des Raumes zu ihnen unsere Zuflucht nehmen. Es hat
Deslisle durch ein Fern-Glas ein kleines Würmgen gesehen, das in einer Zeit von einer
Secunde, in welcher kaum der Puls einmahl schlagen kan, tausendmahl den Fuß bewegt.
Und also kan man eine Zeit, die wir einen Augenblick nennen, noch in 1000, folgends eine
Stunde, so 3600 Secunden hat, in 3600000 merckliche Theile eintheilen. |
|
|
Unterdessen ist dieses noch nicht der Kleineste unter den mercklichen Theilen. Denn,
wenn wir untersuchen wollen, was von Leeuwenhöcken und andern von solchen
Veränderungen aufgezeichnet worden, die sie durch gute Vergrösserungs-Gläser heraus
bringen können: so werden wir noch viel kleinere Theile der Zeit |
|
|
{Sp. 728} |
|
|
mercklich unterscheiden können. Ja man könnte auch, wenn es nöthig wäre, selbst
durch die Eintheilung des Raumes die Eintheilung der Zeit beweisen. Denn man darff nur
einen Raum annehmen, dadurch in einer sehr kleinen Zeit eine
Bewegung geschiehet, und
nach diesem untersuchen, wie kleine man in gewissen Fällen durch die Vergrösserungs-Gläser dergleichen Raum getheilet findet. Denn etwas kleines muß in einem jeden solchen
Theile, er mag noch so klein seyn, eine gewisse Zeit zubringen, indem es unmöglich zwey
Theile des Raumes auf einmahl erfüllen kan. |
|
|
Der
Begriff von der Zeit kommet insgemein leichter vor, als von dem Raume. Denn weil
die Theile der Zeit nicht zugleich da sind, sondern eines vergehet, das andere kommt; so
erkennet man gar bald, daß die
Einbildungs-Krafft mit darzu etwas dichtet, wenn wir uns die
Zeit als eine Linie vorstellen, die durch die
Bewegung eines Punctes ohne Aufhören
immerfort verlängert wird. Hingegen da die Theile des Raums auf einmahl bey einander sind:
So lässet mans leichter zu, als wenn ein solches
Ding ausser uns vorhanden wäre, das eine
Ähnlichkeit mit dem Bilde in der Einbildungs-Krafft hätte. Unterdessen liegt die Ähnlichkeit
zwischen Zeit und Raume einem jeden vor Augen, und wer diese erwogen, den befremdet
der Begriff des Raumes nicht mehr so, wie im Anfange.¶ |
|
|
Wenn wir kleine Zeiten begreifflich machen wollen, und würckliche Theile davon
bekommen: So müssen wir auf die
Bewegungen Acht geben, die sich durch die
Vergrösserungs-Gläser unterscheiden, oder aus demjenigen, was sich dadurch
unterscheidet, berechnen lassen. Es kommen aber solche Fälle vor, da man auf die
Kleinigkeit der Zeit Acht zu geben hat, z.E. Wenn man sich die Grösse der göttlichen
Erkenntniß, und daraus die Grösse des
göttlichen Verstandes
in etwas begreiflich machen
will, daß wir sie nicht mehr aus blosser Unwissenheit, sondern mit
Verstande bewundern,
indem wir würcklich etwas davon
erkennen, daß sie unbegreiflich ist, nicht aber bloß uns
bewust sind, daß wir sie nicht begreiffen. |
|
|
Die Vergrösserungs-Gläser haben in Eintheilung des Raums eben den
Nutzen, den wir
ihnen bey der Zeit zugeeignet haben, und es ist ebenso nützlich die kleinen Theile des
Raumes begreifflich zu machen, als die kleinen Theile der Zeit. Es hat mit dem
Begriffe der
Zeit eben die Bewandniß, wie mit dem Begriffe des Raums. Nehmlich das gemeine Bild
dienet uns darzu, daß wir die Zeit abmessen, und in der Mathematick uns unter einer Linie
vorstellen können: welches nicht wenig zu sagen hat, wie denen bekannt ist, die sich in der
höhern Geometrie der heutigen Mathematick-Verständigen umsehen.¶ |
|
|
Die Zeit ist, eigentlich zu
reden, nicht etwas ausser uns, sondern in uns: Wenn wir
dieselbe aber in
Jahre, Monate, Wochen, und
Tage eintheilen, so ist dieses nur eine
Vergleichung und gleichsam Zusammenhaltung unserer Zeit mit der Zeit anderer, neben uns
in der |
|
|
{Sp. 729|S. 378} |
|
|
Welt befindlichen
Dinge, sonderlich aber der Himmlischen Cörper, und derselben
Bewegungen, und
Veränderungen, damit wir nach derselben unsere Zeit gleichsam
abmessen, und in gewisse, nach solchen Bewegungen und Veränderungen eingerichtete
Stücke eintheilen können. Wenn aber gleich nichts in der Welt ist, und ausser uns da wäre,
mit welchem wir unsere Zeit also zusammen halten, und nach demselben abmessen
könnten: so würde unsre Zeit nichts destoweniger dennoch eben so gut vor sich
fortgehen.¶ |
|
|
Man nennet diese Zeit in der
Philosophie die innerliche Zeit, weil sie gleichsam in den
Sachen selbst, denen sie beygeleget wird, sich befindet, und setzen sie der
äusserlichen, die
aus der Vergleichung und Zusammenhaltung der Zeit des einen
Dinges mit der Zeit eines
andern gleichsam entstehet, entgegen; weil diese nemlich sich nicht in den Sachen selbst
findet, sondern eine blosse
Würckung unsers
Verstandes ist.
Augustinus hat diese beyden
Bedeutungen nicht genugsam erwogen, und von einander unterschieden, wenn er an einem
gewissen Orte schreibt: Si nemo ex me quaerat, quid tempus sit, scio: si quaerenti explicare
velim nescio; Wenn mich jemand fragt, was die Zeit sey, so weiß ich es; wenn ich aber dem,
der mich darum fragt, es erklären will, so weiß ich es nicht, |
Lib. II. Confess. Cap. XIV. |
|
Daher hatte er auch noch keinen deutlichen
Begriff von dem, was man unter diesem
Worte eigentlich dencken muß. Und in der That ist dieses auch der wahre
Grund von allen
verwirrten Begriffen, die man sich von der Zeit zu machen pflegt: Daher wir auch diese
verschiedenen Bedeutungen hier vor allen Dingen haben von ein, ander absondern
müssen.¶ |
|
|
Was nun die innerliche Zeit sey, wird ein jeder aus dem, was bisher
gesagt ist, von
selbst einiger massen abnehmen können. Man leget in dem gemeinen Gebrauche dieser
Worte denjenigen
Dingen eine Zeit in diesem
Verstande bey, die ihre Dauer zwar eine Weile
fortsetzen, dabey aber so wohl einen Anfang als auch ein Ende ihres Daseyns haben. Denn
der Dauer solcher Dinge, die entweder keinen Anfang und Ende, oder auch zwar einen
Anfang, aber kein Ende haben, hat man im gemeinen
Leben schon längst andern
Nahmen
beygeleget, von welchem wir aber hier nicht reden wollen. |
|
|
Die Zeit kan also auch folgender massen definiret werden, daß sie die mit einem Anfang
und Ende verknüpffte Dauer eines jeden Dinges sey, dem dergleichen zukommt. Unter dem
Nahmen der Dauer
verstehet man gemeiniglich nichts anders, als die Fortsetzung des
Daseyns eines
Dinges, das einmahl seine
Würcklichkeit erreichet hat. Ein Ding also, daß
jetzt z.E. da ist, da man an dasselbe denckt, und sich dasselbe vorstellt, und wenn dieser
Gedancken in einem vorüber ist, noch da ist, und also sein
Wesen auf solche Art fortsetzet;
dem legt man eine Dauer bey: und eine solche Dauer, wenn sie ihren Anfang und Ende hat,
ist es, so man die Zeit nennet. |
|
|
Wenn nun die Dauer eines Dinges entstehet, wenn etwas sein Daseyn durch
verschiedene solcher Augenblicke, die wieder nur in
Gedancken von einander absondern,
und ein Nun überhaupt nennen können, fortsetzet, und also eine Dauer aus verschie- |
|
|
{Sp. 730} |
|
|
denen dergleichen Augenblicken oder Nun gleichsam zusammen gesetzet ist: so muß
man dieses nun auch besonders von der Zeit, und also auch von unserer Zeit, die uns
gleichsam eigen ist, sagen. Unsere Zeit ist freylich daher auf gewisse Masse nicht anders als
ein Strom anzusehen, der aus vielen kleinen Tropffen, oder als eine Linie, die aus
verschiedenen untheilbaren Puncten, entstehet, und gleichsam zusammengesetzt ist: nur mit
dem Unterschied, daß was in derselben einmahl vorüber ist, auch zugleich aufhöret zu seyn,
und seinem Gantzen, zu dem es gehöret, abgehet; dahingegen die Tropffen sowohl in
einem Strome, als die verschiedenen Puncte in einer in
Bewegung gesetzten Linie noch da
sind, wenn sie gleich vorüber sind, und ihre Dauer so gut, wie vorher fortsetzen. |
|
|
Unsere gantze
Lebens-Zeit, die wir in der
Welt zubringen, bestehet also aus lauter
untheilbaren Augenblicken, die, sobald sie nur vorüber sind, auch sogleich verschwinden,
und zugleich einen Theil nach dem andern von unserer gantzen Dauer gleichsam mit sich
dahin nehmen. Je länger wir also in der Welt leben, je mehr gehet von unserer uns
bestimmten Dauer ab, und dahero fängt sich dieselbe schon an zu ihrem Untergange zu
neigen, sobald sie nur ihren Anfang genommen hat. Ein jeder Augenblick, in welchem wir
unser Leben fortsetzen, ist eine neue Verkürtzung desselben, und je länger wir leben, je
weniger bleibt uns zu leben übrig. |
-
Wolfens vernünfftige Gedancken von GOtt, der Welt, und der
Seele des Menschen, …
- Wöchentliche Göttingische Nachrichten des Jahrs 1735
…¶
|
|
Einige
Weltweisen
verstehen durch die
innere Zeit die Dauer einer jeglichen
Sache, die
den
Veränderungen unterworffen, und ihren Anfang und Ende hat. Die
äussere nennen sie
die Abmessung der Dauer, welche vermittelst der Sonne und des Mondes geschiehet. Die
innerliche Zeit wird auch die metaphysische, und die äusserliche die
Physische und
Astronomische genennet.¶ |
|
|
Ausser diesen gewöhnlichen Eintheilungen der Zeit, giebt es noch eine grosse Menge,
welche man unter Tempus, im XLII
Bande,
p. 806 u.ff. entweder abgehandelt, oder unter
andere
Artickel verwiesen finden wird. Hier wollen wir noch einige
Arten betrachten, die
übrigen aber in besondern Artickeln abhandeln. |
|
|
TEMPUS QUIESCENS wird diejenige Zeit genennet, in welcher man eine
Sache
entweder ihrer
Natur nach, nicht besitzen kan, oder nicht besitzen will. |
Chladenii Opuscula Academica … |
|
Die Zeit kan auch abstract betrachtet werden, wenn man nur eine mögliche Reihe der
Dinge, die auf einander folgen und einander ähnlich sind, annimmt. Und also dencken wir
zuweilen, es sey Zeit übrig, wenn wir uns eine mögliche Reihe der Dinge die auf einander
folgend, einbilden, obgleich keine Dinge existiren, die würcklich aufeinander folgten. Auf
diese Art muß man die Zeit in Abstracto betrachtet, nicht mit der Zeit
in Concreto, oder die in
der
Welt ist, vermengen. |
|
|
Man kan sich auch einen eingebildeten Begriff von der Zeit machen, (Notionem temporis
imaginariam) wenn man zur
Idee der Zeit, abstract be- |
|
|
{Sp. 731|S. 379} |
|
|
trachtet, hinzusetzet, daß sie ein von den aufeinander folgenden
Dingen dermassen
unterschiedenes Ding sey, welches als ein zusammengesetztes Ding aus lauter beständig
auf einander folgenden Theilen, die innerlich nicht unterschieden werden, annoch dauere.
Denn eine Zeit von der
Art kan nicht statt haben; folglich ist dieses eine
eingebildete Zeit, oder der
Begriff von dieser Zeit bestehet bloß in der
Einbildung. |
- Reuschens Systema Metaphysicum
…
- Scheibler in
opere
Metaphysico …
-
Donati Metaphys. Usual. …
- Hebenstreit in Philosoph. prim. …
- Walchs
Philosophisches Lexicon.¶
|
|
Wie man aber eigentlich die Zeit abzumessen und einzutheilen pfleget; dieses gehöret
hauptsächlich in die Chronologie, siehe Chronologie, im V
Bande,
p. 2270.¶ |
|
|
|
|
|
3. Was die Sonne bey der Zeit thut?¶ |
|
|
Die Sonne träget vieles bey, die Zeit zu bestimmen. Aus der Sonne lässet sich
erkennen, wenn es Mittag ist, und dadurch, daß man diese Zeit genau erkennet, lassen sich
die Uhren richtig stellen, daran absonderlich in der Astronomie viel gelegen ist. Man kan
auch aus der Sonnen-Höhe die Stunde und Minute, ja noch kleinere Theile der Zeit finden,
und auf solche Weise die Zeit, da etwas geschehen, genau erkennen, woran wiederum in
der Astronomie, und in andern von dieser
Wissenschafft dependirenden
Dingen gar viel
gelegen ist. Und also ist uns auch die Sonne zur
Erkenntniß der Zeit behülfflich. |
Wolfs Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge, §.
54.¶ |
|
|
|
|
4. Wie man ohne Uhr die Zeit genau bemercken kan?¶ |
|
|
Wenn man fragt, wie man ohne eine Uhr die Zeit in kleinen Theilen genau bemercken
kan: so giebt uns Galiläus Dialog … ein Mittel an die Hand, dessen er sich in dergleichen
Fällen bedient. Er hat nemlich ein grosses Gefässe mit Wasser aufgehangen, und in den
Boden durch ein enges Röhrlein das Wasser in ein Glas lauffen lassen, so lange ein
Cörper
gefallen. Weil nun das Gefäß sehr breit, die Zeit hingegen sehr kurtz gewesen: so hat sich
das Wasser wenig gesetzet, und ist demnach gleich viel gewesen, als wenn es im Gefässe
immer gleich hoch gestanden, und mit unveränderter Geschwindigkeit heraus gelauffen
wäre. Derowegen weil in diesem Falle in gleicher Zeit gleich viel Wasser heraus läufft,
zweymahl soviel Wasser aber zweymahl so schwer ist, als einmahl so viel: so verhält sich
die Zeit, wie die Schwere des Wassers, welches in derselben aus dem Gefässe heraus
gelauffen. Und demnach hat er das Wasser auf einer genauen Waage abgewogen: so hat er
auch daraus die Verhältniß der Zeit finden können, nehmlich ob ein Fall zwey, drey, vier, und
mehrmahl so lange gedauret als der andere.¶ |
|
|
Man kan auch eine Kugel an einen Faden binden, und dergestalt aufhängen, daß sie um
den Nagel beweglich ist. Denn, wenn man sie nicht gar zu sehr ausschweiffen lässet: so
bringet sie ihren Lauff einmahl so geschwinde zu Ende, als das andere, und |
|
|
{Sp. 732} |
|
|
kan daher zum Maasse der Zeit gebrauchet werden. Galiläus, Ricciolus
und andere
haben selbst in der Astronomie die Zeit auf solche Weise abgemessen. Anderer Mittel wollen
wir jetzo nicht gedencken. |
Wolfs nützliche Versuche, Th. II, §. 2.¶ |
|
|
|
|
5. Wie man seine Zeit anzuwenden habe?¶ |
|
|
Ein
Philosophischer Moraliste untersuchet die Frage: Wie man seine Zeit anzuwenden
habe? Der
Mensch darf die Zeit seines
Lebens nicht nach seinem Gefallen brauchen, indem
er da ist, daß er sich und andere glückselig mache, folglich soll er die Zeit so brauchen, wie
es
GOttes Willen gemäß ist, daß er
Nutzen in der
Welt schaffe, und den wahren Fleiß ausübe. Dieses kan in Ansehung der unterschiedenen
Ständen, darinnen sich die Menschen
befinden; in Ansehung der
Kräfften, die sie haben, insonderheit und in Ansehung des
Jahrhunderts, darinnen sie leben, auf unterschiedene Art geschehen, worzu die
Klugheit zu
leben Anweisung giebt. |
|
|
Der Mißbrauch der Zeit bestehet im
Müßiggange, da man eines Theils solche
Verrichtungen vornimmt, die eitel sind, und keinen
Nutzen bringen; andern Theils seinem
verderbten Triebe zu gefallen gar nichts thut. Sein
Amt kan man niederlegen, und sich von
aller
Arbeit befreyen; wenn dieses nicht aus Faulheit, sondern mit Absehen geschiehet,
seinem
GOtt besser zu dienen; Wenn hierdurch ein
Land,
Stadt oder
Gemeine keinen
Schaden nimmt; und wenn es Alters oder Unvermögens halber geschiehet.¶ |
|
|
Unter allen Augenblicken, aus welchen die Zeit unsers
Lebens gleichsam zusammen
gesetzet ist, oder durch welche es vielmehr nach und nach abnimmt, und verkürtzet wird, ist
kein eintziger eigentlich unser, und in unserer
Gewalt, als der gegenwärtig ist, und der kaum
so lange dauret, als wir nur dencken, oder auch ein solches Nun nur nennen können. Denn
der einmahl vergangen ist, der ist vorbey, und nicht mehr unser, und stehet daher auch nicht
weiter in unserer Gewalt, ihn so oder so zu gebrauchen: und der noch zukünfftig ist, wie
denn alles dergleichen ist, was wir zu einem gegenwärtigen Nun nicht mit rechnen können,
das müssen wir blos erwarten, und stehet daher derselbe auch eben so wenig in unserm
Vermögen. Auch nicht der allernächste Augenblick unserer Dauer, den wir nur dencken
können, ist unserm eigenen Willkühr überlassen, sondern wir müssen ihn bloß von dem
Willen dessen, in dessen Händen unser Leben und
Tod stehet, und dessen Aufsehen allein
unsern Othem bewahret, mit
Gedult und Gelassenheit erwarten.¶ |
|
|
Wie sorgfältig solten wir nun daher nicht seyn, wenn wir dieses recht gedächten, einen
gegenwärtigen Augenblick unsers
Lebens, der nur allein immer von unsern gantzen
Leben eigentlich unser ist, und in unserer
Gewalt stehet, wohl anzuwenden, da wir zu keiner
Zeit wissen können, ob auch der allernächste gewiß nachfolgen werde. Ja einen jeden
müßigen Augenblick, den wir haben, solten wir von Rechtswegen nur darzu anwenden, daß
wir in demselben bedächten, wie wir uns des folgenden, wenn uns derselbe noch zu Theil
werden solte, desto besser bedienen wol- |
|
|
{Sp. 733|S. 380} |
|
|
ten. Wie bald ist ein solcher Augenblick nicht verstrichen, und wie leicht ist es nicht, daß
ein jeder, der noch da ist, der letzte sey. Solten wir nun nicht auf jeden derselben besonders
Acht haben, und nicht verschwenderisch, und nachläßig mit unserer Zeit umgehen? Würde
nicht, wenn wir unser
Leben auf solche Weise führten, solches endlich ein Zusammenhang
und gleichsam eine Kette von lauter
GOtt und
Menschen wohlgefälligen Tugenden werden?
und würde wohl ein Mensch in der
Welt seyn, der sich würde entschliessen können, den
eintzigen Augenblick, den er vielleicht nur noch zu seinem Gebrauche hat, darzu
anzuwenden, daß er in demselben noch seines Neben-Menschen Teuffel werde? |
|
|
Gewiß diese Betrachtung würde viele, wenn sie derselben gebührend nachdencken
wolten, dahin bringen, daß sie ihr gantzes
Leben, mit weit mehrerer Vorsicht,
Klugheit und
Behutsamkeit, als von den meisten geschiehet, zu führen anfiengen, und also gewiß endlich
vernünfftige
Menschen; so dann aber auch desto eher ungeheuchelte Christen abgeben
würden. Vielleicht kommt aber dieses manchen zu betrübt und zu melancholisch vor, wenn
er auf diese Weise einen jeden Augenblick seines Lebens, als einen solchen, den er allein
nur in seiner
Gewalt habe, und er vielleicht der letzte sey, sich vorstellen, und von einem
jeden folgenden zugleich dencken solle, ob er auch noch nachkommen werde, indem er auf
diese Weise ja in beständiger
Furcht des
Todes seyn müsse. Allein diejenigen, die solche
Einwendung hier haben, mögen sich des Epicurs Ausspruch beym
Seneca zur Antwort
dienen lassen: meditare, utrum commodius sit, vel mortem transire ad nos, vel nos ad eam,
das ist, bedencke doch, was wohl besser sey: daß der Tod zu uns komme, und uns übereile:
oder wir vielmehr zu ihm kommen, und ihm entgegen gehen.¶ |
Seneca Epist. XXVI. |
|
Eben diese Betrachtungen sollen uns dahin bringen, daß wir uns mehr und mehr in
Verfassung setzen lernen, alle Augenblicke denselben mit standhafften
Gemüthe zu
erwarten. Niemand als ein Thor, und der etwa noch niemahls gedacht hat, daß er gewiß
einmahl sterben müsse,
fürchtet den
Tod.
Vita cum exceptione mortis data est,
sagt der
weise Seneca, ad hanc itur: quam ideo timere dementis est, quia certa expectantur, dubia
metuuntur, das ist, das
Leben ist uns mit der Ausnahme und Bedingung des Todes nur
gegeben worden: Hierzu führt uns nun dasselbe; ein Thor fürchtet daher diesen nur, weil
man das, was gewiß ist, allein erwartet: dasjenige aber, was ungewiß ist, nur fürchtet. |
Seneca Epist. XXX. |
|
Da nun der
Tod gewiß, und unvermeidlich ist: so ist uns nichts anders dabey übrig
gelassen, als daß wir einen jeden Augenblick der Zeit, als die nächste Staffel darzu,
ansehen, und uns dadurch mehr und mehr zu demselben gefast machen, folglich uns diese
Betrachtung der Zeit mit darzu dienen lassen.¶ |
|
|
|
|