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Zedler: Zeit [1] HIS-Data
5028-61-725-2-01
Titel: Zeit [1]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 61 Sp. 725
Jahr: 1749
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 61 S. 376
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Übersicht
1. Erläuterung der von der Zeit gegebenen Erklärung der neuern Weltweisen.
2. Eintheilung der Zeit.
3. Was die Sonne bey der Zeit thut?
4. Wie man ohne Uhr die Zeit genau bemercken kan?
5. Wie man seine Zeit anzuwenden habe?

  Text   Quellenangaben
  Zeit, Lat. Tempus, Frantz. Temps oder Tems, Ital. Tempo, ist eine gewisse und determinirte Verweilung der Gestirne in ihrem Lauffe, wornach das Seyn und Dauern anderer Dinge gemessen wird; oder die Zeit ist das Maas der Währung der Dinge; oder, wie sie die Alten beschrieben, die Zeit ist eine Zahl oder Abmessung der vergangenen und zukünfftigen Bewegung.  
  Wenn durch die Bewegung diejenige gemeynet wird, so die Sonne und der Mond mit ihrem Umlauff verrichten, hat sothane Beschreibung ihre Richtigkeit. Denn weil alles Thun und alle Handlungen nicht auf einmahl und in einem Augenblick vollbracht werden, sondern einen gewissen Zug oder Fluß erfordern, in welchem sie geschehen können, und solcher Zug aus unzehlbaren kleinen an einander hangenden Theilen bestehet; hat man zu einem Maaß desselben die Bewegung solcher grossen Himmels-Lichter, als das richtigste, beständigste, allgemeineste, und von der Natur selbst angewiesene, ja von dem Urheber der Natur eingesetzte Maaß angenommen, und nach solchen die Zeit in Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre abgetheilet. Diesemnach ist die Zeit ein äusserlicher Umstand der wesentlichen Dinge, wie sie in ihrer Währung mit mehrbesagtem Umlauff zugleich bestehen, und von unserem Verstande damit verglichen werden.  
  Andere wollen der Zeit weder Zahl noch Bewegung, weder das erste noch das letzte, sondern ein stets abweichendes und wiederkommendes Nun zugestehen, weil, wie sie sagen, das vergangene nicht mehr vorhanden, das zukünfftige noch erst kommen soll, das gegenwärtige aber so schnell vorbey gehet, daß es kaum begreifflich ist.  
  Einige unter den neuern Philosophen haben behauptet: Daß die Zeit in dem weitläufftigsten Verstande genommen, mit dem Begriff des quando einerley sey. Das Quando aber nennen sie ein Abstractum des Daseyns, worinne wir die Möglichkeit vieler Dinge gedencken. In engern Verstande soll die Zeit ein solches quando seyn, in welchem wahrhafftig eine Folge der Dinge, und der Veränderungen, die auf einander folgen, vorgehet. Die Zeit hätte sich mit der Welt angefangen. Die Natur unsers Verstandes nöthigte uns in beyden Arten der Zeiten einige Theilgen oder Augenblicke, ob sie gleich nicht entia completa sind, und in dem Subjecte hangen, sondern nur von aussen dabey sind, zu unterscheiden.  
  Der Begriff des Quando wäre der Natur nach eher als der Begriff der Zeit im engen Verstande. Wenn etwas existirte: So erforderte es zum wenigsten zwey Momente der Zeit zu seinem Daseyn. Denn ein Moment sey der kleinste Theil der Zeit und des quando. Wenn nun etwas in einem Moment existirte; so würde folgen, daß es in einem kurtzen Puncte der Zeit und des quando zugleich wäre, weil es anfinge; und nicht wäre,  
  {Sp. 726}  
  weil es aufhörete. Dieses aber wäre ein Widerspruch. Röselitz Disp. de successione momentorum in ipsa aeternitate, Leipzig 1746. Siehe auch die Vollständige Nachrichten von dem Innhalte der kleinen Academischen Schrifften, III Band,…
  Denen Leibnitz-Wolfianern ist die Zeit eine Ordnung dessen, was aufeinander folgt, dergestalt, daß, wenn man eins als das erste annimmt, ein anders das andere, und noch ein anders das dritte wird u.s.f. Die Erläuterung dieser Erklärung folget in dem nachstehende Abschnitte.  
     
  1. Erläuterung der von der Zeit gegebenen Erklärung der neuern Weltweisen.  
  Wir erlangen einen Begriff von der Zeit dadurch, daß wir erkennen, daß etwas nach und nach entstehen könne; ingleichen, wenn wir darauf Acht haben, daß unsere Gedancken auf einander folgen, erlangen wir einen Begriff von der Zeit, nehmlich daß sie sey eine Ordnung dessen, was auf einander folget, dergestalt, daß, wenn man eins als das erste annimmt, ein anders das andere, und noch ein anders das dritte wird, u.s.f. von welcher Erklärung wir kurtz vorhergesagt, daß sie die Leibnitz-Wolffische sey.  
  Was demnach der Raum in den Dingen ist, die nebeneinander zugleich sind, das ist die Zeit in denen, die nacheinander sind, oder deren eines auf das andere folgt. Weil wir den Begriff von der Zeit haben, vermittelst der Veränderungen, die in unsern Gedancken oder auch den Dingen, die wir uns vorstellen, sich ereignen; so können wir alle Zeiten unterscheiden und erkennen, in welchen sich eine Veränderung zuträgt, die wir von andern zu unterscheiden auf einige Art und Weise vermögend sind. Und die Zeiten, die wir auf solche Weise unterscheiden, sind würckliche Theile der Zeit. Es ist aber hieraus leicht zu erachten, daß die Zeit an einem Dinge nichts ändere, indem sie mit seinem innern gar nichts zu thun hat; unterdessen doch von ihm, und einer andern Zeit, jedoch von der letztern nur der Zahl nach, unterschieden ist.  
  Alles was nach und nach geschiehet, das geschiehet in der Zeit. Denn da man hier vieles von einander unterscheiden kan, deren eines vorher gehet, daß andere darauf folgt, so hat man eine Zeit. Derowegen weil zusammengesetzte Dinge nach und nach entstehen können; so können sie auch in einer Zeit entstehen, das ist, indem sie entstehen, oder zur Würcklichkeit gelangen, verfliesset eine gewisse Zeit. Hingegen kan keine Zeit verfliessen, indem ein einfaches Ding entstehet, wenn man annimmt, daß es entstehen, oder zur Würcklichkeit gelangen soll, da es vorher bloß möglich war. Denn da sie auf einmahl entstehen müssen, wenn sie entstehen sollen: so lässet sich hier nichts unterscheiden, was, indem sie entstunden, auf einander folgte. Und also hat man hier keine Zeit. Es ist hierdurch überhaupt klar, daß nichts, was auf  
  {Sp. 727|S. 377}  
  einmahl geschiehet, in einer Zeit geschiehet, das ist, daß keine Zeit vorbey streichet, indem es geschiehet. Der Beweiß ist allgemein, ob er gleich bloß in einem besondern Falle angebracht wird.  
  Es ist indessen gewiß, daß sich die allerwenigsten Menschen, um die wahre Beschaffenheit der Zeit bekümmern. Die allermeisten haben die dunckelsten und verworrensten Begriffe davon, ob sie gleich mehr als der gemeine Pöbel bedeuten wollen. Sie legen einen Tag nach dem andern, eine Woche nach der andern, ja wohl gar ein Jahr nach dem andern zurück, und dencken doch offt so wenig an ihre Zeit, die sie in der Welt zubringen, ja an ihr gantzes Leben, welches aus derselben bestehet, und gleichsam zusammen gesetzet ist, mit einiger Aufmercksamkeit zurück. Ein Tag vergehet nach dem andern, ja ein Jahr, das so viele Tage zählet, vergehet, nach dem andern, so, daß offt 30-40 und mehrere Jahre endlich vorüber streichen, ehe wir es einmahl recht gewahr werden. Diese gantze Zeit über machen wir uns offt mit allerhand Dingen viel zu thun, und zu schaffen: Wir lauffen und rennen, wir tichten und trachten, und nehmen allerhand vor, womit wir diese Zeit nur hinbringen können, ja wir bemühen uns offt, daß wir nur etwas zu thun bekommen, damit dieselbe inzwischen unvermerckt vergehen möge.  
  Bey alledem aber fällt es uns nicht einmahl ein, über die Beschaffenheit der Zeit zu dencken. Die meisten stellen sich die Zeit fast nicht anders als ein allgemeines Behältniß vor, darinne sie, und andere neben ihnen in der Welt befindlichen Dinge, gleichsam verschlossen, und von allen Seiten umgeben sind, ja sie bilden sich dieselbe wie einen Strom ein, der sie nebst andern Dingen gleichsam mit sich fortführe, und dahin reisse, ohne zu bedencken, daß sie selbst, und die Dinge, die neben ihnen in der Welt sind, mit ihrer Dauer die Zeit selbst erst machen, und derselben so zu reden ihr gantzes Leben geben.  
     
  2. Eintheilung der Zeit.  
  Die Natur theilet die Zeit sehr klein ein. Wir können die Theile der Zeit nicht anders erkennen, und von andern Theilen unterscheiden, als durch die Veränderungen, die sich darinne zutragen. Da nun die Vergrösserungs-Gläser die Kleinigkeiten in der Natur entdecken, die wir sonst wahrzunehmen nicht vermögend sind; so müssen wir nicht weniger bey der Eintheilung der Zeit als des Raumes zu ihnen unsere Zuflucht nehmen. Es hat Deslisle durch ein Fern-Glas ein kleines Würmgen gesehen, das in einer Zeit von einer Secunde, in welcher kaum der Puls einmahl schlagen kan, tausendmahl den Fuß bewegt. Und also kan man eine Zeit, die wir einen Augenblick nennen, noch in 1000, folgends eine Stunde, so 3600 Secunden hat, in 3600000 merckliche Theile eintheilen.  
  Unterdessen ist dieses noch nicht der Kleineste unter den mercklichen Theilen. Denn, wenn wir untersuchen wollen, was von Leeuwenhöcken und andern von solchen Veränderungen aufgezeichnet worden, die sie durch gute Vergrösserungs-Gläser heraus bringen können: so werden wir noch viel kleinere Theile der Zeit  
  {Sp. 728}  
  mercklich unterscheiden können. Ja man könnte auch, wenn es nöthig wäre, selbst durch die Eintheilung des Raumes die Eintheilung der Zeit beweisen. Denn man darff nur einen Raum annehmen, dadurch in einer sehr kleinen Zeit eine Bewegung geschiehet, und nach diesem untersuchen, wie kleine man in gewissen Fällen durch die Vergrösserungs-Gläser dergleichen Raum getheilet findet. Denn etwas kleines muß in einem jeden solchen Theile, er mag noch so klein seyn, eine gewisse Zeit zubringen, indem es unmöglich zwey Theile des Raumes auf einmahl erfüllen kan.  
  Der Begriff von der Zeit kommet insgemein leichter vor, als von dem Raume. Denn weil die Theile der Zeit nicht zugleich da sind, sondern eines vergehet, das andere kommt; so erkennet man gar bald, daß die Einbildungs-Krafft mit darzu etwas dichtet, wenn wir uns die Zeit als eine Linie vorstellen, die durch die Bewegung eines Punctes ohne Aufhören immerfort verlängert wird. Hingegen da die Theile des Raums auf einmahl bey einander sind: So lässet mans leichter zu, als wenn ein solches Ding ausser uns vorhanden wäre, das eine Ähnlichkeit mit dem Bilde in der Einbildungs-Krafft hätte. Unterdessen liegt die Ähnlichkeit zwischen Zeit und Raume einem jeden vor Augen, und wer diese erwogen, den befremdet der Begriff des Raumes nicht mehr so, wie im Anfange.  
  Wenn wir kleine Zeiten begreifflich machen wollen, und würckliche Theile davon bekommen: So müssen wir auf die Bewegungen Acht geben, die sich durch die Vergrösserungs-Gläser unterscheiden, oder aus demjenigen, was sich dadurch unterscheidet, berechnen lassen. Es kommen aber solche Fälle vor, da man auf die Kleinigkeit der Zeit Acht zu geben hat, z.E. Wenn man sich die Grösse der göttlichen Erkenntniß, und daraus die Grösse des göttlichen Verstandes in etwas begreiflich machen will, daß wir sie nicht mehr aus blosser Unwissenheit, sondern mit Verstande bewundern, indem wir würcklich etwas davon erkennen, daß sie unbegreiflich ist, nicht aber bloß uns bewust sind, daß wir sie nicht begreiffen.  
  Die Vergrösserungs-Gläser haben in Eintheilung des Raums eben den Nutzen, den wir ihnen bey der Zeit zugeeignet haben, und es ist ebenso nützlich die kleinen Theile des Raumes begreifflich zu machen, als die kleinen Theile der Zeit. Es hat mit dem Begriffe der Zeit eben die Bewandniß, wie mit dem Begriffe des Raums. Nehmlich das gemeine Bild dienet uns darzu, daß wir die Zeit abmessen, und in der Mathematick uns unter einer Linie vorstellen können: welches nicht wenig zu sagen hat, wie denen bekannt ist, die sich in der höhern Geometrie der heutigen Mathematick-Verständigen umsehen.  
  Die Zeit ist, eigentlich zu reden, nicht etwas ausser uns, sondern in uns: Wenn wir dieselbe aber in Jahre, Monate, Wochen, und Tage eintheilen, so ist dieses nur eine Vergleichung und gleichsam Zusammenhaltung unserer Zeit mit der Zeit anderer, neben uns in der  
  {Sp. 729|S. 378}  
  Welt befindlichen Dinge, sonderlich aber der Himmlischen Cörper, und derselben Bewegungen, und Veränderungen, damit wir nach derselben unsere Zeit gleichsam abmessen, und in gewisse, nach solchen Bewegungen und Veränderungen eingerichtete Stücke eintheilen können. Wenn aber gleich nichts in der Welt ist, und ausser uns da wäre, mit welchem wir unsere Zeit also zusammen halten, und nach demselben abmessen könnten: so würde unsre Zeit nichts destoweniger dennoch eben so gut vor sich fortgehen.  
  Man nennet diese Zeit in der Philosophie die innerliche Zeit, weil sie gleichsam in den Sachen selbst, denen sie beygeleget wird, sich befindet, und setzen sie der äusserlichen, die aus der Vergleichung und Zusammenhaltung der Zeit des einen Dinges mit der Zeit eines andern gleichsam entstehet, entgegen; weil diese nemlich sich nicht in den Sachen selbst findet, sondern eine blosse Würckung unsers Verstandes ist. Augustinus hat diese beyden Bedeutungen nicht genugsam erwogen, und von einander unterschieden, wenn er an einem gewissen Orte schreibt: Si nemo ex me quaerat, quid tempus sit, scio: si quaerenti explicare velim nescio; Wenn mich jemand fragt, was die Zeit sey, so weiß ich es; wenn ich aber dem, der mich darum fragt, es erklären will, so weiß ich es nicht, Lib. II. Confess. Cap. XIV.
  Daher hatte er auch noch keinen deutlichen Begriff von dem, was man unter diesem Worte eigentlich dencken muß. Und in der That ist dieses auch der wahre Grund von allen verwirrten Begriffen, die man sich von der Zeit zu machen pflegt: Daher wir auch diese verschiedenen Bedeutungen hier vor allen Dingen haben von ein, ander absondern müssen.  
  Was nun die innerliche Zeit sey, wird ein jeder aus dem, was bisher gesagt ist, von selbst einiger massen abnehmen können. Man leget in dem gemeinen Gebrauche dieser Worte denjenigen Dingen eine Zeit in diesem Verstande bey, die ihre Dauer zwar eine Weile fortsetzen, dabey aber so wohl einen Anfang als auch ein Ende ihres Daseyns haben. Denn der Dauer solcher Dinge, die entweder keinen Anfang und Ende, oder auch zwar einen Anfang, aber kein Ende haben, hat man im gemeinen Leben schon längst andern Nahmen beygeleget, von welchem wir aber hier nicht reden wollen.  
  Die Zeit kan also auch folgender massen definiret werden, daß sie die mit einem Anfang und Ende verknüpffte Dauer eines jeden Dinges sey, dem dergleichen zukommt. Unter dem Nahmen der Dauer verstehet man gemeiniglich nichts anders, als die Fortsetzung des Daseyns eines Dinges, das einmahl seine Würcklichkeit erreichet hat. Ein Ding also, daß jetzt z.E. da ist, da man an dasselbe denckt, und sich dasselbe vorstellt, und wenn dieser Gedancken in einem vorüber ist, noch da ist, und also sein Wesen auf solche Art fortsetzet; dem legt man eine Dauer bey: und eine solche Dauer, wenn sie ihren Anfang und Ende hat, ist es, so man die Zeit nennet.  
  Wenn nun die Dauer eines Dinges entstehet, wenn etwas sein Daseyn durch verschiedene solcher Augenblicke, die wieder nur in Gedancken von einander absondern, und ein Nun überhaupt nennen können, fortsetzet, und also eine Dauer aus verschie-  
  {Sp. 730}  
  denen dergleichen Augenblicken oder Nun gleichsam zusammen gesetzet ist: so muß man dieses nun auch besonders von der Zeit, und also auch von unserer Zeit, die uns gleichsam eigen ist, sagen. Unsere Zeit ist freylich daher auf gewisse Masse nicht anders als ein Strom anzusehen, der aus vielen kleinen Tropffen, oder als eine Linie, die aus verschiedenen untheilbaren Puncten, entstehet, und gleichsam zusammengesetzt ist: nur mit dem Unterschied, daß was in derselben einmahl vorüber ist, auch zugleich aufhöret zu seyn, und seinem Gantzen, zu dem es gehöret, abgehet; dahingegen die Tropffen sowohl in einem Strome, als die verschiedenen Puncte in einer in Bewegung gesetzten Linie noch da sind, wenn sie gleich vorüber sind, und ihre Dauer so gut, wie vorher fortsetzen.  
  Unsere gantze Lebens-Zeit, die wir in der Welt zubringen, bestehet also aus lauter untheilbaren Augenblicken, die, sobald sie nur vorüber sind, auch sogleich verschwinden, und zugleich einen Theil nach dem andern von unserer gantzen Dauer gleichsam mit sich dahin nehmen. Je länger wir also in der Welt leben, je mehr gehet von unserer uns bestimmten Dauer ab, und dahero fängt sich dieselbe schon an zu ihrem Untergange zu neigen, sobald sie nur ihren Anfang genommen hat. Ein jeder Augenblick, in welchem wir unser Leben fortsetzen, ist eine neue Verkürtzung desselben, und je länger wir leben, je weniger bleibt uns zu leben übrig.
  • Wolfens vernünfftige Gedancken von GOtt, der Welt, und der Seele des Menschen, …
  • Wöchentliche Göttingische Nachrichten des Jahrs 1735 …
  Einige Weltweisen verstehen durch die innere Zeit die Dauer einer jeglichen Sache, die den Veränderungen unterworffen, und ihren Anfang und Ende hat. Die äussere nennen sie die Abmessung der Dauer, welche vermittelst der Sonne und des Mondes geschiehet. Die innerliche Zeit wird auch die metaphysische, und die äusserliche die Physische und Astronomische genennet.  
  Ausser diesen gewöhnlichen Eintheilungen der Zeit, giebt es noch eine grosse Menge, welche man unter Tempus, im XLII Bande, p. 806 u.ff. entweder abgehandelt, oder unter andere Artickel verwiesen finden wird. Hier wollen wir noch einige Arten betrachten, die übrigen aber in besondern Artickeln abhandeln.  
  TEMPUS QUIESCENS wird diejenige Zeit genennet, in welcher man eine Sache entweder ihrer Natur nach, nicht besitzen kan, oder nicht besitzen will. Chladenii Opuscula Academica
  Die Zeit kan auch abstract betrachtet werden, wenn man nur eine mögliche Reihe der Dinge, die auf einander folgen und einander ähnlich sind, annimmt. Und also dencken wir zuweilen, es sey Zeit übrig, wenn wir uns eine mögliche Reihe der Dinge die auf einander folgend, einbilden, obgleich keine Dinge existiren, die würcklich aufeinander folgten. Auf diese Art muß man die Zeit in Abstracto betrachtet, nicht mit der Zeit in Concreto, oder die in der Welt ist, vermengen.  
  Man kan sich auch einen eingebildeten Begriff von der Zeit machen, (Notionem temporis imaginariam) wenn man zur Idee der Zeit, abstract be-  
  {Sp. 731|S. 379}  
  trachtet, hinzusetzet, daß sie ein von den aufeinander folgenden Dingen dermassen unterschiedenes Ding sey, welches als ein zusammengesetztes Ding aus lauter beständig auf einander folgenden Theilen, die innerlich nicht unterschieden werden, annoch dauere. Denn eine Zeit von der Art kan nicht statt haben; folglich ist dieses eine eingebildete Zeit, oder der Begriff von dieser Zeit bestehet bloß in der Einbildung.
  • Reuschens Systema Metaphysicum
  • Scheibler in opere Metaphysico
  • Donati Metaphys. Usual. …
  • Hebenstreit in Philosoph. prim. …
  • Walchs Philosophisches Lexicon.
  Wie man aber eigentlich die Zeit abzumessen und einzutheilen pfleget; dieses gehöret hauptsächlich in die Chronologie, siehe Chronologie, im V Bande, p. 2270.  
     
  3. Was die Sonne bey der Zeit thut?  
  Die Sonne träget vieles bey, die Zeit zu bestimmen. Aus der Sonne lässet sich erkennen, wenn es Mittag ist, und dadurch, daß man diese Zeit genau erkennet, lassen sich die Uhren richtig stellen, daran absonderlich in der Astronomie viel gelegen ist. Man kan auch aus der Sonnen-Höhe die Stunde und Minute, ja noch kleinere Theile der Zeit finden, und auf solche Weise die Zeit, da etwas geschehen, genau erkennen, woran wiederum in der Astronomie, und in andern von dieser Wissenschafft dependirenden Dingen gar viel gelegen ist. Und also ist uns auch die Sonne zur Erkenntniß der Zeit behülfflich. Wolfs Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge, §. 54.
     
  4. Wie man ohne Uhr die Zeit genau bemercken kan?  
  Wenn man fragt, wie man ohne eine Uhr die Zeit in kleinen Theilen genau bemercken kan: so giebt uns Galiläus Dialog … ein Mittel an die Hand, dessen er sich in dergleichen Fällen bedient. Er hat nemlich ein grosses Gefässe mit Wasser aufgehangen, und in den Boden durch ein enges Röhrlein das Wasser in ein Glas lauffen lassen, so lange ein Cörper gefallen. Weil nun das Gefäß sehr breit, die Zeit hingegen sehr kurtz gewesen: so hat sich das Wasser wenig gesetzet, und ist demnach gleich viel gewesen, als wenn es im Gefässe immer gleich hoch gestanden, und mit unveränderter Geschwindigkeit heraus gelauffen wäre. Derowegen weil in diesem Falle in gleicher Zeit gleich viel Wasser heraus läufft, zweymahl soviel Wasser aber zweymahl so schwer ist, als einmahl so viel: so verhält sich die Zeit, wie die Schwere des Wassers, welches in derselben aus dem Gefässe heraus gelauffen. Und demnach hat er das Wasser auf einer genauen Waage abgewogen: so hat er auch daraus die Verhältniß der Zeit finden können, nehmlich ob ein Fall zwey, drey, vier, und mehrmahl so lange gedauret als der andere.  
  Man kan auch eine Kugel an einen Faden binden, und dergestalt aufhängen, daß sie um den Nagel beweglich ist. Denn, wenn man sie nicht gar zu sehr ausschweiffen lässet: so bringet sie ihren Lauff einmahl so geschwinde zu Ende, als das andere, und  
  {Sp. 732}  
  kan daher zum Maasse der Zeit gebrauchet werden. Galiläus, Ricciolus und andere haben selbst in der Astronomie die Zeit auf solche Weise abgemessen. Anderer Mittel wollen wir jetzo nicht gedencken. Wolfs nützliche Versuche, Th. II, §. 2.
     
  5. Wie man seine Zeit anzuwenden habe?  
  Ein Philosophischer Moraliste untersuchet die Frage: Wie man seine Zeit anzuwenden habe? Der Mensch darf die Zeit seines Lebens nicht nach seinem Gefallen brauchen, indem er da ist, daß er sich und andere glückselig mache, folglich soll er die Zeit so brauchen, wie es GOttes Willen gemäß ist, daß er Nutzen in der Welt schaffe, und den wahren Fleiß ausübe. Dieses kan in Ansehung der unterschiedenen Ständen, darinnen sich die Menschen befinden; in Ansehung der Kräfften, die sie haben, insonderheit und in Ansehung des Jahrhunderts, darinnen sie leben, auf unterschiedene Art geschehen, worzu die Klugheit zu leben Anweisung giebt.  
  Der Mißbrauch der Zeit bestehet im Müßiggange, da man eines Theils solche Verrichtungen vornimmt, die eitel sind, und keinen Nutzen bringen; andern Theils seinem verderbten Triebe zu gefallen gar nichts thut. Sein Amt kan man niederlegen, und sich von aller Arbeit befreyen; wenn dieses nicht aus Faulheit, sondern mit Absehen geschiehet, seinem GOtt besser zu dienen; Wenn hierdurch ein Land, Stadt oder Gemeine keinen Schaden nimmt; und wenn es Alters oder Unvermögens halber geschiehet.  
  Unter allen Augenblicken, aus welchen die Zeit unsers Lebens gleichsam zusammen gesetzet ist, oder durch welche es vielmehr nach und nach abnimmt, und verkürtzet wird, ist kein eintziger eigentlich unser, und in unserer Gewalt, als der gegenwärtig ist, und der kaum so lange dauret, als wir nur dencken, oder auch ein solches Nun nur nennen können. Denn der einmahl vergangen ist, der ist vorbey, und nicht mehr unser, und stehet daher auch nicht weiter in unserer Gewalt, ihn so oder so zu gebrauchen: und der noch zukünfftig ist, wie denn alles dergleichen ist, was wir zu einem gegenwärtigen Nun nicht mit rechnen können, das müssen wir blos erwarten, und stehet daher derselbe auch eben so wenig in unserm Vermögen. Auch nicht der allernächste Augenblick unserer Dauer, den wir nur dencken können, ist unserm eigenen Willkühr überlassen, sondern wir müssen ihn bloß von dem Willen dessen, in dessen Händen unser Leben und Tod stehet, und dessen Aufsehen allein unsern Othem bewahret, mit Gedult und Gelassenheit erwarten.  
  Wie sorgfältig solten wir nun daher nicht seyn, wenn wir dieses recht gedächten, einen gegenwärtigen Augenblick unsers Lebens, der nur allein immer von unsern gantzen Leben eigentlich unser ist, und in unserer Gewalt stehet, wohl anzuwenden, da wir zu keiner Zeit wissen können, ob auch der allernächste gewiß nachfolgen werde. Ja einen jeden müßigen Augenblick, den wir haben, solten wir von Rechtswegen nur darzu anwenden, daß wir in demselben bedächten, wie wir uns des folgenden, wenn uns derselbe noch zu Theil werden solte, desto besser bedienen wol-  
  {Sp. 733|S. 380}  
  ten. Wie bald ist ein solcher Augenblick nicht verstrichen, und wie leicht ist es nicht, daß ein jeder, der noch da ist, der letzte sey. Solten wir nun nicht auf jeden derselben besonders Acht haben, und nicht verschwenderisch, und nachläßig mit unserer Zeit umgehen? Würde nicht, wenn wir unser Leben auf solche Weise führten, solches endlich ein Zusammenhang und gleichsam eine Kette von lauter GOtt und Menschen wohlgefälligen Tugenden werden? und würde wohl ein Mensch in der Welt seyn, der sich würde entschliessen können, den eintzigen Augenblick, den er vielleicht nur noch zu seinem Gebrauche hat, darzu anzuwenden, daß er in demselben noch seines Neben-Menschen Teuffel werde?  
  Gewiß diese Betrachtung würde viele, wenn sie derselben gebührend nachdencken wolten, dahin bringen, daß sie ihr gantzes Leben, mit weit mehrerer Vorsicht, Klugheit und Behutsamkeit, als von den meisten geschiehet, zu führen anfiengen, und also gewiß endlich vernünfftige Menschen; so dann aber auch desto eher ungeheuchelte Christen abgeben würden. Vielleicht kommt aber dieses manchen zu betrübt und zu melancholisch vor, wenn er auf diese Weise einen jeden Augenblick seines Lebens, als einen solchen, den er allein nur in seiner Gewalt habe, und er vielleicht der letzte sey, sich vorstellen, und von einem jeden folgenden zugleich dencken solle, ob er auch noch nachkommen werde, indem er auf diese Weise ja in beständiger Furcht des Todes seyn müsse. Allein diejenigen, die solche Einwendung hier haben, mögen sich des Epicurs Ausspruch beym Seneca zur Antwort dienen lassen: meditare, utrum commodius sit, vel mortem transire ad nos, vel nos ad eam, das ist, bedencke doch, was wohl besser sey: daß der Tod zu uns komme, und uns übereile: oder wir vielmehr zu ihm kommen, und ihm entgegen gehen. Seneca Epist. XXVI.
  Eben diese Betrachtungen sollen uns dahin bringen, daß wir uns mehr und mehr in Verfassung setzen lernen, alle Augenblicke denselben mit standhafften Gemüthe zu erwarten. Niemand als ein Thor, und der etwa noch niemahls gedacht hat, daß er gewiß einmahl sterben müsse, fürchtet den Tod. Vita cum exceptione mortis data est, sagt der weise Seneca, ad hanc itur: quam ideo timere dementis est, quia certa expectantur, dubia metuuntur, das ist, das Leben ist uns mit der Ausnahme und Bedingung des Todes nur gegeben worden: Hierzu führt uns nun dasselbe; ein Thor fürchtet daher diesen nur, weil man das, was gewiß ist, allein erwartet: dasjenige aber, was ungewiß ist, nur fürchtet. Seneca Epist. XXX.
  Da nun der Tod gewiß, und unvermeidlich ist: so ist uns nichts anders dabey übrig gelassen, als daß wir einen jeden Augenblick der Zeit, als die nächste Staffel darzu, ansehen, und uns dadurch mehr und mehr zu demselben gefast machen, folglich uns diese Betrachtung der Zeit mit darzu dienen lassen.  
     

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Stand: 4. April 2013 © Hans-Walter Pries