Stichworte |
Text |
Quellenangaben |
|
2) |
Wir
müssen auch den
Verstand betrachten nach dem
unterschiedenen
Stand, darinnen er sich befindet. Man
kan ihn nach einem zweyfachen Stand der
Natur und der
Verbesserungen
erwegen. |
|
|
Natur |
|
Von
Natur befindet sich
derselbige bey allen
Menschen als eine blosse Fähigkeit, und ob er wohl
bey einem jeden einerley
Kräffte hat, so sind sie doch einander in der
Lebhafftigkeit nicht gleich. Denn manche haben von Natur ein lebhafftes
Ingenium, ein mäßiges Judicium und ein schwaches Gedächtniß, und bey
andern findet man wieder eine andere
Art der
Verknüpffung solcher
Kräffte, die man das Naturel des Verstandes nennet, von
dem wir oben gehandelt. |
|
|
Verbesserung |
|
Weil aber solche Kräffte durch den
Fall gar sehr
geschwächet worden, so muß man eine Verbesserung
vornehmen, und sie aus dem
Stande der Schwachheit, oder Kranckheit in
den Stand der Gesundheit setzen, und sich um die
Geschicklichkeiten des
Verstandes bemühen. |
|
|
|
|
Die Haupt-Fähigkeit ist das Judicium, auf dessen
Geschicklichkeit auch der übrigen ihre beruhen, und nach dieser muß man
die Güte eines Verstandes beurtheilen. Wenn man im
Stande ist, das wahre
Verhältniß der
Ideen unter einander einzusehen, selbige richtig mit
einander zu verbinden und wahre
Schlüsse zu machen, so hat man ein gutes
Judicium erlangt. Ist das selbige so lebhafft, daß es zugleich die
Würckungen des Gedächtnisses und Ingenii dirigiret, so erhalten diese
dadurch ihre Geschicklichkeiten. |
|
|
|
|
Auf solche Weise kan man drey
Tugenden
des Verstandes setzen, als |
|
|
|
|
- DISCRIMEN in Ansehung des
Gedächtnisses, wenn man im
Stande ist, die
Ideen und Vorstellungen der
Dinge ordentlich zu mercken;
- VENUSTATEM auf Seiten des Ingenii,
wenn man sich artige Einfälle, welche was
angenehmes und scheinbares in
sich fassen, erwecken kan;
- und SENSU VERI ET FALSI, was das Judicium selbst
betrifft, woferne sich selbiges in solchem Stande befindet, daß es
die
Wahrheit
erkennen kan.
|
|
|
|
|
Eine jede von diesen
Geschicklichkeiten hat
wieder ihre Grade, die man bisweilen auch mit besondern
Nahmen beleget.
Denn in Ansehung des Judicii ist ein Unterscheid unter
vernünftig oder
verständig, und scharfsinnig seyn; oder eine tieffe Einsicht worinnen
haben. Bey solchen erlangten Geschicklichkeiten kommen auch die
Gedancken des Verstandes geschickt heraus, daß wenn das Gedächtniß von
dem Judicio gleichsam unterstützet wird, so weiß man eine
Sache
ordentlich zu mercken; und wo das Ingenium mit dem Judicio
verknüpffet,
so hat man sinnreiche und artige Einfälle; gleich wie die Gedancken des
Judicii selbst wahr und gegründet sind. Nachdem solche Geschicklichkeiten unter einander
verbunden werden, so entstehen daraus auch besondere
Würckungen,
die sich bey den unterschiedenen Objecten, damit man sich beschäftiget,
zeigen. |
|
|
|
|
Die Frantzosen haben gewisse Benennungen, womit sie die Gaben
des Verstandes ausdrucken, |
|
|
|
{Sp. 1987|S. 1007} |
|
|
|
|
|
|
- BON SENS, ein
Vermögen
das Wahre und Falsche wohl zu
unterscheiden, und sich richtige Concepte zu machen;
- BON GOUT, ein Vermögen das Gute und
Bösen wohl zu
unterscheiden,
- und BEL ESPRIT, die
Krafft, sich etwas lebhafft
vorzustellen, eins mit dem andern zuvergleichen und geschwinde
Einfälle zu haben.
|
|
|
|
|
Der P. Bouhours hat die
Eigenschafften eines schönen Verstandes weitläufftig beschrieben, und
dreyerley
Arten der Leute, die mit einem bel Esprit begabet wären,
gesetzet. |
|
|
|
|
Etliche machten vornehmlich von der
Gelehrsamkeit
und dem Studiren Profeßion, da denn ein
Gelehrter, wenn er diesen
Titel
führen wolte, einen solchen Verstand haben müsse, daß er
geschickt sey,
alle
Sachen wohl zu unterscheiden, und selbige, wie sie an sich
beschaffen, zu betrachten, die
Grund-Regeln der Wahrheiten einzusehen,
etwas leichte zu entscheiden, einen muntern und lebhafften Vortrag zu
thun; immer einen guten Vorrath zu
geschickten Discoursen zu haben, und
in allem sich bescheiden zu erweisen. |
|
|
|
|
Andere hätten zwar nicht studiret; aber doch
durch eine lange
Erfahrung und Conversation sich die
Geschicklichkeit
zuwege gebracht, daß sie wohl, leicht und artig in
Gesellschafft
reden,
daß sie alles, was man ihnen
sagt, geschwind und scharffsinnig
beantworten,
geschickte Fragen aufwerffen,
angenehme Historien erzehlen,
mit Verstand schertzen, in frölichen Gesellschafften anmuthig spotten;
in ernsthafften aber klug und weise
raisonniren, und allerhand
Gesellschafft belebt machen können, oder wenn dieselbe
verdrießlich und
schläfrig werden will, wieder aufzumuntern wissen. |
|
|
|
|
Noch andere von denen, die ein bel Esprit
hätten, könnten zu wichtigen Verrichtungen vor andern gebraucht
werden, die gleichsam im Augenblick, wenn man ihnen eine Verrichtungen
darstelle, alle Umstände derselben penetriren, auch dasjenige zuvor
sehen, was daraus entstehen könne; die alsbald die Mittel und Wege
erkennen, wodurch man auch das schwereste Vorhaben ins
Werck richte, und
alle Verhinderungen aus dem Wege räume; die sich auch nicht allzuviel
Verhinderungen oder Zufälle vorstellen, welche zu nichts anders nütze
sind, als die
Menschen ohne Noth zag- und zweiffelhafftig zu machen, wie
solches Thomasius in dem Discours von Nachahmung der
Frantzosen, der in den kleinen Deutschen Schrifften stehet ... aus dem
Bouhours vorstellet. |
|
|
|
|
Das ist nun das Ziel, wohin die Verbesserung des
Verstandes muß gerichtet werden. Man sucht ihn von den Mängeln und
Schwachheiten, die ihn ankleben, zu befreyen, und ihn hingegen in den
Stand setzen, daß er
geschickt sey, dasjenige zu verrichten, was ihm
nach der göttlichen Absicht zukommt. |
|
|
|
|
Ist die vornehmste
Krafft des Verstandes das
Judicium, so muß man auch dessen Haupt-Verderbniß in dem Mangel; oder in
der Schwachheit desselbigen suchen. Der Mangel des Judicii rührt
entweder von
Natur, oder von einer schlimmen
Erziehung her. Von Natur
findet er sich bey einigen
Menschen auf dreyfache
Art. Bey einigen ist
solcher zugleich mit einem Mangel des Gedächtnisses und Ingenii im
Gebrauch verknüpffet, welches der höchste Grad der Tummheit; andere
haben bey einem |
|
|
|
{Sp. 1988} |
|
|
|
ziemlichen Gedächtnisse einen Mangel am Ingenio
und Judicio, so man Stupidität nennen kan, und denn haben welche
Ingenium und Einfälle genug; es fehlt aber am besten, oder am Judicio,
welches die Narrheit ist. |
|
|
|
|
Bey einem solchem natürlichen Mangel läst sich
durch die Verbesserung nicht viel ausrichten, weil die
Natur der
Kunst
die Hand bieten muß, wenn sie glücklich von statten gehen soll. Ist aber
eine natürliche Krafft vorhanden, die man bisher bey einer übeln
Erziehung und
Unterweisung entweder gar nicht verbessert; oder wohl gar
verschlimmert, so ist die Verbesserung des Verstandes vorzunehmen, bey
welcher man zwar die vornehmste Bemühung auf das Judicium wendet;
zugleich aber nach Befinden der Umstände sein Absehen mit auf das
Gedächtniß und Ingenium richtet. |
|
|
Umstände |
|
Wissen wir nach dem, was jetzo
gesaget
worden, wohin die Verbesserung des Verstandes zielen soll, so haben wir
bey desselbigen noch drey Umstände zu erwegen, als |
|
|
|
|
- ihre
Nothwendigkeit;
- die Art, wie sie anzustellen,
- und wie weit sie sich erstrecket.
|
|
|
|
|
Der erste Umstand ist die
Nothwendigkeit
der Verbesserung, welche daraus zu erweisen, daß uns die
Natur
nur bloße Fähigkeiten giebt; daher wie wir schon vorher gedacht haben,
Natur und
Kunst einander secundiren und gleichsam die Hand bieten
müssen, daß wenn die Natur die
Materie darreichet, welches die
Fähigkeiten sind, so muß die Kunst durch Fleiß und Übung ein
Meisterstück daraus verfertigen, welches hier und desto nöthiger ist,
weil die Fähigkeiten der
Seelen nach dem
Falle immer schwächer, und die
Neigung zum unrechten Gebrauch stärcker worden. |
|
|
|
|
Es haben die Alten das menschliche
Gemüthe mit
einem
Acker verglichen, daß wie dieser ohne künstliche Zubereitung, wenn
er von
Natur noch fruchtbar sey, keine Früchte tragen werde; also werde
auch unser Gemüthe ohne angestellte Verbesserung diejenige Früchte nicht
darreichen, die es nach der Absicht
Gottes tragen solte. Hierauf zielet
Cicero de finib. ... wenn er
schreibet:
Subacto mihi ingenio opus est, ut agro non semel arato; sed novato et
iterato, quo meliores foetus possit et grandiores edere. |
|
|
|
|
Der andere Umstand betrifft die Art, wie
die Verbesserung anzustellen. Dieses kommt auf die Absicht an,
die man dabey hat. Denn entweder will man nur etwas
erkennen und lernen,
und also der Unwissenheit abhelffen, welches das Gedächtniß angehet,
wohin die auf mancherley Art erfundene und vorgestellte Gedächtniß Kunst
gehöret, oder man sucht, seinem Ingenio zu helffen, daß man hurtige und
sinnreiche Einfälle haben möge, wobey Natur und Übung das beste thun
müssen; oder man will seinem Judicio zu statten kommen, daß man
vernünfftig von einer
Sache zu urtheilen, und die Wahrheiten einzusehen
geschickt werde, welches das vornehmste
Werck dabey ist. |
|
|
|
|
Solche Verbesserung beruhet auf den Gebrauch
gewisser Mittel, die wir in Theoretische und Practische eintheilen. Die
Theorie fasset
Regeln in sich, das ist, General-Wahrheiten, welche weise
und wohlgeübte Leute denen ihnen häuffig vorgekommenen Exempeln
abstrahiret, und die ihnen und andern bey vorfallenden specialen Fällen
als eine Norm die- |
|
|
|
{Sp. 1989|S. 1008} |
|
|
|
en sollen. Solche
Regeln werden in der Logick
vorgetragen, wenn man nicht nur weiset, wie man seine Gedancken
geschickt einzurichten, wie man sich deutliche, ordentliche und
hinlängliche Vorstellungen zu machen, ein wohlgegründetes
Urtheil
abzufassen, richtig zu schliessen; sondern auch zeiget, wie die
Hindernisse, die einem im Wege liegen, weg zu räumen, und die
vorgeschlagene Mittel wirklich zugebrauchen. |
|
|
|
|
Dieses läst sich hier so genau nicht ausführen,
indem man sonst fast eine gantze Logick hersetzen müste. Doch die blosse
Theoretische
Erkänntniß auch der allerbesten und gründlichsten
Regeln,
die andere geben, nutzet an sich keinem
Menschen was, wenn nicht die
beständige Praxis und Übung hinzu kommt, und die Theoretischen Mittel
mit den Practischen
verknüpffet werden. |
|
|
|
|
Es begreifft die Praxis selbst zwey Stücke, die
Application und die Ausübung. Die Application ist diejenige
Würckung, da
man eine zwar überhaupt begriffene General-Regel an den vorgekommenen
Special Fällen begreifft, z.E. wenn einer in der Regel verschiedene
General-Regeln von dem
Affect des
Zorns, wie er so leichte könnte
erreget werden, den Verstand einnehme, daß man nicht sehe, was recht
oder unrecht, gut oder
böse, und äusserlich in den Gliedern des
Leibes
sich gar mercklich zu
erkennen gäbe, in der Theorie gehöret, oder
gelesen hätte, so müste er sich aller selbigen erinnern, wenn ihm ein
zorniger Mensch vorkommt, und sehen, ob er sie auch an diesem Falle
begreiffen könte, wie es vorher überhaupt und in Abstracto geschehen.
Solche Application setzt Special-Fälle, oder Exempel voraus, und diese
gründen sich wieder auf die
Erfahrung und Gebrauch der
Bücher. |
|
|
|
|
Es wird aber diese Application
billig
mit der Ausübung verknüpffet, da man auch nach den
erkannten
Regeln
sein wirkliches Verfahren einrichtet, daß wenn dieses öffters
geschiehet, nach und nach ein Habitus daraus entstehet. Solche Ausübung
auf Seiten des Verstandes kan man überhaupt die Meditation nennen. |
|
Man lese; was
Walch in den Gedancken von dem Philosophischen Naturell
c. 2. p. 60. u.ff. ausführlich von dieser
Materie
geschrieben. |
|
|
Der dritte Umstand ist, wie weit sich
solche Verbesserung des Verstandes erstrecke. Die
Sache
hat hier ein gewisses Ziel. Es kan aber unser Verstand auf zweyerley Art
eingeschräncket werden. Zum ersten geschiehet solches im Absehen auf die
Anzahl der
erkannten
Dinge; zum andern im Absehen auf den Grad der
Deutlichkeit, womit er sich dieselben vorstellet. Derjenige Verstand ist
also grösser, der sich viel Dinge vorstellet, als ein anderer, der nur
sehr wenige deutliche
Begriffe hat, und derjenige ist noch vollkommener,
der sich die Dinge in einem höhern Grade der Deutlichkeit, das ist,
ausführlich und vollständig vorstellen kan. Der allervollkommenste und
grösseste Verstand würde der seyn, der sich alles, was möglich ist, in
dem höchsten Grade der Deutlichkeit vorstellet. Dergleichen Verstand ist
nur in
GOtt, nicht aber in dem
Menschen zu suchen. |
|
Huet de la foiblesse de l'esprit humain.
|
Ziel |
|
Das Ziel der Verbesserung des menschlichen
Verstandes ist entweder ein gemeines; oder ein besonderes. Bey jenem
müssen alle, |
|
|
|
{Sp. 1990} |
|
|
|
die solche Verbesserung übernehmen,
stehenbleiben, wenn sie auch die
Sache noch so hoch treiben, und
wirklich eine grosse Scharffsinnigkeit erlanget, daß sie dennoch viele
Schwachheiten des Verstandes behalten, und Proben davon durch Irrthümer
an den Tag legen. |
|
|
|
|
Das besondere Ziel hingegen wird nach eines jeden
Absicht abgemessen. Denn zuweilen sucht man nur eine
Geschicklichkeit
von denjenigen
Dingen, die täglich in dem gemeinen
Leben fürkommen,
vernünfftig zu urtheilen, darum sich
billig alle bemühen solten;
Zuweilen hingegen hat man nach einer höhern Geschicklichkeit zu streben,
welches diejenigen thun müssen, welche eine gründliche
Gelehrsamkeit
erlangen, und sich besonders den
Philosophischen
Wissenschafften widmen
wollen, dahin auch vornehmlich diejenigen Mittel gehen, welche wir
vorher vorgeschlagen. |
|
|
|
|
Insonderheit weiset die Logick den Weg an, den
man bey solcher vorhabender Ausbesserung des Verstandes gehen soll.
Nicht allein aber die Logick, sondern auch die Meßkunst verbessert den
Verstand.
Gelehrte und verständige Leute haben zu allen Zeiten, seit dem
man sich auf die Meßkunst geleget hat, den
Nutzen derselben, in
Schärffung des Verstandes gerühmet. Man trifft vielfältige Zeugniße
davon so wohl der Alten als neuern allenthalben an. |
|
|
Wirkungen |
|
Wir wollen demnach erwegen, worinnen denn
die Schärffe des Verstandes (ACUMEN INTELLECTUS)
bestehe, und was eine nützliche und vorsichtige Erlernung der
Meßkunst für Hülffs-Mittel solche zu erlangen, an die Hand gebe?
Es giebt drey
Würckungen des Verstandes:
Begriffe,
Urtheile und
Vernunfft-Schlüsse. Bey einem jeden äussert sich die Schärffe des
Verstandes, welcher die Meßkundigen, vornehmlich in der Feldmeßkunst
erfahrnen zu allen Zeiten fast eigen gehabt. |
|
|
Erklärungen |
|
Zu der ersten
Würckung des Verstandes gehören die
genauen Erklärungen, (definitiones exasciatae,) ob sie gleich
meistens durch alle drey
Würckungen des Verstandes heraus gebracht
werden. Sie sind aber alsdenn genau, wenn sie nicht mehr Bestimmungen
von der erklärten
Sache in sich fassen, als das übrige zuerweisen
hinreichend ist. Die Bestimmungen aber einzusehen, wird keine geringe
Scharffsinnigkeit erfordert. |
|
|
|
|
Wem ist wohl unbekannt, daß dergleichen Erklärung
ausser der Meßkunst bisher sehr selten gewesen sind? Einige haben es
daher
Herrn Wolffen gar übel ausgeleget, daß er solche
Erklärungen in die
Weltweisheit eingeführet, und haben ihm daher gantz
dreuste allerley beschwerliche Folgerungen aufgebürdet. Die aber in der
Meßkunst
erfahren sind, sehen daraus, daß den Erklärungen nichts an
ihrer Vollkommenheit abgehet, wenn sie mercken, daß sie hinreichend
sind, das übrige, welches den
Sachen zukommt, oder zukommen kan, daraus
zu erweisen. |
|
|
|
|
Denn in der Meßkunst haben Sie keine andere
Erklärungen gelernet, und sind auch nicht anders überzeuget worden; sie
seyn so vollständig, daß man daran nichts auszusetzen findet. Wer sich
auf die Meßkunst leget, dem hilfft diese Scharffsinnigkeit dergestalt
wohl, dass er über solche Erklärungen lachet, darinnen diejenigen
Beschaffenheiten der Sachen mit angeführet werden, |
|
|
|
{Sp. 1991|S. 1009} |
|
|
|
welche sich doch aus dem übrigen, was hinein
gebracht worden ist, bestimmen lassen. |
|
|
richtige Bestimmung der Sätze |
|
In der andern
Würckung des Verstandes zeiget sich
die Scharffsinnigkeit, wenn die Sätze richtig bestimmet sind. So dann
aber sind die Sätze richtig bestimmet, wenn in dem
Begriffe des
Vorderglieds, nichts mehrers noch wenigers angenommen wird, als womit,
wenn man es annimmt, auch das Hinderglied angenommen werden muß. Wenn
nehmlich die Sätze unbedinget sind, so wird nichts angenommen, als das,
was in die Erklärung hinein kommt, und dahero leidet man sonst keine
andere, als genaue Erklärungen, und die Erweise machen erst deutlich, ob
sie genau genug gewesen sind, oder ob sie noch weitere Ausarbeitung (exasciationem)
vonnöthen haben. Sind aber die Sätze bedingt, so kommen noch zu den
wesentlichen Bestimmungen, welche die Erklärung ausmachen, auch
zufällige, entweder innerliche oder äusserliche; und wenn man diese
annimmt, so lässet sich erweisen, daß sich das Vorderglied zu dem
Hintergliede schicke. |
|
|
|
|
Man hat aber eine sonderbare Scharffsinnigkeit
nöthig, wenn man einsehen will, ob ein Satz recht eingeschränckt sey,
oder ob weder zu viel noch zu wenig von dem Vordergliede angenommen
worden ist, als hinreichet, das Hinterglied zu bestimmen. Wem ist nun
unbekannt, daß ausser der Meßkunst bisher dergleichen Sätze sehr selten
gewesen sind, und daß wenn man auch solche vorbringet, es doch den
meisten an der Scharffsinnigkeit fehlet, daß die einen sehen können, sie
seyn richtig eingeschräncket? |
|
|
|
|
Daß es an dieser Scharffsinnigkeit fehle,
beweisen die voreiligen Beurtheilungen der Folgerungsmacher, welche ich
weiß nicht was für ungereimte Beschuldigungen allein und des willen
erdichten, weil sie nicht
verstehen, daß man von dem Vordergliede eben
dasjenige nehmen muß, dadurch das Hinterglied bestimmet wird, und daß
sich kein anderes Hinterglied zu dem Vordergliede setzen lässet, als das
durch dasjenige bestimmet wird, davon es vermöge des vorhergehenden
richtig ist, daß man es von ihm
sagen kan. Wir haben um uns Beyspiele,
welche den Mangel der Scharffsinnigkeit bekräfftigen, der sich insgemein
bey der andern
Würckung des Verstandes befindet. Wer aber in der
Meßkunst wohl bewandert ist, siehet daher, das Hinterglied schicke sich
zu seinem Vordergliede, wenn er mercket, daß sich aus demjenigen, was
von ihm angenommen wird, erweisen lässet, es komme ihm zu. |
|
|
|
|
Denn man hat in der Meßkunst keine andere als
richtig eingeschränckte Sätze gelernet, und ist gewohnt, daraus es zu
erkennen, daß sie recht bestimmet sind, und daß man nichts weiter an
ihnen aussetzen kan, wenn sich das Hinterglied aus dem
Begriffe des
Vordergliedes bestimmen lässet. Diese Scharffsinnigkeit aber gefällt
denen, die sich auf die Meßkunst legen, dergestalt wohl, daß sie über
die Sätze lachen müssen, wenn sie jemand aus bestimmten zu unbestimmten
macht. |
|
|
ordentliche Verbindung der Schlüsse |
|
Endlich in der dritten
Würckung des Verstandes
zeiget sich die Scharffsinnigkeit, wenn die Vernunfft-Schlüsse, durch
welche aus dem angenommenen das, dem Vordergliede beygelegte Hinterglied
hergeleitet wird, ordentlich mit einander verbunden |
|
|
|
{Sp. 1992} |
|
|
|
worden, daß in den
Beweisen eine Deutlichkeit und
Richtigkeit herauskommet. Es wird aber keine geringe Scharffsinnigkeit
erfordert, eine richtige Verbindung von einer unrichtigen zu
unterscheiden. Wem ist wohl unbekannt, daß die
Beweise ausser der
Meßkunst noch weit von derjenigen Beschaffenheit entfernet sind, welche
ihnen die Auseinandersetzung der Vernunfft-Schlüsse giebt, daß es daher
viele verlachen und verwerffen, wenn man sie in ihre richtige
Beschaffenheit setzet. |
|
|
|
|
Wer aber in der Meßkunst bewandert ist: Dem ist
die Richtigkeit und Deutlichkeit (evidentia) gar nicht
mercklich, wenn zu den Sätzen, die erwiesen werden sollen, statt eines
Beweises noch nicht aus einander gesetzte (involutae)
Gründe
angegeben werden, wie es insgemein zu geschehen pfleget, also daß man
gar nicht sehen kan, auf was Weise sich der Satz, der
bewiesen werden
soll, da heraus bringen lässet. Daher geschiehet es, daß das, was in der
Meßkunst unwissende für einen überaus bündigen
Grund angeben, die
darinnen bewanderte für gantz untüchtig zu einiger Überredung
erkennen,
ja öffters gar als einen falschen
Schluß befinden. |
|
|
|
|
Um dieser
Ursache willen ist kaum etwas gemeiner,
als daß diejenige, welche die Deutlichkeit und Richtigkeit der
Mathematischen
Beweise
erfahren haben, alles ausser der Meßkunst für
ungewiß achten, und an nichts anders als an der Meßkunst gefallen haben.
Denn in der Meßkunst sind sie gewohnt worden, nichts als richtig
zuzugeben, ausser wenn durch augenscheinliche Beweise der Beyfall
abgenöthiget wird, dergleichen ihnen ausser der Meßkunst nicht
wiederfähret. |
|
|
|
|
Aus dem bisher
gesagten erhellet, daß die
Meßkunst den Verstand schärffe, in so ferne sie genaue Erklärungen,
eingeschränckte Sätze und richtige
Beweise an die Hand giebt, indem sich
auf solche Weise ein
Begriff von der gewissen
Erkänntniß unserm
Gemüthe
eindrucket, welchen keine haben kan, als der die
Sachen mit Gewisheit
hat
erkennen lernen. Es schärffet also die Meßkunst den Verstand vermöge
der genauen
Lehrart, nach welcher die Sätze darinnen vorgetragen und aus
einander gesetzet werden, und ohne welche es unmöglich ist, die
Wahrheit
deutlich zu
erkennen. Daher werden diejenigen dieses Nutzes nicht
theilhafftig, welche nur die Mathematischen Sätze auswendig lernen, die
Beweise aber, dadurch alle Wahrheiten untereinander verbunden werden,
vorbey lassen. |
|
|
|
|
Die gantze Mathematische Lehrart bestehet in der
Anwendung der
Regeln von einer rechten Vernunfft-Lehre. Da nun diese aus
dem
Begriffe eines
Dinges hergeleitet werden muß, gleichwie
Wolff in seinem
Lateinischen
Philosophischen
Wercken bereits
erwiesen hat: so sind sie der Meßkunst nicht eigen, sondern können und
müssen in allen
Wissenschafften, wie sie
Nahmen haben mögen, gebraucht
werden. Denn wer sich einbildet, daß man eine unnütze
Arbeit unternehmen
würde, wenn man die in der Meßkunst gebräuchliche
Lehr-Art auch in die
übrige Wissenschafften einführen wolte: Der betriegt sich sehr, da ohne
diesen sich die
Wahrheit nicht völlig einsehen, ge- |
|
|
|
{Sp. 1993|S. 1010} |
|
|
|
wis behaupten, noch dergestalt einschräncken
lässet, daß man ohne Gefahr eines Irrthums die Anwendung davon auf die
vorkommende Fälle machen kan. Man legt sich auf die Meßkunst, damit man
eine Fertigkeit in der
Lehrart bekommt, um dadurch die Wissenschafften
deutlicher zu machen, weil durch eine genaue Anwendung der
Vernunfft-Lehre so wohl die
Regeln besser verstanden, als auch von uns
mit mehrerm Fortgange zum
Nutzen angewendet werden. |
|
Wolffs gesammlete kleine philosophische
Schrifften ... |
|
|
Ebenda selbst im III Th. ...
schreibet
Herr Wolff: |
|
|
|
|
„Nun wohlan,
wer erkühnet sich also in Zweiffel zu ziehen, daß die Mathematischen
Wissenschafften, so wohl um der Deutlichkeit und Hoheit der Sachen
willen, als auch wegen der Strenge und Gründlichkeit der
Beweise,
ingleichen der Schönheit und Vortrefflichkeit der
Ordnung allen andern
weit vorzuziehen sind, auch den Verstand ungleich mehr verbessern? Nur
der, dem die Kräffte der
Seele unbekannt sind, der ein gründliches
Urtheil nicht von einem seuchten, noch einen stumpffen Verstand von
einem scharffen unterscheiden kan, der auch den Gipffel der
Vollkommenheit nicht einsiehet, zu welchem der Verstand gelangen kan. |
|
|
|
|
Meines Erachtens, hat man alsdann erst einen
scharffen Verstand, wenn man nicht alleine das helle von dem dunckeln,
das deutliche vom undeutlichen, das vollständige von dem
unvollständigen, dass ausgemachte vom unausgemachten, dass gewisse vom
ungewissen, das wahrscheinlichere von dem nicht so wahrscheinlichen zu
unterscheiden im Stande ist, sondern auch selbst genau und deutlich im
Erklären, fleißig und vorsichtig im Bemercken, scharffsinnig und genau
im Versuchen, strenge und scharff im Urtheilen, ordentlich und bündig im
Beweisen, gedultig und fertig im Erfinden ist. |
|
|
|
|
Allein wie gelanget man wohl zu so gar
vortrefflichen Fertigkeiten? Nicht anders als durch eine offtmahlige
Übung. Man muß also sich viel mit Auseinanderwicklung der
Begriffe,
Aufsetzung der
Beweise, Auflösung der Aufgaben zu thun machen, auch
keine geringe Mühe auf Nachdencken und Erfinden verwenden. Weil nun
diejenigen, welche die Meßkunst, und die übrigen Künste mit gleichem
Fleiß getrieben haben, von keiner wissen, welche zu diesem Zweck dienet,
als der Meßkunst allein: So thue ich billig den Ausspruch, die
Erkänntniß der Meßkunst seye zu Schärffung der Urtheilungs-Krafft
ungemein nöthig, und ohne dieselbige könne man zu einer gründlichen
Erkänntniß der Wahrheiten nicht gelangen.„ |
|
|
|
|
Wie und wodurch der Verstand am besten
aufzuräumen, davon lese man l'art d'orner l'Esprit en l'amusant, ou
Nouveau Choix de Traits vifs, saillans, et legers. Par M. Gayot de
Pitaval, Paris 1728. in zwey Duodetz-Bänden. Es sind hierinnen
nicht
Regeln, sondern nur Exempel enthalten, weil der Verfasser
zweifelt, ob sich der Verstand durch die
Kunst aufgeweckt und munter
machen lassen, und ob man dergleichen |
|
|
|
{Sp. 1994} |
|
|
|
Regeln geben könne, welche durch ihre Ausübung zu
diesem
Zwecke führen. Das beste Mittel, solches zu erhalten, ist die
Lesung aufgeweckter
Schrifften von der besten
Art in denen
Wissenschafften, die zur Belle Litterature gehören, wodurch der
Verstand unvermerckt die Art dessen annimmt, womit er beständig
umgehet,
und sich in seiner Manier zu dencken nach den grossen Mustern richtet,
die er immer vor sich hat.¶ |
|
|
|
|
Es zeiget uns aber das
natürliche Recht die
Schuldigkeit, an der Ausbesserung des Verstandes zu arbeiten,
als ein Stücke der
Pflichten gegen sich selbst, an. Denn man soll
überhaupt nach der Vollkommenheit streben, und also ist es denn auch die
Pflicht eines jeden, die Vollkommenheit seines Verstandes, so viel, als
es ihm möglich ist, zu befördern. Man soll also nach allem
Erkänntniß
streben, welches zu erlangen in seinen
Kräfften stehet: ja man soll in
jedem Falle den höchsten Grad der Deutlichkeit und Vollständigkeit zu
erreichen trachten. Doch ist es
billig, diejenige
Art des Erkänntnisses
allen übrigen vorzuziehen, der wir in unsern Umständen am wenigsten
entbehren können,¶ |
|
|
|
|
Weil aber die
Pflichten gegen uns selbst der
untrügliche Maaßstab der Pflichten gegen andere, so sind wir daher
verbunden, die Vollkommenheit des Verstandes auch bey andern zu
befördern. Und da diese in einer deutlichen
Erkänntniß
der
Wahrheit, in
Vollständigkeit der
Begriffe, in Richtigkeit der
Urtheile, und
Gründlichkeit der Vernunfft-Schlüsse bestehet; so sind wir
verbunden,
andern, so viel uns möglich ist, die Erkänntniß zu erweitern und zu
verbessern; ihnen die Wahrheit beyzubringen, und die Irrthümer zu
benehmen; sie von Vorurtheilen zu befreyen und zur
Wissenschafft
anzuführen. |
|
|
|
|
Es
verstehet sich dieses aber mit dem Bedinge,
daß wir Fähigkeit, Zeit und Gelegenheit dazu haben, denn sonst würden
wir nicht dazu verbunden seyn. Hingegen ist es auch unsere
Pflicht,
niemanden vorsetzlich in Irrthum zu stürtzen, keinem durch Vorurtheile
den Verstand zu umnebeln, keinen an deutlicher Erkänntniß zu hindern,
oder einen von der Einsicht in den
Zusammenhang der Wahrheiten
abzuhalten.¶ |
|
Gottscheds erste Gründe der gesamften
Weltweißheit, Pract, Th. ...
|
|
|
In der
Tugend-Lehre wird gefraget, ob der
Verstand dem Willen gebiethe, oder sich von ihm beherrschen lasse, wovon
in dem
Artickel:
Wille, gehandelt worden. |
|
|
|
|
|