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Zedler: Vernunft [1] HIS-Data
5028-47-1390-1-01
Titel: Vernunft [1]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 47 Sp. 1390
Jahr: 1746
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 47 S. 708
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Hinweise:
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Übersicht
I.) OBJECTIVE
II.) SUBJECTIVE
  Erklärung der Vernunft
  Bedeutung des Worts Vernunft in der Heil. Schrifft
  Grade der Vernunft
  Woher die Vernunft kommet
  Womit die Vernunft vergesellschafftet
  Wie der Gebrauch der Vernunft durch die Sprache befördert werde

  Text Quellenangaben und Anmerkungen
  Vernunft, Lat. Ratio, Frantz. Raison, das Wort: Vernunft, wird auf verschiedene Art genommen, und ist zu beklagen, daß die Philosophen in dem, darauf sie sich alle, als den Grund ihrer Wahrheiten, beruffen, nicht einig sind, was es sey. Alle Bedeutungen, die man dem selbigen beyleget, können zusammen gezogen werden, daß sie auf zwey vornehmste Begriffe hinaus laufen. Denn entweder nimmt man selbige  
   
  Ehe wir nun von der Vernunft unter beyden Haupt-Bedeutungen handeln, müssen wir vorher bemercken, daß die Theosophici sich zwar auch des Worts Vernunft bedienen; sie verstehen aber dadurch nicht die Erkenntniß der Wahrheit aus natürlichen Principien, oder die Krafft dieselbige zu erkennen, sondern das inwendige Principium, das sie als einen Ausfluß und Funcken des Göttlichen Wesens in der menschlichen Seele suchen, das sie der in ordentlichem Verstande genommenen Vernunft entgegen setzen.  
  Wer in den Schrifften der Theosophicorum bewandert ist, dem wird dieses gantz was bekanntes seyn. Einer der berühmtesten und vornehmsten unter ihnen, Jacob Böhme, redet in der Aurora … davon also:  
   "Gleichwie vom Vater und Sohn ausgehet der Heilige Geist, und ist eine selbst-ständige Person in der Gottheit, und wallet in dem ganzen Vater: Also gehet auch aus den Kräfften deines Hertzens, Adern und Hirns aus die Krafft, die in deinem gantzen Leibe wallet, und aus deinem Licht gehet aus in dieselbe Krafft, Vernunfft, Verstand, Kunst und Weißheit, den ganzen Leib zu regieren, und auch alles, was ausser dem Leibe ist, zu unterscheiden. Und dieses beydes ist in deinem Regiment des Gemüths ein Ding, nehmlich dein Geist, und das bedeutet GOtt den Heiligen Geist, und der Heil. Geist aus GOtt herrschet auch in diesem Geiste in dir. Biß aber ein Kind des Lichts, und nicht der Finsterniß.“  
  Wer philosophischer hiervon geredet wissen will, darf nur Poirets Buch de eruditione triplici nachschlagen, der in der That auf eben dieses hinaus gehet, ob er gleich philosophischer reden will. Man vergleiche hiermit des Herrn Christian Thomasii Vorrede zu vorgedachtem Buche Poirets. Bruckers Fragen aus der philosophischen Historie Th. VI
  Wir kehren wieder zurück zu den vorher gedachten zwey Haupt-Bedeutungen des Worts Vernunft. Nimmt man nehmlich solches  
     
  I.) OBJECTIVE,  
  so ist die Vernunft (Ratio objective oder auch, welches einerley, abstractive sumta) nichts anders, als die Verknüpffung der Wahrheiten unter einander selbst oder überhaupt die Principia und  
  {Sp. 1391|S. 709}  
  Grund Sätze unserer Erkänntniß, und pflegt man selbige in zwey Arten abzutheilen.  
  Einige heissen PRINCIPIA FORMALIA, die zur Form und Weise, vernünfftig zu schliessen, erfordert werden, z.E. wenn man sagt: von dem allgemeinen läst sich auf das besondere schliessen; Von dem Können auf das Seyn gehe keinen Schluß an; Aus lauter verneinenden Sätzen kan man nicht schliessen. Es gehöret hierherdie gantze Vernunfft-Lehre und ein grosser Theil der Metaphysick, welche uns Anweisung geben, wie wir in den Gebrauch unserer Vernunfft verfahren sollen, und welches eigentlich die Kennzeichen der Wahrheit seyn.  
  Andere sind PRINCIPIA MATERIALIA, die zur Materie der Beweißgründe, und Vernunfft-Schlüsse gehören, welche nach dem Unterscheide der Sachen und vielfältigen Wissenschafften mancherley und unterschiedlich sind. Denn man hat  
 
  • PRINCIPIA METAPHYSICA, z.E. die Ursache ist ehe, als die Würckung; Das Gantze trägt mehr als ein Theil aus;
  • PRINCIPIA PHYSICA, Z.E. Ein jeder Cörper ist etwas Zusammengesetztes;
  • und PRINCIPIA MORALIA, z.E. Man muß GOtt gehorchen; gesellig leben.
 
  Wenn man das Wort Vernunfft in diesem Verstande annimmt, so kan man alsdenn behaupten, daß Vernunft und Schrifft einander nicht entgegen seyn. Herr Ribov in instit. theol. dogmat. bestärcket und befestiget uns diesen Satz mit nachfolgenden Beweise per indirectum: Die natürliche Gottesgelahrheit ist auf unstreitige und unleuchbare Sätze der Vernunfft unbeweglich gebauet: Die geoffenbarte gründet sich auf das Göttliche Zeugniß, welches ein Pfeiler und Grund-Feste der Wahrheit ist. Wäre aber einige Uneinigkeit zwischen beyden; so müsten die Sätze der einen Wissenschafft denen Sätzen der andern widersprechen.  
  Allein nach vorher gesetzten und vor ausgemacht von allen vernünfftigen Weltweisen angenommenen Satze können alle Aussprüche der natürlichen Gottesgelahrtheit unwidersprechlich erwiesen werden, und sind demnach wahr; so müsten denn jene nothwendig falsch und also die geoffenbarte Gottesgelahrtheit nicht Wahrheit seyn. Diesen aber sind alle ohnstreitigen Beweiß-Gründe entgegen, die man vor die unumstößliche Wahrheit der Offenbarung beybringen kan. Folglich widersprechen Offenbarung und Vernunfft einander nicht würcklich, ungeachtet es bißweilen also scheinet, wenn die Offenbarung uns solche Wahrheiten lehret, welche zwar über die Vernunfft, nicht aber wieder dieselbe sind.  
  Man sagt aber, daß eine Sache über die Vernunft (SUPRA RATIONEM) sey, wenn die bekannten und ausgemachten Sätze der Vernunfft nicht zureichend, zur gewissen Erkänntniß einer Sache zugelangen. Hingegen wider die Vernunft (CONTRA RATIONEM) ist eine Sache wenn sie dem Lichte der Vernunfft widerspricht, das ist, wenn sie mit einem, von der Vernunfft deutlich erkannten Satze nicht zugleich bestehen kan.  
  Dieser Unterschied ist hauptsächlich wider den berühmten Peter Baylen und den Italiänischen Grafen Laur. Magalotri zumercken, welche denselben verwerffen wollen, deßwegen aber unter andern von Jaquelot und Leib-  
  {Sp. 1392}  
  nitzen gründlich widerleget worden. Denn man kan mit dessen Hülffe die Einwürffe derer beantworten, welche erhärten wollen, daß die Glaubens-Geheimnisse der Vernunfft zuwider seyn, und demnach Vernunfft und Offenbarung einander widersprechen. Dergleichen Geheimnisse sind solche Glaubens-Wahrheiten, welche von einen jedweden endlichen Verstand nicht völlig begrieffen werden können, wenn ihm auch schon die Offenbarung zustatten kommt. Wie nun diese zu der geoffenbarten Gottesgelahrtheit gehören, welche der Vernunfft nicht widerspricht; so sind auch die Glaubens-Geheimnisse der Vernunfft nicht entgegen.  
  Wir können, hierbey nicht unerinnert lassen, daß ob sich gleich Leibnitz, anderer zugeschweigen, vornehmlich in seiner Theodicäa viele Mühe gegeben, den berühmten Bayle zurechte zu weisen; so hat es doch das Ansehen, daß durch dessen gelehrte Beantwortung der von diesen gemachten Einwurffe viele Gemüther noch nicht völlig beruhigt worden.  
  Das sie wieder die Vernunfft, was einem deutlichen Grund- oder Lehr-Satze der Vernunfft widerspricht, unter denen einer der vornehmsten ist, daß eine Sache nicht zugleich seyn und auch nicht seyn könnte. Die Vernunfft saget, daß nachdem eine Jungfrau gebohren habe, dieselbe nicht mehr Jungfrau sey. Die Offenbarung setzt diesem das Beyspiel der Jungfrau Maria gerade entgegen. Die Vernunfft lehret, daß ein jeder Cörper also in einen gewissen Raum und Ort eingeschlossen sey, daß er unmöglich zu gleicher Zeit in einem andern seyn könne. Die Offenbarung hingegen gibt uns genugsame Versicherung daß der Leib Christi im Heiligen Abendmahl zu gleicher Zeit an unzehlichen Orten wahrhafftig gegenwärtig sey.  
  Der Englische Artzt Morgan hat in seinen mit vielen verdächtigen Meynungen angefülleten Buche: The Moral philosopher etc. diesen Unterscheid, welchen die Gottesgelehrten unter dem, was über, oder wider die Vernunfft ist, machen, ohnlängst mit neuen Waffen bestreiten wollen. Daniel Maichels zwey Academische Schrifften de distinctione inter ea, quae sunt supra et contra rationem, Tübingen 1729.
  Siehe übrigens von denen Grundsätzen der menschlichen Erkänntniß den Artickel: Menschlichen Erkänntniß (Gründe der) im XX Bande, p. 801. u.ff.  
  Wird das Wort Vernunfft,  
     
  II.) SUBJECTIVE  
  genommen, vor ein Vermögen der Seele in dem Menschen, so wird selbige auf verschiedene Art beschrieben.  
     
  Erklärung der Vernunft.  
  Schomerus in theol. Moral. … führt unterschiedliche Beschreibungen an, er selbst aber erklärt sie also: Sie (die ratio subjective oder concretive sumta) sey eine Krafft, ordentlich über unsere Concepte und Gedancken nachzusinnen, wobey Buddeus in Instit. theol. Moral. … erinnert, daß er sie allzu enge eingeschräncket.  
  Wollaston in Ebauche de la Religion naturelle beschreibet sie als ein Vermögen, welches ein Wesen hat, sich unmittelbare Begriffe vorzustellen, von deren Gewißheit versichert zu seyn, hieraus Sätze und andere, neue  
  {Sp. 1393|S. 710}  
  Wahrheiten zu ziehen: oder kurtz, das Vermögen die Kräffte des Verstandes in der Absicht die Wahrheit zu erfinden, zu gebrauchen, und einen Satz zu erweisen oder zu wiederlegen.  
  Einige verstehen unter dem Wort Vernunfft eine Krafft sich Schlüsse deutlich vorzustellen. Vernunft oder vielmehr vernünftige Überlegung, schreibt Richter in der Erkänntniß des Menschen nach dem Leibe … ist eine Würckung der Seele, so ferne sie mit dem Leibe vereiniget ist, da sie in der Phantasie die entstandenen Ideen betrachtet, sie gegen einander hält, und durch den ihr angeschaffenen Verstand daraus einen Schluß formiret, ob die Sache gut oder böse, wahr oder falsch, nöthig oder unnöthig, zeitig oder unzeitig, thunlich oder unthunlich, geziemend oder ungeziemend sey, u.s.w.  
  Also concurriren hierbey erstlich auf Seiten des Leibes die Sinne, welche die Eigenschafften und Umstände der Dinge dem Gemüthe vorlegen; und hernach auf Seiten der Seelen der Verstand, der die Sachen aus einander lieset, und die Bilder unterscheidet und verbindet, aus welchen zusammen dasjenige Vermögen entstehet, das man Vernunfft zu nennen pflegt." [1]
[1] HIS-Data: öffnende Anführungszeichen fehlen in der Vorlage
  Der Herr Cantzler Wolff in den vernünfftigen Gedancken von GOtt, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt §. 368. erkläret die Vernunfft durch die Einsicht, so wir in den Zusammenhang der Wahrheiten haben, oder durch das Vermögen den Zusammenhang der Wahrheiten einzusehen.  
  Daß diese Erklärung der Vernunfft der Gewohnheit zu reden gemäß sey, zeiget Wolff also: Wir sagen z.E. Es habe Sempronius seine Sachen vernünfftig angefangen, wenn er alles wohl überleget, was aus seinen Handlungen für Schaden und Nutzen erwachsen könne, und dergestalt eingerichtet, daß er in seinem Thun und Lassen ihm nicht selbst zuwider ist; sondern vielmehr eines das andere fördert. Hier bestehet die Vernunfft, so Sempronius beweißt, in nichts anders als in der Einsicht, die er in den Zusammenhang der Dinge hatte, nehmlich sowohl in den Zusammenhang seiner Handlungen, als ihrer mit andern Dingen. Denn wenn einer darauf nicht Acht hat, so richtet er seiner Handlungen ein zu seinem eigenen und anderer ihrem Schaden, und lauffen dieselben wieder einander. Alsdenn aber wird niemand mehr sagen, Sempronius fange seine Sachen vernünftig an; vielmehr wird ein jeder zugestehen, er handele unvernünfftig.  
  Man kan auch hieraus sehen, daß der gewöhnliche Begriff von der Vernunfft nichts anders als die Einsicht in den Zusammenhange der Wahrheiten sey. Wenn man saget, es habe einer vernünfftig gehandelt, und man wird gefragt, warum? so antwortet man jederzeit, weil er dadurch diesen Vortheile geschaffet, oder auch diesen Schaden verhütet, und dergleichen, das ist, weil er gesehen und bedacht, was aus seinem Thun und Lassen hat kommen können, folgends eine Probe seiner Einsicht in den Zusammenhang der Dinge abgeleget. Hingegen wenn man beweisen will, es habe einer unvernünftig gehandelt; so bemühet man sich darzuthun, daß er höchst unbesonnen etwas vor-  
  {Sp. 1394}  
  genommen, ohne zu erwegen, was aus seinem Thun und Lassen kommen könne, und wie es sich mit seiner Person und Stande, oder auch anderen Umständen reime.  
  Der Herr von Leibnitz erkläret in seiner Theodicäa die Vernunfft durch eine Kette der Wahrheiten (catenam veritatum). Herr Wolff sagt lieber Zusammenhang der Wahrheiten, damit es nicht das Ansehen gewinne, als wenn er durch ein Wort in einem uneigentlichen Verstande etwas erklären wollte: welches den Regeln der Logick zuwiederläuft. Er mag aber auch nicht den Zusammenhang der Wahrheiten die Vernunfft nennen, sondern vielmehr die Einsicht, die wir darinnen haben, weil man sonst in etwas von dem gemeinen Gebrauch zu reden abweichet. Denn man giebt doch die Vernunfft für ein Vermögen der Seele aus, und daher muß man es dabey lassen, und nur zeigen, worinnen dieses Vermögen von andern unterschieden. Man siehet aber, ohne nöthig zu haben, es allerst zu erinnern, daß man nicht alles natürliche Vermögen zu erkennen Vernunfft nennen kan; denn so gehörten die Sinnen, die Einbildungs-Krafft, der Verstand, der Witz auch zur Vernunfft, und müsten als Arten der Vernunfft angesehen werden, welches doch aber niemand einräumet.  
  Es hält der berühmte Herr D. Walch im Philosophischen Lexico … dafür, daß Herr Wolff die Vernunfft gar zu enge eingeschräncket, weil es noch andere Würckungen gebe, die man der Vernunfft zuschreiben müsse, auch zuzuschreiben pflegete. Allein gleichwie wir nicht leugnen, daß einige dieses Wort in weiterm Verstande annehmen, und den gantzen Verstand des Menschen darunter verstehen, welches auch Herr Walch erinnert; so ist ja vorjetzo die Frage billig diese: Was unter der Vernunfft zu verstehen sey, wenn man sie vom Verstande an sich will unterscheiden, oder als eine hauptsächliche Würckung des Verstandes ansehen? da halten wir nun davor, daß Herr Wolff recht gethan, wenn er den gemeldeten Begriff vorgetragen hat. In diesem Falle ist wohl die Erklärung nicht enger, als sie seyn sollte. Es hat auch Herr D. Walch nicht gewiesen, was nach dem engern Sinn dieses Wortes noch solle darzu gerechnet werden.  
  Doch erkläret derselbe die Vernunfft im Gegensatz auf den Verstand also, daß es sey eine durch Fleiß und Übung erlangte Geschicklichkeit wohl zu gedencken. Nun meynet er, sey zwischen Verstand und Vernunfft ein dreyfacher Unterscheid:  
 
a) Der Verstand sey nur ein natürliches Vermögen, die Vernunfft aber eine durch Fleiß und Übung erlangte Geschicklichkeit. Es werden aber diesen Unterscheid nicht alle vor gegründet achten. Denn
 
 
 
1) wie die Vernunfft geübt, und davon eine sonderliche Geschicklichkeit mag erlanget werden: so ist es gewiß auch mit dem Verstande. Wie kan also das durch die Übung erlangte allein auf die Vernunfft, nicht aber auf den Verstand gehen?
 
 
 
2) der Gebrauch gehet nicht nur, wenn man von Vernunfft redet, auf etwas erworbenes, sondern auch auf etwas angebohrnes, und bedeutet also auch ein Vermögen. Dadurch sind Menschen vom Vieh unterschieden,
 
  {Sp. 1395|S. 711}  
 
 
  daß sie Vernunfft, das Vermögen vernünftig zu seyn, haben; wenn sie auch gleich solches noch nicht geübet hätten, z.E. Kinder. Ferner wird
 
 
b) gesagt: Der Verstand sey nur ein Vermögen zu gedencken; die Vernunfft aber eine Geschicklichkeit wohl zu gedencken, wie es die Wahrheit mit sich bringe. Sollte der Herr Walch sich hierüber erklären, so dürffte er ohne Zweiffel auf den Wolffischen Begriff von der Vernunfft kommen. Denn alsdenn gedencket man wohl, wie es die Wahrheit mit sich bringet, wenn man so gedencket, daß es mit andern Wahrheiten bestehen kan, und man nach der Einsicht in dieselbige seine Gedancken einrichtet. Endlich
 
 
c) soll sich der Verstand bey allen Menschen, die Vernunfft aber nur bey denen finden, die den Verstand gebessert haben. Aus dem was schon erinnert worden, ist klar, daß die Vernunfft, so ferne sie ein Vermögen ist, auch bei allen Menschen sey.
Man lese hierbey
  • Bülfingers Diluc. …
  • Stiebritzens Erläuterung der Wolffischen Gedanken von Gott, der Welt etc. II Th. …
  Man kan aber nicht alle natürliche Erkenntniß, die der Mensch hat, zur Vernunfft rechnen und alle Urtheile, die er fällt, als Urtheile der Vernunfft ansehen. Dieses ist an sich klar genug: Allein es wird doch gleichwohl vielfältig dargegen gehandelt, insonderheit von denenjenigen, welche vermeynen, es sey ihnen etwas daran gelegen, wenn sie die natürliche Erkenntnis herunter machen: gleich als wenn man die eine Gabe Gottes beachten müste, damit die andere groß würde, und als wenn der Vorzug der Gnade vor der Natur nicht bestehen könnte, als so lange man diese lästerte. Dieses sind schädliche Vorurtheile, die dasjenige hindern, was man suchet. Ein Weltweiser muß, was unterschieden ist, genau von einander unterscheiden, einem jeden Worte seine abgemessene Bedeutung zueignen, und in seinem Raisoniren sich darnach achten. Wolffs Metaph. … und dessen Anmerckungen über diese Stelle.
     
  Bedeutung des Worts Vernunft in der Heil. Schrifft.  
  An einem andern Orte der Metaphysicke, nehmlich §. 380. schreibt Herr Wolff:  
  Wenn man aber fraget, ob die Bedeutung des Worts Vernunfft, wie ich sie erkläret, der Schrifft gemäß sey, oder nicht, wie vielleicht einige glauben dürfften; so könnte ich zwar diese Untersuchung gäntzlich denen überlassen, welche sich auf die Erklärung der Schrifft legen; jedoch damit nicht zu einem Mißverständnisse Anlaß gegeben werde, finde ich nöthig, folgendes zu erinnern.  
  Erstlich ist gewiß, daß, da ich hier als ein Weltweiser bloß von Wahrheiten handeln, die ohne die göttliche Offenbahrung erkannt werden, ich die Bedeutung der Wörter behalten muß, die sie nach der unter uns üblichen Gewohnheit zu reden haben. Da ich nun oben ausgeführet, daß die von mir angenommene Bedeutung der Gewohnheit zu reden gemäß ist, auch über dieses die gegebene Er-  
  {Sp. 1396}  
  klärung der Vernunfft sich von dem übrigen, was wir in Erkenntnis der Dinge bey der Seele antreffen, deutlich unterscheidet und alle Verwirrung verhütet; so könnte Niemand mein Verfahren mißbilligen, wenn auch gleich erweißlich wäre, daß die Schrifft das Wort Vernunfft in einem andern Verstande nehme. Denn obgleich nach diesem die Sätze der Schrifft mit den Sätzen der Weltweißheit den Buchstaben nach nicht stets übereinstimmeten; so wäre doch daher nichts gefährliches zu besorgen, weil es kein wahrer Wiederspruch wäre, sondern nur ein Schein davor, den man durch Erklärung der Bedeutung in der Schrifft bald heben könnte.  
  Vor das andere ist zu mercken, daß man einen Unterscheid zu machen hat unter den Schrifft-Stellen, wo das Wort Vernunfft gebrauchet wird, und wo es nicht stehet, sondern in der Auslegung an statt anderer daselbst befindlicher Wörter gesetzt wird. Da denn der Ausleger zu erweisen hat, daß der Verstand derselben Worte eben dieser sey, den entweder er, oder die Schrifft in einen andern Orte der Vernunfft beygeleget.  
  Drittens finde ich, daß der seel. Lutherus in seiner Übersetzung wenigstens zehen Hebräische und wohl dreymahl so viel Griechische Wörter durch das Wort Vernunfft übersetzet, welche schwerlich alle einerley Bedeutung haben werden, und doch sind kaum zwey Örter, da es in einem schlimmen Verstande genommen wird, nämlich Ephes. II, 3. und Coloss. I, 2. wo der Wille des Fleisches und der Vernunfft mit einander verknüpffet und der Vernunfft im Bösen gedacht wird. Allein in beyden Stellen steht das Wort dianoia, welches da so viel als bey uns Deutschen Gutdüncken heisset, wie es auch der berühmte Engelländer Heinrich Hammond in seiner Periphrasi, in Acht genommen, da er dafür prout nobis videbatur setzet.  
  Meines Erachtens ist eigentlich das Griechische Wort logikos, welches mit unserm Deutschen vernünfftig übereinkommet, und sowohl von Luthero durch vernünfftig als in der Lateinischen Bibel durch rationabile übersetzet wird. In beyden Stellen, wo dieses Wort vorkommt, wird es in einem guten Verstande genommen. Denn im ersten Röm. XIV, 2. wird uns ein vernünfftiger Gottesdienst; im anderen 1 Petr. II, 2. die Christliche Lehre als eine vernünfftige Milch recommendiret. Wenn die Ausleger werden einig seyn, ob das Wort vernünfftig sich auf den Menschen beziehet, der sich selbst GOtt zum Opfer bringen, und eine ihm anständige Milch geniessen soll, wie Hammond die beyden Örter erkläret und Clericus in den beygefügten Anmerckungen sehr billiget; oder so man sie auf den Gottesdienst und die Christliche Lehre, die unter der Milch verstanden wird, deuten muß, so wird mir in einem Falle so wohl als in dem andern gar leichte zu zeigen seyn, daß die Schrifft das Wort vernünfftig in eben dem Verstande brauchet, wie ich es genommen."  
  {Sp. 1397|S. 712}  
     
  Grade der Vernunft.  
  Es gibt aber Grade der Vernunfft. Denn jemehr man den Zusammenhang der Wahrheiten einsiehet; jemehr hat man Vernunfft. Derowegen hat man um soviel weniger Vernunfft; je weniger man den Zusammenhang der Wahrheiten einsiehet. Und wo man gar nicht einsiehet, wie die Dinge zusammen hangen; da ist gar keine Vernunfft. Von dem höchsten Grade der Vernunfft siehe den Artikel: Vernunft (die allervollkommenste). Übrigens kann auch hier Muzelii Tr. de rationis natura … Franckfurt 1717 in 8 nachgelesen werden.
     
  Woher die Vernunft kommet.  
  Es kommet aber die Vernunfft aus der vorstellenden Krafft der Seele. Denn dadurch, daß wir uns verschiedene Dinge zugleich deutlich vorstellen können, haben wir eine Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten, das ist, wir begreifen, wie eines in dem andern gegründet ist, und noch mehr geschiehet solches in der figürlichen Erkenntnis durch die Schlüsse. Da nun diese Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten die Vernunfft ist: so kommet die Vernunfft gleichfals aus der vorstellenden Krafft der Seele, und zwar aus einem besonderen Gerade ihrer Vollkommenheit. Wolffs Metaph. §. 865.
     
  Womit die Vernunft vergesellschafftet.  
  Dieweil man aber keine Einsicht in den Zusammenhang der Dinge haben kan, wenn man nicht Aufmercksamkeit auf die Dinge hat, die man auf einmahl vorstellet, und was man in ihnen wahrnimmet, überdencket; so findet ohne Aufmerksamkeit und Überdencken die Vernunfft nicht statt. Wolffs Metaph. §. 866.
     
  Wie der Gebrauch der Vernunft durch die Sprache befördert werde.   
  Hiernächst da die Wörter zur Deutlichkeit der allgemeinen Erkenntniß dienen, hingegen aber die Vernunfft sich auf die Deutlichkeit der Erkenntniß gründet; so befördert die Sprache oder auch der Gebrauch anderer Zeichen, die den Wörtern gleichgültig sind, oder sie wohl gar öffters übertreffen, den Gebrauch der Vernunfft. Ja man wird finden, wie schwer es uns vorkommet, wenn wir durch die anschauende Erkenntniß der Dinge ohne den Gebrauch der Wörter oder anderer gleichgültiger Zeichen ihren Zusammenhang heraus bringen sollen, absonderlich wenn Schlüsse dazu erfordert werden. Es ist nicht zu zweiffeln, daß es vielen gar unmöglich fallen wird dergleichen zu Stande zu bringen. Und hieraus hat Wolff in den Actis Eruditorum Anni 1707 … gezeiget warum man, ehe man die Sprache gelernet, nicht recht zum Gebrauche der Vernunfft gelanget, und daher unter wilden Thieren erzogene und von Geburt taub und stumme Menschen sonst gar keinen Gebrauch der Vernunfft haben, auch sich, nachdem sie reden lernen, ihres vorigen Zustandes nicht mehr besinnen.  
     

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Stand: 7. April 2013 © Hans-Walter Pries