HIS-Data
Home | Suche
Zedler: Vernunft [4] HIS-Data
5028-47-1390-1-04
Titel: Vernunft [4]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 47 Sp. 1415
Jahr: 1746
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 47 S. 721
Vorheriger Artikel: Vernunft [3]
Folgender Artikel: Vernunft [5]
Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Personen, Bibel
  • : Absatz in der Vorlage vorhanden
  • Transkribierter griechischer Text der Vorlage

vorhergehender Text  Teil 3 Artikelübersicht Teil 5  Fortsetzung

  Text Quellenangaben und Anmerkungen
  Mißbrauch der Vernunft.  
  Wir wollen hier nicht die vielfältigen Arten der Mißbräuche, die mit derselben vorgehen, berühren. Doch düncket uns dieser der vornehmste zu seyn, wenn man Leute antrifft, die die Vernunfft zu dem Principio und Quelle der Glaubens-Lehren und Lebens-Pflichten, und also zur Richtschnur der Heiligen Schrifft erheben.  
  Benedict. de Spinoza in Tract. Theol. Polit. c. 15. leget der Vernunfft und Philosophie absolutum et solitarium veritatis imperium und der Heiligen Schrifft regnum obedientiae bey? Der Verfasser der Vorrede über die Opera posthuma des Spinozä sagt p. 9: Der Apostel nennt Röm. XII, 1. die Christliche Religion darum vernünfftig, weil die Vernunfft dieselbe vorschreibe, und diese Religion in der Vernunfft gegründet sey. Eben dieses lehren Balthasar Becker in Discursu Libris III. mundi fascinati praemisso; Hermanni Alexandri Roell Dissert. de religione rationali; Vornehmlich der Verfasser Exercitationis paradoxae de philosophiae scripturae interprete, welches Ludewig Meier, ein Medicus zu Amsterdam, seyn soll, der von Gisberto Voetio und Sam. Maresio ist wiederleget worden. Besiehe
  • Valentini Ernst Löschers Praenotiones IV.
  • Herm. Lud. Benthems Holländischen Kirchen- und Schulen-Staat …
  • Johann Friedrich Buddäus in Isagog. Hist. Theol. …
  Wir fügen dem Verzeichnisse solcher Verächter der Offenbahrung noch eine gottlose Schrifft bey, die in der Bibliotheque Angloise par A. de la Chapelle … angeführt worden, und allwo man sich zugleich verwundert hat, daß solcher Boßheit in Engelland nicht mit mehrern Ernst begegnet werde. Sie führt folgendem Titel: De infallibility of human judgement it's dignity and excellency. Der Verfasser erhebt darinnen nicht nur die Vernunfft weit über die Schrifft, sondern nennet Gotteslästerlich alle Offenbahrung einen Betrug, den Glauben eine Narrheit und die Wunderwercke ein Blendwerck der Leute u.s.w.  
  Unter denen Schrifft-Stellen, die von dergleichen Feinden des Wortes GOttes zu jetziger Zeit sonderlich gemißbrauchet werden, ist vornehmlich Röm. XII, 1. und 1 Petr. II, 2. Sie dichten, es werde hierin logike latreia, das ist, nach ihrer Auslegung die gantze Religion und Gottes-Dienst als vernünff-  
  {Sp. 1416}  
  tig vorgeschrieben, daß wir daraus erkennen möchten, die gesunde Vernunfft sey die eintzige Quelle und Ursprung aller Wahrheit, und also auch aller Glaubens-Lehren und Lebens-Pflichten. Man hat deswegen  
 
1) zu mercken, daß Paulus und Petrus l.c. durch logiken latreian einen geistlichen Gottes-Dienst verstehen. Denn dieser wird tē psychikē douleia, dem lebendigen Gottes-Dienste derer Gläubigen Alten Testaments, da sie allerley Thiere aloga zōa 2 Petr. II, 12. opfferten, entgegen gesetzet; im Neuen Testamente aber sollen wir GOtt unsere Glieder samt allen Kräfften des Leibes und der Seelen als geistlicher Opffer darbringen
1 Petr. II, 5. Röm. VI, 13. besiehe Salom. Deylings Observ. ad h.l.
 
  Einige setzen noch hinzu, daß to logikin, hier auch tō alogo, dem Heydnischen Götzen-Dienst, welchen Paulus 1 Cor. XII, 2. alogon nennet, entgegen gesetzet werde.
Chr. Heinr. Zeibichs Diss. aloga gentilium sacra.
 
  Solcher gestalt kann der wahre Gottes-Dienst auch Röm. XII, 1. ein vernünfftiger Gottes-Dienst, das ist, ein solcher, welcher der Vernunfft nicht zuwieder ist, worauf Lutherus in seiner Übersetzung gesehen hat, genennet werden.
 
 
2) Was Paulus tēn logikēn latreian heißt, daß schreibt Petrus 1 Epist. II, 2. 5. durch logikon kai hadolon gala, durch geistliche und lautere Milch, Ingleichen durch pneumatikas dysias, durch geistliche Opffer. Die Opffer derer Christen heissen auch geistlich, so wohl in Ansehung der Weise, da sie nicht wie im Alten Testamente, sondern in Geist und in der Wahrheit gebracht werden, Joh. IV, 24. als auch in Betrachtung desjenigen, daß geopffert wird.
 
 
  Da sollen nicht nur die Glieder des Leibes auf eine geistliche Weise, sondern auch die Seele sammt allen Kräfften und insonderheit das Gebet, 1 Tim. II, 1. als Opffer des Hertzens und Mundes geopffert werden. Lutherus schreibt in der Rand-Glosse über Röm. XII, 1. Paulus nennet alle unsere Opffer oder Wercke unseres Gottes-Dienstes unvernünfftig, die ohne Glauben und wahre Erkenntniß GOttes geschehen. Demnach ist es nicht nötig, [sechs Wörter griechisch] herzuleiten und den wahren Christlichen Gottes-Dienst zu verstehen; noch von dem geschriebenen Worte anzunehmen und einen Gottes-Dienst, der dem geschriebenen Worte GOttes gemäß sey, darunter zu begreiffen. Worauf vielleicht die Ausleger gesehen haben, welche logiken latreian durch verbalem cultum übersetzet haben.
 
 
  Ingleichen braucht es auch nicht mit Josua Arndio in Miscellaneis … hierinne sich auf die aloga pathē oder auf die unvernünfftigen Affecten der Stoicker zu beruffen. Daß man die Affecten insgesamt als unvernünfftige Gemüths-Bewegungen fliehen solle, lehret weder Paulus noch Petrus noch sonst jemand von denen Göttlichen Schrifftstellern. Sie preisen aber allerley gute Affecten denen Christen an, als
 
 
 
1 Cor. XIII, 1. 13.
 
 
  • die Freude,
Philipp IV, 4.
 
 
  • die Traurigkeit,
2 Cor. VI, 10.
 
 
  • u.s.w.
 
 
3) Paulus gibt hier nicht die Vernunfft als eine Regel des Gottes-Diensts oder die Heilige Schrifft auszulegen an; er ermahnet vielmehr die Vernunfft gefangen zunehmen unter den Gehorsam Christi,
2 Cor. X, 5.
  {Sp. 1417|S. 722}  
 
  Er befiehlet sich zu hüten, daß man nicht durch die Philosophie beraubet, und durch Menschen-Lehre verführet werde,
Col. II, 8.
 
  Die Vernunfft über die H. Schrifft erheben, phronēma tēs sarkos, ist nichts anders, als fleischlich gesinnet seyn,
Röm. VIII, 7.
  Die Ausflüchte der Gegner sind desto leichter zu zernichten, mercke man ferner  
 
a) Wir brauchen in der Auslegung der H. Schrifft und Prüfung der darüber entstandenen Streitigkeiten die menschliche Vernunft, nicht aber soferne sie nach dem Falle verderbet ist, noch wie sie in dem verderbten Zustande, da sie pflegt richtig oder gesund genennet zu werden, betrachtet wird, und sich selbst gelassen ist; sondern soferne sie von GOtt dem H. Geiste durch die Schrifft erleuchtet und unter den Gehorsam des Glaubens und Christi gebracht ist;
 
 
b) Wir brauchen die erleuchtete Vernunft in der Erklärung der Schrifft nicht als eine Norm, Principium oder Grund, sondern als ein Werckzeug,
besiehe
  • Martini Chladenii Institut. Exeget. …
  • Joh. Jac. Rambachs Institut. Hermen. Sacr. …
 
  Hieher ist auch zu setzen Fried. Balduinus Comment. ad 2 Cor. X, 5 … allwo er gar recht lehret, die Vernunft bedürffe auch bey einem Wiedergebohrnen noch einen Zaum; sie sey wie ein wildes Thier, das zu seiner wilden Art sich wende, wenn es gleich eine lange Zeit gezähmet worden.
 
 
  Joh. Conr. Dannhauerus räumet in Prodromo Anti Christosophiae … der erleuchteten Vernunft in der heiligen Auslegungs Kunst einen dreyfachen Nutzen ein, als
 
 
 
1) usum apprehensivum et retentivum,
2) explicativum praesertim rerum ex philosophia in S.S. occurrentium,
3) argumentativum;
 
 
c) Hier ist fast eben das von der Philosophie, die ihren Ursprung der Vernunft zu dancken hat, zu erinnern, was man zu sagen pfleget, wenn gefraget wird, was sie vor Nutzen in Auslegung der Schrifft habe. Man hat die nüchterne und gesunde Philosophie von der trunckenen und ungesunden vornehmlich zu unterscheiden. Diese unterwirfft sich nicht mit Christus, wie Paulus 2 Cor. X, 5. erfordert, sondern schwinget sich selbst auf den Thron, will Richter vor sich seyn, und nach ihrer Regel die H. Schrifft auslegen; jene giebt sich Christo und dem Glauben gefangen, und kan die Christliche Philosophie genennet werden.
 
 
  Diesen Nahmen hat Christian Thomasius in Introduct. in aulic. philos. … gäntzlich verworffen. Allein bey der von uns gegebenen Beschreibung davon kan sie gar wohl statt finden. Denn damit man nicht durch die Philosophie verführet werde; so muß man eine wahrhafftige eclectische Philosophie erwählen, sie hernach mit aller Vernunft gefangen nehmen unter dem Gehorsam Christi, und solchergestalt endlich zur Erklärung des göttlichen Wortes anwenden.
 
 
  Ob Gerhard de Vries Exercit. de otheio Philosophi circa revelata, Hermann Witsius Diss. de usu et abusu rationis circa mysteria fidei, in Miscellaneis Sacr. T. II. p. 582. und andere solches gebührend beobachtet haben, überlassen wir andern zu beurtheilen;
 
 
d) Wenn uns in der H. Schrifft befohlen wird
 
 
 
  • noein, darauf zu mercken,
  • Matth. XXIV, 15.
  • 2 Tim. II, 7.
 
 
  • krinein, zu richten,
1 Cor. X, 15.
 
 
  • logizethai, zu dencken,
2 Cor. X, 11 u.s.w.
 
  so wird hierdurch der Gebrauch der erleuchteten Vernunft als eines
 
  {Sp. 1418}  
 
  Werckzeugs nach oben beschriebener Weise angewiesen. Christus und Paulus reden in angezogenen Stellen mit Wiedergebohrnen, und fordern von ihnen, daß sie die Gaben zu weissagen und auszulegen, welche 1 Cor. XII. beschrieben werden, recht gebrauchen sollen.
 
 
  Das Vermögen, die H. Schrifft zu erklären, ist ein Gnaden-Geschencke des H. Geistes, und kan von der gesunden Vernunft nach dem Falle und von der Philosophie nicht hergeleitet werden,
v. 1. 3. 4.
 
  Die Befehle GOttes und Christi setzen auch nicht allezeit natürliche Kräffte und Vermögen, so nach dem Fall übrig sind, zu thun, voraus. So befiehlt GOtt Jer. III, 14. Bekehret euch. Da doch GOtt mit dem Befehl zugleich Kräffte mittheilet,
  • Jer. XXXI, 18.
  • 2 Cor. III, 5.
 
  Wie Christus Luc. VII, 14. zu den todten Jünglinge sprach: Jüngling, ich sage dir, stehe auf, und ihm zugleich das Vermögen aufzustehen schenckte.
Heinrich Klausings Vindiciarum Scripturae Disp. I.
  Wir machen also aus allen diesen angeführten den Schluß, daß diejenigen in grosser Verdammniß sind, welche die Haupt-Sprüche, darinnen uns die H. Geheimnisse des Glaubens offenbahret werden, dem Urtheile der Vernunft unterwerffen, und den deutlichen Verstand der Worte leugnen, weil sie die Weise der Sache nicht begreiffen können. Es gehören hierher die Rationalisten.  
  Die Reformirten, Marckius in Compend. theol. Christ. c. 2. desgleichen Petr. von Mastricht in theol. theoretico practica L. I. c. 2. wollen die Vernunft und Philosophie in den Geheimnissen nicht zur Norm annehmen. Die Praxis streitet wider ihre Worte; immassen sie die Mittheilung der Eigenschafften, die Gegenwart des Leibes und Blutes des Gott-Menschen im Heil. Abendmahl, die Würckung der Taufe, den Glauben der Kinder wider die klaren Zeugnisse der H. Schrifft leugnen, weil solches ihrer Vernunfft ungereimt zu seyn scheinet, Joh. Marckius l.c. … verräth seinen Sinn nicht undeutlich; Besiehe Biblioth. Bremens. … allwo es heisset: Una ratio circa omnes versatur veritates cognoscendas dijudicandasque.
  Noch Ärger sind die Arminianer.
  • Armini Confess. …
  • Val. Sinalvius Homil. VIII. in Joannem c. 1.
  • Catechesis Ecclesiar. Polonic. …
  Die Socinianer halten davor, es sey alles ungereimt, was über die menschlichen Gedancken gehe. Allein diesen Leuten muss man den Spruch vorlegen Philipp IV, 7: [ein Satz griechisch].  
  Wir sehen täglich vieles in der Natur, davon wir die Ursachen und die Weise nicht angeben können, Joh. III, 7. u.f.
  Man solte vielmehr glauben, daß GOtt überschwenglich thun könne,
  • Eph. III, 10.
  • Romani Cellers Philosophismus Exegeticus.
  Überhaupt gehört hieher der Artickel: Naturalisten und Naturalisterey, im XXIII Bande, p. 1237. u.f.  
  Und man kan in dergleichen Art Leuten gar leichte auch nur aus Vernunft-Gründen darthun, daß sie in einer grossen Thorheit stecken, wenn sie sich gleich bei der vermeynten Meisterschafft der Vernunft noch so klug, scharffsinnig und subtil zu seyn einbilden. Sie geben würcklich sowohl eine merckliche Schwachheit ihres Verstandes als eine nicht geringe Boßheit ihres Willens zu erkennen, wenn  
  {Sp. 1419|S. 723}  
  sie die Vernunft auf den Thron setzen: über alles erheben, und die Geheimnisse des Glaubens, die uns GOtt selbst offenbahret, herunter stürtzen wollen.  
  Das kan man gar leichte deutlich machen. Entweder wollen sie gar keine Offenbahrung erkennen, oder sie nehmen solche wenigstens dem Scheine nach an. Ist jenes, daß sie von keiner Offenbahrung was wissen wollen, und selbige ohne Scheu verwerffen, so kan man ihnen die Möglichkeit der Geheimnisse auf das gründlichste darthun, und mit allem Recht daraus die Folgerung machen, daß sie nicht Ursache hätten die geoffenbahrten Geheimnisse an sich zu verwerffen, und zwar aus dem Grunde, weil sie solche mit der Vernunft nicht begreiffen könnten.  
  Der Beweiß solcher Möglichkeit kan auf zweyerley Art angestellet werden. Denn einmahl kan man ihn aus der Natur der Sache leiten. Ein Geheimniß ist eine solche Wahrheit, da wir zwar die Existentz einer Sache gewiß erkennen; die Beschaffenheit aber derselbigen nicht begreiffen können, und also von derselbigen keinen Begriff haben. Damit ist es wohl über; aber nicht wider die Vernunft. Solcher Unterscheid ist sattsam gegründet.  
  Ein anderes ist das unbegreifliche; ein anderes das unvernünftige. Ist ein Geheimniß etwas, das wir nicht begreiffen können, wer solte deswegen wohl zweifeln, daß solches nicht möglich sey. Einen Grund solcher Möglichkeit finden wir in der Beschaffenheit unseres Verstandes. Er hat nur eine endliche und eingeschrenckte Krafft etwas zu erkennen und zu begreiffen, einzusehen und zu beurtheilen. Er erforschet viele Dinge und erlanget darinnen eine Einsicht; gleichwohl aber bleiben ihm eben so viel, ja noch viel mehrere Sachen unbekannt. Er erkennt viele Wahrheiten, und ist dabey vielen Irrthümern unterworffen. Es giebt gantz gewisse Wahrheiten; es giebt auch nur wahrscheinliche und die letztern dürfften die erstern an der Menge übertreffen.  
  Bey solchen Umständen unseres menschlichen Verstandes mag es ja wohl möglich seyn, daß ihm Dinge vorkommen, wie er zu begreiffen nicht fähig ist, und dennoch einen Grund der Wahrheit in sich haben. Ja noch einen Grund solcher Möglichkeit finden wir in dem Wesen GOttes. Solches höchste und uneingeschrenckte Wesen kan solche Dinge thun: solche Wahrheiten davon abfassen und uns offenbahren, die wir zu begreiffen nicht vermögend sind. Das ist so ausgemacht, daß wer solches leugnen wolte, der müste dabey etwas behaupten, welches den höchsten Vollkommenheiten GOttes zuwider wäre.  
  Man kan auch nicht sagen, GOtt könne von den Menschen nicht verlangen, daß sie Dinge annehmen sollen, die sie nicht begreiffen könnten. Denn warum solte er das nicht verlangen können? Er ist der wahrhafftige GOtt, und wenn er ihnen solche entdecket, so haben sie einen hinlänglichen Grund es zu glauben, das ist, vor wahr zu halten, weil es GOtt gesagt, sie mögen es begreiffen oder nicht.  
  Damit ist die Möglichkeit der Geheimnisse dargethan. Sie fassen nichts wiedersprechendes in sich. Vielmehr sind sie der Beschaf-  
  {Sp. 1420}  
  fenheit des menschlichen Verstandes und dem Wesen GOttes gantz gemäß. Sehen wir insonderheit auf die Geheimnisse, so die göttliche Offenbahrung und die Christliche Religion in sich fasset, so kan man noch einen Beweiß dieser Möglichkeit beyfügen.  
  In der Natur giebt es Geheimnisse. Das wird man mit allem Rechte so lange behaupten, bis unter andern ein Naturalist erkläret, wie bey einem Menschen Leib und Seele mit einander vereiniget: wie die Seele ihre Gedancken formire: wie ein Geist in einem Cörper würcke: wie es mit den Teufelischen Würckungen, von denen wir durch die Historische Glaubwürdigkeit versichert sind, zugehe, u.s.w.  
  Sind in der Natur Geheimnisse, warum will man sich denn an diejenigen stossen, die wir in heiliger Schrifft und in der Christlichen Religion haben. Da siehet man, daß man von den Geheimnissen keinen Grund nehmen kan, die Offenbahrung der Schrifft zu verwerffen. Nimmst du solche dem Ansehen nach an, und unterstehest dich gleichwohl als ein Socinianer, Arminianer oder überhaupt als ein Rationalist, die Geheimnisse aus der Schrifft auszumerzen, und alles so zu erklären, daß es deiner Vernunft begreiflich werde, so ist das gewiß eine grosse Einfalt und Thorheit.  
  Denn siehe, wo du die göttliche Offenbahrung erkennest, wie man sie nothwendig erkennen muß, so kan man dir auch die Nothwendigkeit der Geheimnisse zeigen. Man siehet sie nun nicht mehr, als was mögliches; sondern als was nothwendiges an. Sie sind nothwendig, indem die Offenbahrung, soferne sie dem Lichte der Natur entgegen stehet, und von demselbigen unterschieden ist, sonst keine Offenbahrung bliebe, und gantz vergeblich wäre, wenn sie keine andere als natürliche Wahrheiten sich faßte.  
  Giebt man zu, daß das Licht der Natur zur Erlangung der Seeligkeit nicht hinreichet, und erkennt die Nothwendigkeit der Offenbahrung, so muß man auch zugeben, daß in derselbigen solche Wahrheiten müssen enthalten seyn, welche mit der Vernunft nicht können begriffen werden. Sonst schriebe sie ja keine andere, als eine natürliche Religion für, die aber gleichwohl zur Seeligkeit unzulänglich ist: sie hätte eher keinen Vorzug vor dem Lichte der Vernunft und demjenigen, was darinnen enthalten ist: die Glaubens-Lehren, so wird daraus erkennen, und die Mittel, welche uns zu unserm Heyl vorgeschrieben, müsten auch denen bekannt seyn, die von dieser Offenbahrung nichts wissen, so aber falsch ist.  
  Wollen wir die Ursachen untersuchen, daß viele Menschen ihrer Vernunft so grosse Herrschafft auch über die Offenbahrung einräumen, so werden es folgende seyn: Ein solcher Mensch ist  
 
1) allein in der äussern sichtbaren Natur vertieft u. gleichsam ersoffen, und er ist nur die mechanischen Gesetze zu erforschen bemühet. Dahero er auch, wenn er solche einiger massen gefasset, nach selbigen allein selbst die unsichtbare himmlische Dinge abzirckeln will, und wo er sieht, daß sich dieselbe in
 
  {Sp. 1421|S. 724}  
 
  seine allzu enge Natur-Schrancken nicht einschräncken lassen, so verlacht und verwirfft er sie als Thorheit. So sind auch
 
 
2) solche natürliche Menschen von ihrer Eigen-Liebe gleichsam berauscht, und halten sich vor die allerklügsten unter der Sonne, sie nennen sich Esprits forts, starcke Geister, als wenn sie gleichsam mit den allergrösten und allererleuchtetsten Verstand begabet wären. Können Sie nun die göttlichen Geheimnisse nicht fassen, noch mit ihren Schluß-Reden zusammen reimen; so läst ihr Hochmuth das Bekänntniß und die Beichte ihrer Ohnmacht nicht zu, und wollen lieber, ehe sie solches thun, die allerhöchsten und weisesten Geheimnisse GOttes selbst einer Thorheit und Unwahrheit beschuldigt. Ferner ist
 
 
3) eine Ursache davon, daß sich solche Leute von GOtt und allen geistlichen Sachen, cörperliche und fleischliche Ideen machen, und sich unter cörperlichen in die Sinne fallenden Figuren und Bildern GOtt, sein Wesen und geheime Wercke vorstellen.
 
 
  Denn der eine, wenn er GOtt nennen höret, begreifft ihn als einen alten hochbetagten Mann, der andere als einen prächtigen König, der Dritte als eine dünne, feine, überall ausgespannte Lufft, der vierte als einen Circkel, der fünffte als einen Triangel, an welchen verkehrten Begriffen die Mahler und Lehrmeister meistens Ursache sind. Diese Ursachen verführen die meisten Menschen, daß sie ihrer Vernunfft die Oberherrschafft einräumen und dieselbe in Glaubens-Sachen zur Richterin erwählen.
 
  Sie werden dadurch verleitet, daß sie diejenigen Göttlichen Geheimnisse, so sie nicht fassen können, gleich als Thorheit, Unwahrheit und Phantasie gäntzlich verwerffen und verleugnen, dahin die Lehre von Christo und das Geheimniß der Dreyeinigkeit zu rechnen, welche nicht gegen die Vernunfft streiten, sondern nur über dieselbe gehen. Die Dreyeinigkeits-Feinde, zumal Michael Servetus, möchten erwegen, daß eins und drey keine wieder einanderstreitende und einander verneinende Dinge seyn, davon das eine das andere aufhebe, als daß wenn das eine stehe, das andere nicht bestehen könne, und schließt vielmehr das eine das andere in sich; denn wie drey oder die dritte Zahl in sich schleußt eins oder die erste Zahl; also hält eins oder die erste Zahl als der Ursprung und Mutter aller andern Zahlen auch schon in sich die dritte Zahl, und ist in Eins und Drey, und also auch in der Heil. Göttlichen Dreyeinigkeit kein Wiederspruch zufinden. Gesetzt, es lieffe dieses Geheimniß gegen die Regeln der Vernunfft und Zahl, Lehre oder Arithmetique, so hat man doch GOtt als ein geistlich Wesen nicht nach den Regeln der Rechen-Kunst zuermessen, weil die Regeln davon sammt ihren Zahlen ja nur allein solche Dinge abmessen, theilen, unterscheiden und zusammensetzen, die da endlich und ermeßlich, und auch eine umschränckte Quantität, als eine Länge, Breite, Tiefe und Höhe haben.  
  Die Herrschafft der Vernunfft zeigt sich weiter, wenn sie die Göttliche Geheimnisse und Wunder, so übernatürlich seyn, natürlich erkläret, um Ihre Majestät und Grösse zu unterdrücken, die Göttliche Krafft ihnen zubenehmen und den gantzen  
  {Sp. 1422}  
  Gottesdienst zuzernichten. Johann Gerhard Meuschens Eröfnete Bahn des wahren Christenthums, Franckfurt am Mayn, 1716.
     

vorhergehender Text  Teil 3 Artikelübersicht Teil 5  Fortsetzung

HIS-Data 5028-47-1390-1-04: Zedler: Vernunft [4] HIS-Data Home
Stand: 5. April 2013 © Hans-Walter Pries