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Quellenangaben und Anmerkungen
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Vernunft,
Lat. Ratio,
Frantz. Raison, das
Wort: Vernunft,
wird auf
verschiedene
Art genommen, und ist zu beklagen, daß die
Philosophen in
dem, darauf sie sich alle, als den
Grund ihrer
Wahrheiten, beruffen, nicht einig
sind, was es sey. Alle
Bedeutungen,
die man dem selbigen beyleget, können zusammen gezogen werden, daß sie auf zwey
vornehmste
Begriffe hinaus laufen.
Denn entweder nimmt man selbige |
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Ehe wir nun von der Vernunft unter beyden Haupt-Bedeutungen handeln, müssen
wir vorher bemercken, daß die Theosophici sich zwar auch des
Worts
Vernunft bedienen; sie
verstehen aber dadurch nicht die
Erkenntniß der
Wahrheit
aus natürlichen Principien, oder die
Krafft dieselbige zu erkennen, sondern das
inwendige
Principium, das sie als einen Ausfluß und Funcken des
Göttlichen Wesens in der menschlichen Seele suchen, das sie der in ordentlichem
Verstande
genommenen Vernunft entgegen setzen. |
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Wer in den
Schrifften der Theosophicorum bewandert ist, dem wird
dieses gantz was bekanntes seyn. Einer der berühmtesten und vornehmsten unter
ihnen, Jacob Böhme,
redet in der Aurora
… davon also: |
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"Gleichwie vom Vater und Sohn ausgehet der Heilige Geist, und ist eine
selbst-ständige Person in der Gottheit, und wallet in dem ganzen Vater: Also
gehet auch aus den Kräfften deines Hertzens, Adern und Hirns aus die Krafft, die
in deinem gantzen
Leibe wallet, und aus deinem Licht gehet aus in dieselbe
Krafft, Vernunfft, Verstand,
Kunst und Weißheit, den ganzen Leib zu regieren,
und auch alles, was ausser dem Leibe ist, zu unterscheiden. Und dieses beydes
ist in deinem Regiment des
Gemüths ein
Ding, nehmlich dein Geist, und das
bedeutet GOtt den Heiligen Geist, und der Heil. Geist aus GOtt herrschet auch in
diesem Geiste in dir. Biß aber ein Kind des Lichts, und nicht der Finsterniß.“ |
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Wer
philosophischer hiervon
geredet wissen will, darf nur Poirets
Buch de eruditione triplici nachschlagen, der in der That auf eben
dieses hinaus gehet, ob er gleich philosophischer reden will. Man vergleiche
hiermit des Herrn Christian Thomasii Vorrede zu vorgedachtem
Buche Poirets. |
Bruckers Fragen aus der philosophischen
Historie Th. VI …¶ |
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Wir kehren wieder zurück zu den vorher gedachten zwey Haupt-Bedeutungen des
Worts Vernunft. Nimmt man nehmlich solches¶ |
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I.) OBJECTIVE,
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so ist die Vernunft (Ratio objective oder auch, welches einerley,
abstractive sumta) nichts anders, als die
Verknüpffung der
Wahrheiten
unter einander selbst oder überhaupt die
Principia und |
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{Sp. 1391|S. 709} |
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Grund Sätze unserer
Erkänntniß, und pflegt man selbige in zwey
Arten
abzutheilen. |
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Einige heissen PRINCIPIA FORMALIA, die zur
Form und Weise,
vernünfftig zu schliessen, erfordert werden, z.E. wenn man
sagt: von dem
allgemeinen läst sich auf das besondere schliessen; Von dem Können auf das
Seyn
gehe keinen
Schluß an; Aus lauter verneinenden Sätzen kan man nicht schliessen.
Es gehöret hierherdie gantze Vernunfft-Lehre und ein grosser Theil der
Metaphysick, welche uns Anweisung geben, wie wir in den Gebrauch unserer
Vernunfft verfahren sollen, und welches eigentlich die Kennzeichen der
Wahrheit
seyn. |
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Andere sind PRINCIPIA MATERIALIA, die zur
Materie der Beweißgründe,
und Vernunfft-Schlüsse gehören, welche nach dem Unterscheide der
Sachen und
vielfältigen
Wissenschafften mancherley und unterschiedlich sind. Denn man hat |
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- PRINCIPIA METAPHYSICA, z.E. die
Ursache ist ehe, als die
Würckung; Das Gantze trägt mehr als ein Theil aus;
- PRINCIPIA PHYSICA, Z.E. Ein jeder
Cörper ist etwas
Zusammengesetztes;
- und PRINCIPIA MORALIA, z.E. Man muß
GOtt gehorchen; gesellig
leben.
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Wenn man das
Wort Vernunfft in diesem
Verstande annimmt, so kan man alsdenn
behaupten, daß Vernunft und
Schrifft einander nicht entgegen seyn.
Herr Ribov in instit. theol. dogmat.
bestärcket und befestiget uns diesen Satz mit nachfolgenden
Beweise per
indirectum: Die natürliche Gottesgelahrheit ist auf unstreitige und unleuchbare
Sätze der Vernunfft unbeweglich
gebauet: Die geoffenbarte gründet sich auf das
Göttliche Zeugniß, welches ein Pfeiler und Grund-Feste der
Wahrheit ist. Wäre
aber einige Uneinigkeit zwischen beyden; so müsten die Sätze der einen
Wissenschafft denen Sätzen der andern widersprechen. |
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Allein nach vorher gesetzten und vor ausgemacht von allen
vernünfftigen
Weltweisen angenommenen Satze können alle Aussprüche der natürlichen
Gottesgelahrtheit unwidersprechlich erwiesen werden, und sind demnach wahr; so
müsten denn jene nothwendig falsch und also die geoffenbarte Gottesgelahrtheit
nicht
Wahrheit seyn. Diesen aber sind alle ohnstreitigen
Beweiß-Gründe entgegen,
die man vor die unumstößliche Wahrheit der Offenbarung beybringen kan. Folglich
widersprechen Offenbarung und Vernunfft einander nicht würcklich, ungeachtet es
bißweilen also scheinet, wenn die Offenbarung uns solche Wahrheiten lehret,
welche zwar über die Vernunfft, nicht aber wieder dieselbe sind. |
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Man
sagt aber, daß eine
Sache über die Vernunft (SUPRA
RATIONEM) sey, wenn die bekannten und ausgemachten Sätze der Vernunfft
nicht zureichend, zur gewissen
Erkänntniß einer Sache zugelangen. Hingegen
wider die Vernunft (CONTRA RATIONEM) ist eine Sache
wenn sie dem Lichte der Vernunfft widerspricht, das ist, wenn sie mit einem, von
der Vernunfft deutlich erkannten Satze nicht zugleich bestehen kan. |
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Dieser Unterschied ist hauptsächlich wider den berühmten Peter
Baylen und den Italiänischen
Grafen Laur. Magalotri
zumercken, welche denselben verwerffen wollen, deßwegen aber unter andern von
Jaquelot und Leib- |
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{Sp. 1392} |
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nitzen gründlich widerleget worden. Denn man kan mit dessen
Hülffe die Einwürffe derer beantworten, welche erhärten wollen, daß die
Glaubens-Geheimnisse der Vernunfft zuwider seyn, und demnach Vernunfft und
Offenbarung einander widersprechen. Dergleichen Geheimnisse sind solche
Glaubens-Wahrheiten, welche von einen jedweden endlichen Verstand nicht völlig
begrieffen werden können, wenn ihm auch schon die Offenbarung zustatten kommt.
Wie nun diese zu der geoffenbarten Gottesgelahrtheit gehören, welche der
Vernunfft nicht widerspricht; so sind auch die Glaubens-Geheimnisse der
Vernunfft nicht entgegen. |
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Wir können, hierbey nicht unerinnert lassen, daß ob sich gleich
Leibnitz, anderer zugeschweigen, vornehmlich in seiner Theodicäa viele
Mühe gegeben, den berühmten Bayle zurechte zu weisen; so hat es doch das
Ansehen, daß durch dessen gelehrte Beantwortung der von diesen gemachten
Einwurffe viele
Gemüther noch nicht völlig beruhigt worden. |
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Das sie wieder die Vernunfft, was einem deutlichen Grund- oder Lehr-Satze
der Vernunfft widerspricht, unter denen einer der vornehmsten ist, daß eine
Sache nicht zugleich seyn und auch nicht seyn könnte. Die Vernunfft
saget, daß
nachdem eine
Jungfrau gebohren habe, dieselbe nicht mehr Jungfrau sey. Die
Offenbarung setzt diesem das Beyspiel der Jungfrau Maria gerade entgegen. Die
Vernunfft lehret, daß ein jeder
Cörper also in einen gewissen Raum und
Ort
eingeschlossen sey, daß er unmöglich zu gleicher Zeit in einem andern seyn
könne. Die Offenbarung hingegen gibt uns genugsame Versicherung daß der
Leib
Christi im Heiligen Abendmahl zu gleicher Zeit an unzehlichen Orten
wahrhafftig
gegenwärtig sey. |
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Der Englische
Artzt Morgan hat in seinen mit vielen
verdächtigen
Meynungen angefülleten
Buche: The Moral philosopher etc.
diesen Unterscheid, welchen die Gottesgelehrten unter dem, was über, oder wider
die Vernunfft ist, machen, ohnlängst mit neuen Waffen bestreiten wollen. |
Daniel Maichels zwey
Academische
Schrifften
de distinctione inter ea, quae sunt supra et contra rationem, Tübingen
1729. |
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Siehe übrigens von denen Grundsätzen der menschlichen
Erkänntniß den
Artickel: Menschlichen Erkänntniß (Gründe der) im XX
Bande, p. 801. u.ff.¶ |
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Wird das
Wort Vernunfft,¶ |
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II.) SUBJECTIVE
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genommen, vor ein
Vermögen
der
Seele in dem
Menschen, so wird selbige auf
verschiedene Art beschrieben.¶ |
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Erklärung der Vernunft.
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Schomerus in theol. Moral. … führt
unterschiedliche Beschreibungen an, er selbst aber erklärt sie also: Sie (die
ratio subjective oder
concretive sumta) sey eine
Krafft, ordentlich über unsere
Concepte und
Gedancken nachzusinnen, wobey
Buddeus in
Instit. theol. Moral. … erinnert, daß er sie allzu enge eingeschräncket. |
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Wollaston in Ebauche de la Religion naturelle
beschreibet sie als ein Vermögen, welches ein Wesen hat, sich
unmittelbare
Begriffe vorzustellen, von deren Gewißheit versichert zu seyn, hieraus Sätze und
andere, neue |
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{Sp. 1393|S. 710} |
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Wahrheiten zu ziehen: oder kurtz, das
Vermögen die
Kräffte des
Verstandes in
der Absicht die Wahrheit zu
erfinden, zu gebrauchen, und einen Satz zu erweisen
oder zu wiederlegen. |
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Einige
verstehen unter dem
Wort Vernunfft eine Krafft sich
Schlüsse deutlich
vorzustellen. Vernunft oder vielmehr vernünftige
Überlegung,
schreibt Richter in der Erkänntniß des
Menschen nach dem
Leibe … ist eine
Würckung der Seele, so ferne sie mit dem
Leibe vereiniget ist, da sie in der
Phantasie die entstandenen
Ideen betrachtet,
sie gegen einander hält, und durch den ihr angeschaffenen Verstand daraus einen
Schluß formiret, ob die
Sache gut oder
böse, wahr oder falsch, nöthig oder
unnöthig, zeitig oder unzeitig, thunlich oder unthunlich, geziemend oder
ungeziemend sey, u.s.w. |
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Also concurriren hierbey erstlich auf Seiten des
Leibes die
Sinne, welche
die
Eigenschafften und Umstände der
Dinge dem
Gemüthe vorlegen; und hernach auf
Seiten der
Seelen der
Verstand, der die
Sachen aus einander lieset, und die
Bilder unterscheidet und verbindet, aus welchen zusammen dasjenige Vermögen
entstehet, das man Vernunfft zu nennen pflegt."
[1] |
[1] |
HIS-Data: öffnende Anführungszeichen fehlen in
der Vorlage |
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Der Herr Cantzler
Wolff in den vernünfftigen Gedancken von
GOtt, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt §. 368.
erkläret die Vernunfft durch die Einsicht, so wir in den
Zusammenhang der
Wahrheiten haben, oder durch das
Vermögen den Zusammenhang der Wahrheiten
einzusehen. |
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Daß diese Erklärung der Vernunfft der
Gewohnheit zu
reden gemäß sey, zeiget
Wolff also: Wir
sagen z.E. Es habe Sempronius seine
Sachen
vernünfftig angefangen, wenn er alles wohl überleget, was aus seinen Handlungen
für Schaden und
Nutzen erwachsen könne, und dergestalt eingerichtet, daß er in
seinem
Thun und Lassen ihm nicht selbst zuwider ist; sondern vielmehr eines das
andere fördert. Hier bestehet die Vernunfft, so Sempronius beweißt, in nichts
anders als in der Einsicht, die er in den
Zusammenhang der Dinge hatte, nehmlich
sowohl in den Zusammenhang seiner Handlungen, als ihrer mit andern Dingen. Denn
wenn einer darauf nicht Acht hat, so richtet er seiner Handlungen ein zu seinem
eigenen und anderer ihrem
Schaden, und lauffen dieselben wieder einander.
Alsdenn aber wird niemand mehr
sagen, Sempronius fange seine Sachen
vernünftig
an; vielmehr wird ein jeder zugestehen, er handele unvernünfftig. |
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Man kan auch hieraus sehen, daß der gewöhnliche
Begriff von der Vernunfft
nichts anders als die Einsicht in den
Zusammenhange der
Wahrheiten sey. Wenn man
saget, es habe einer
vernünfftig gehandelt, und man wird gefragt, warum? so
antwortet man jederzeit, weil er dadurch diesen
Vortheile geschaffet, oder auch
diesen Schaden verhütet, und dergleichen, das ist, weil er gesehen und bedacht,
was aus seinem
Thun und Lassen hat kommen können, folgends eine Probe seiner
Einsicht in den
Zusammenhang der Dinge abgeleget. Hingegen wenn man
beweisen
will, es habe einer unvernünftig gehandelt; so bemühet man sich darzuthun, daß
er höchst unbesonnen etwas vor- |
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{Sp. 1394} |
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genommen, ohne zu erwegen, was aus seinem
Thun und Lassen kommen könne, und
wie es sich mit seiner
Person und
Stande, oder auch anderen Umständen reime. |
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Der
Herr von Leibnitz erkläret in seiner Theodicäa die
Vernunfft durch eine Kette der
Wahrheiten (catenam veritatum). Herr
Wolff
sagt lieber
Zusammenhang der Wahrheiten, damit es nicht
das Ansehen gewinne, als wenn er durch ein
Wort in einem uneigentlichen
Verstande etwas erklären wollte: welches den
Regeln der Logick zuwiederläuft. Er
mag aber auch nicht den Zusammenhang der Wahrheiten die Vernunfft nennen,
sondern vielmehr die Einsicht, die wir darinnen haben, weil man sonst in etwas
von dem gemeinen Gebrauch zu
reden abweichet. Denn man giebt doch die Vernunfft
für ein
Vermögen
der
Seele aus, und daher muß man es dabey lassen, und nur
zeigen, worinnen dieses Vermögen von andern unterschieden. Man siehet aber, ohne
nöthig zu haben, es allerst zu erinnern, daß man nicht alles natürliche Vermögen
zu
erkennen Vernunfft nennen kan; denn so gehörten die
Sinnen, die
Einbildungs-Krafft, der
Verstand, der Witz auch zur Vernunfft, und müsten als
Arten der Vernunfft angesehen werden, welches doch aber niemand einräumet. |
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Es hält der berühmte
Herr D.
Walch im Philosophischen
Lexico … dafür, daß Herr Wolff die Vernunfft gar zu enge
eingeschräncket, weil es noch andere
Würckungen gebe, die man der Vernunfft
zuschreiben müsse, auch zuzuschreiben pflegete. Allein gleichwie wir nicht
leugnen, daß einige dieses
Wort in weiterm
Verstande annehmen, und den gantzen
Verstand des
Menschen darunter
verstehen, welches auch Herr Walch erinnert; so
ist ja vorjetzo die Frage
billig diese: Was unter der Vernunfft zu verstehen
sey, wenn man sie vom Verstande an sich will unterscheiden, oder als eine
hauptsächliche
Würckung des Verstandes ansehen? da halten wir nun davor, daß
Herr Wolff recht gethan, wenn er den gemeldeten
Begriff vorgetragen hat. In
diesem Falle ist wohl die Erklärung nicht enger, als sie seyn sollte. Es hat
auch Herr D. Walch nicht gewiesen, was nach dem engern
Sinn
dieses
Wortes noch solle darzu gerechnet werden. |
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Doch erkläret derselbe die Vernunfft im Gegensatz auf den
Verstand also, daß
es sey eine durch Fleiß und Übung erlangte
Geschicklichkeit wohl zu gedencken.
Nun meynet er, sey zwischen Verstand und Vernunfft ein dreyfacher Unterscheid: |
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a) |
Der Verstand sey nur ein natürliches Vermögen,
die Vernunfft aber eine durch Fleiß und Übung erlangte Geschicklichkeit.
Es werden aber diesen Unterscheid nicht alle vor gegründet achten. Denn |
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1) |
wie die Vernunfft geübt, und davon eine
sonderliche
Geschicklichkeit mag erlanget werden: so ist es gewiß auch
mit dem Verstande. Wie kan also das durch die Übung erlangte allein auf
die Vernunfft, nicht aber auf den Verstand gehen? |
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2) |
der Gebrauch gehet nicht nur, wenn man von
Vernunfft
redet, auf etwas erworbenes, sondern auch auf etwas
angebohrnes, und bedeutet also auch ein
Vermögen. Dadurch sind
Menschen
vom Vieh unterschieden, |
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{Sp. 1395|S. 711} |
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daß sie Vernunfft, das Vermögen
vernünftig zu
seyn, haben; wenn sie auch gleich solches noch nicht geübet hätten, z.E.
Kinder. Ferner wird |
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b) |
gesagt: Der
Verstand sey nur ein
Vermögen
zu
gedencken; die Vernunfft aber eine
Geschicklichkeit wohl zu gedencken,
wie es die
Wahrheit mit sich bringe. Sollte der Herr Walch
sich hierüber erklären, so dürffte er ohne Zweiffel auf den Wolffischen
Begriff von der Vernunfft kommen. Denn alsdenn gedencket man wohl, wie
es die Wahrheit mit sich bringet, wenn man so gedencket, daß es mit
andern Wahrheiten bestehen kan, und man nach der Einsicht in dieselbige
seine
Gedancken einrichtet. Endlich |
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c) |
soll sich der Verstand bey allen Menschen, die
Vernunfft aber nur bey denen finden, die den Verstand gebessert haben.
Aus dem was schon erinnert worden, ist klar, daß die Vernunfft, so ferne
sie ein
Vermögen
ist, auch bei allen
Menschen sey. |
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Man lese hierbey
- Bülfingers Diluc. …
- Stiebritzens Erläuterung der Wolffischen Gedanken von Gott, der
Welt etc. II Th. …
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Man kan aber nicht alle natürliche
Erkenntniß, die der Mensch hat, zur
Vernunfft rechnen und alle
Urtheile, die er fällt, als Urtheile der Vernunfft
ansehen. Dieses ist an sich klar genug: Allein es wird doch gleichwohl
vielfältig dargegen gehandelt, insonderheit von denenjenigen, welche vermeynen,
es sey ihnen etwas daran gelegen, wenn sie die natürliche Erkenntnis herunter
machen: gleich als wenn man die eine Gabe
Gottes beachten müste, damit die
andere groß würde, und als wenn der
Vorzug der
Gnade vor der
Natur nicht
bestehen könnte, als so lange man diese lästerte. Dieses sind
schädliche
Vorurtheile, die dasjenige hindern, was man suchet. Ein
Weltweiser muß, was
unterschieden ist, genau von einander unterscheiden, einem jeden
Worte seine
abgemessene Bedeutung zueignen, und in seinem
Raisoniren sich darnach achten. |
Wolffs Metaph. … und dessen Anmerckungen über
diese Stelle.¶
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Bedeutung des
Worts Vernunft in der
Heil. Schrifft.
¶ |
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An einem andern Orte der Metaphysicke, nehmlich §. 380.
schreibt Herr
Wolff: |
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„Wenn man aber fraget, ob
die Bedeutung des Worts Vernunfft, wie ich sie erkläret, der Schrifft gemäß sey,
oder nicht, wie vielleicht einige glauben dürfften; so könnte ich zwar diese
Untersuchung gäntzlich denen überlassen, welche sich auf die Erklärung der
Schrifft legen; jedoch damit nicht zu einem Mißverständnisse Anlaß gegeben
werde, finde ich nöthig, folgendes zu erinnern. |
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Erstlich ist gewiß, daß, da ich hier als ein Weltweiser bloß von Wahrheiten
handeln, die ohne die göttliche Offenbahrung erkannt werden, ich die Bedeutung
der Wörter behalten muß, die sie nach der unter uns üblichen Gewohnheit zu reden
haben. Da ich nun oben ausgeführet, daß die von mir angenommene Bedeutung der
Gewohnheit zu reden gemäß ist, auch über dieses die gegebene Er- |
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{Sp. 1396} |
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klärung der Vernunfft sich von dem übrigen, was wir in Erkenntnis der Dinge
bey der
Seele antreffen, deutlich unterscheidet und alle Verwirrung verhütet; so
könnte Niemand mein Verfahren mißbilligen, wenn auch gleich erweißlich wäre, daß
die Schrifft das Wort Vernunfft in einem andern Verstande nehme. Denn obgleich
nach diesem die Sätze der Schrifft mit den Sätzen der Weltweißheit den
Buchstaben nach nicht stets übereinstimmeten; so wäre doch daher nichts
gefährliches zu besorgen, weil es kein wahrer Wiederspruch wäre, sondern nur ein
Schein davor, den man durch Erklärung der Bedeutung in der Schrifft bald heben
könnte. |
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Vor das andere ist zu mercken, daß man einen Unterscheid zu machen hat unter
den Schrifft-Stellen, wo das Wort Vernunfft gebrauchet wird, und wo es nicht
stehet, sondern in der Auslegung an statt anderer daselbst befindlicher Wörter
gesetzt wird. Da denn der Ausleger zu erweisen hat, daß der Verstand derselben
Worte eben dieser sey, den entweder er, oder die Schrifft in einen andern Orte
der Vernunfft beygeleget. |
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Drittens finde ich, daß der seel. Lutherus in seiner
Übersetzung wenigstens zehen Hebräische und wohl dreymahl so viel Griechische
Wörter durch das Wort Vernunfft übersetzet, welche schwerlich alle einerley
Bedeutung haben werden, und doch sind kaum zwey Örter, da es in einem schlimmen
Verstande genommen wird, nämlich Ephes. II, 3. und Coloss. I,
2. wo der Wille des Fleisches und der Vernunfft mit einander verknüpffet und der
Vernunfft im Bösen gedacht wird. Allein in beyden Stellen steht das Wort
dianoia, welches da so viel als bey uns
Deutschen Gutdüncken heisset, wie es auch der berühmte Engelländer
Heinrich Hammond in seiner Periphrasi, in Acht genommen, da er
dafür prout nobis videbatur setzet. |
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Meines Erachtens ist eigentlich das Griechische Wort
logikos,
welches mit unserm Deutschen vernünfftig übereinkommet, und
sowohl von Luthero durch vernünfftig als in der Lateinischen
Bibel durch rationabile übersetzet wird. In beyden Stellen, wo dieses
Wort vorkommt, wird es in einem guten Verstande genommen. Denn im ersten Röm.
XIV, 2. wird uns ein vernünfftiger Gottesdienst; im anderen 1 Petr.
II, 2. die Christliche Lehre als eine vernünfftige Milch recommendiret.
Wenn die Ausleger werden einig seyn, ob das Wort vernünfftig sich auf den
Menschen beziehet, der sich selbst GOtt zum Opfer bringen, und eine ihm
anständige Milch geniessen soll, wie Hammond die beyden Örter
erkläret und Clericus in den beygefügten Anmerckungen sehr
billiget; oder so man sie auf den Gottesdienst und die Christliche Lehre, die
unter der Milch verstanden wird, deuten muß, so wird mir in einem Falle so wohl
als in dem andern gar leichte zu zeigen seyn, daß die Schrifft das Wort
vernünfftig in eben dem Verstande brauchet, wie ich es genommen."¶ |
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{Sp. 1397|S. 712} |
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Grade der Vernunft.
¶ |
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Es gibt aber Grade der Vernunfft. Denn jemehr man den
Zusammenhang der
Wahrheiten einsiehet; jemehr hat man Vernunfft. Derowegen hat man um soviel
weniger Vernunfft; je weniger man den Zusammenhang der Wahrheiten einsiehet. Und
wo man gar nicht einsiehet, wie die
Dinge zusammen hangen; da ist gar keine
Vernunfft. Von dem höchsten Grade der Vernunfft siehe den Artikel: Vernunft (die
allervollkommenste). |
Übrigens kann auch hier Muzelii Tr. de
rationis natura … Franckfurt 1717 in 8 nachgelesen werden.¶ |
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Woher die Vernunft kommet.
¶ |
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Es kommet aber die Vernunfft aus der vorstellenden
Krafft der
Seele. Denn
dadurch, daß wir uns verschiedene
Dinge zugleich deutlich vorstellen können,
haben wir eine Einsicht in den Zusammenhang der
Wahrheiten, das ist, wir
begreifen, wie eines in dem andern gegründet ist, und noch mehr geschiehet
solches in der figürlichen Erkenntnis durch die
Schlüsse. Da nun diese Einsicht
in den Zusammenhang der Wahrheiten die Vernunfft ist: so kommet die Vernunfft
gleichfals aus der vorstellenden Krafft der Seele, und zwar aus einem besonderen
Gerade ihrer Vollkommenheit.
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Wolffs Metaph. §. 865.¶
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Womit die Vernunft vergesellschafftet.
¶ |
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Dieweil man aber keine Einsicht in den
Zusammenhang der Dinge haben kan,
wenn man nicht Aufmercksamkeit auf die Dinge hat, die man auf einmahl
vorstellet, und was man in ihnen wahrnimmet, überdencket; so findet ohne
Aufmerksamkeit und Überdencken die Vernunfft nicht statt.
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Wolffs Metaph. §. 866.¶
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Wie der Gebrauch der Vernunft durch die Sprache
befördert werde. ¶ |
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Hiernächst da die
Wörter zur Deutlichkeit der allgemeinen
Erkenntniß dienen,
hingegen aber die Vernunfft sich auf die Deutlichkeit der Erkenntniß gründet; so
befördert die
Sprache oder auch der Gebrauch anderer
Zeichen, die den Wörtern
gleichgültig sind, oder sie wohl gar öffters übertreffen, den Gebrauch der
Vernunfft. Ja man wird finden, wie schwer es uns vorkommet, wenn wir durch die
anschauende Erkenntniß der Dinge ohne den Gebrauch der Wörter oder anderer
gleichgültiger Zeichen ihren
Zusammenhang heraus bringen sollen, absonderlich
wenn
Schlüsse dazu erfordert werden. Es ist nicht zu zweiffeln, daß es vielen
gar unmöglich fallen wird dergleichen zu
Stande zu bringen. Und hieraus hat
Wolff in den
Actis Eruditorum
Anni 1707 … gezeiget warum man, ehe man die Sprache gelernet, nicht recht
zum Gebrauche der Vernunfft gelanget, und daher unter wilden Thieren erzogene
und von Geburt taub und stumme Menschen sonst gar keinen Gebrauch der Vernunfft
haben, auch sich, nachdem sie
reden lernen, ihres vorigen
Zustandes nicht mehr
besinnen.¶ |
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