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Zedler: Erkenntniß sein selbst HIS-Data
5028-8-1672-3
Titel: Erkenntniß sein selbst
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 8 Sp. 1672-1675
Jahr: 1734
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 8 S. 867-869
Vorheriger Artikel: Erkenntniß der Natur
Folgender Artikel: Erkenntniß sein selbst, Cant. 1, 8.
Siehe auch:
Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Personen

  Text  Quellenangaben
  Erkenntniß sein selbst, ist diejenige Erkenntniß, welche der Mensch von seinen Eigenschafften, die er an sich befindet, hat.  
  Es kan dieselbe auf unterschiedene Art angestellet werden, nemlich nach demjenigen Stande, in welchem sich der Mensch befindet. Unter diesen verschiedenen Stande verstehen wir den Stand der Natur und der Gnade.  
  Nach dem Stande der Natur kan sich der Mensch erstlich als einen Menschen und hernach als ein Mit-Glied der menschlichen Gesellschafft, darinnen er lebet, betrachten.  
  Betrachtet er sich als einen Menschen, so kann es wiederum auf eine gedoppelte Art geschehen, nemlich er kann eine physicalische und eine moralische Untersuchung anstellen.  
  Nach der physicalischen Betrachtung siehet er dasjenige ein, was ihm von der Natur mitgetheilet worden. Er hat einen Leib und eine Seele empfangen.  
  Bey dem Leibe betrachtet er desselben Structur, ob sich alles in gehöriger Bewegung befinde, wie er ihn an Speiß und Tranck gewöhnet, was er vor Zufällen unterworffen, ob er von starcker oder schwacher Leibes-Beschaffenheit sey.  
  Bey der Seele findet er einen Verstand und einen Willen.  
  In dem Verstande äussern sich die drey Gemüths-Kräffte, als das Gedächtniß, die Erfindungs-Krafft und die Beurtheilungs-Krafft.  
  In dem Willen findet er die drey Haupt-Neigungen: Ehr-Geitz, Geld-Geitz und Wollust. Alle Menschen besitzen solche, nur ist die Vermischung bey  
  {Sp. 1673|S. 868}  
  einem jeden unterschieden. Dahero denn der Unterschied bey denen Menschen entstehet, welches die besondere Gemüths-Art oder das Genie eines Menschen genennet wird. Es hat dasselbe seinen Einfluß in die Fähigkeiten, in die Endzwecke und in die daher entstehenden Handlungen derer Menschen. Müller über Gracians Oracel ...
  Bey der moralischen Erkenntniß sein selbst siehet der Mensch auf die in ihn gelegte Disposition GOttes und wie er seine Glückseligkeit nach dem Willen des Höchsten befördern solle. Er erwägt hierbey, wie GOtt in der Schöpffung, ihm drey unmittelbare Güter mitgetheilet, die Gesundheit in Ansehung des Leibes, die Wahrheit in Ansehung des Verstandes, und die Tugend, in Ansehung des Willens.  
  Hierbey befindet er einen ordentlichen und ausserordentlichen Zustand.  
  Der ordentliche Zustand des Menschen ist, wenn die Bewegung aller Theile des menschlichen Leibes und der von GOtt geordneten Proportion bestehet, der Verstand von denen Regeln des wahren, des gerechten, und des guten nicht abweichet, und der Wille bloß einem gegründeten Verstande folget.  
  Der ausserordentliche Zustand ist, wenn der Leib von dem von GOtt geordneten Masse abweichet, und entweder das Wachsthum allzumercklich befördert, daß Abnehmen aber allzusehr beschleiniget wird, der Verstand die Wahrheit verläst, der Wille aber nur blossen sinnlichen Vorstellungen, nicht aber gründlichen Beurtheilungen folget. In diesem Zustande leben dem Leibe nach die Krancken, dem Verstande nach diejenigen, die im Irrthum stecken, und dem Willen nach, die mit bösen Neigungen behafftet sind.  
  Bey solcher Erkenntniß siehet der Mensch, wie übel er sich nach seinem Falle befindet. In Ansehung des Leibes ist er die elendeste Creatur. Betrachtet er seine Dauerhafftigkeit, so siehet er, wie die Sterne, Elemente, Steine, Bäume, und meisten, sonderlich die wilden Thiere länger als er dauern. Zu seiner Auferziehung, Speise, Kleidung, und andre Mittel sich zu unterhalten, braucht er mehrere Hülffe, als die Thiere. Er ist mehrern Kranckheiten unterworffen als dieselbe, und wissen sie ihre Gesundheit besser zu bewahren als er; sein Verstand ist voller Irrthum, und die bösen Neigungen werden mit ihm gebohren.  
  Diese Gedancken von dem Elende des Menschen in Ansehung des Leibes heget Thomasius in Cautel. circa Praecogn. Jurisprud. .... Doch ist hierbey noch verschiedenes zu erinnern.  
  Das Elend des menschlichen Leibes stammet nicht von der Natur her. Die bösen Neigungen, nach welchen er die Mittel seiner Unterhaltung nicht nach der natürlichen Ordnung gebrauchet, sind die Ursachen, warum sein Leben verkürtzet wird. Der Tod ist also ein Lohn oder ein Sold der Sünde. Daß wir aber zu unserm Unterhalt andrer Hülffe gebrauchen, dieses haben wir, in so weit es nothwendig ist, mit denen Thieren gemein. Wird ein Thier im Anfange von seinem Alten nicht ernähret, so muß es so gut sterben als der Mensch. Daß der Mensch aber diesen Unterhalt länger brauchet als die Thiere, das macht seine Natur, welche langsamer zur Reiffe kömmt als derer andern Thiere, welches aber kein Fehler, sondern eine weise Einrichtung des Schöpffers ist.  
  Zu seiner Nothdurfft braucht sonst der Mensch sehr wenig. Seine Haut wird ohne Kleider so rauch als die Häute derer Thiere. Die Blätter derer Bäume decken ihn so gut vor dem Regen als die Thiere. Unter der Erde kann er sich vor der Kälte beschützen. Die Füsse kann er zur Flucht, und seine mit einem Stücke Holtz bewafnete  
  {Sp. 1674}  
  Hand kan er ebenso gut zur Gegenwehr als ein Thier gebrauchen. Kräuter und Wurtzeln ernähren ihn; und das Wasser giebt ihm eben so viel Säffte als wie es andern Thieren giebt.  
  Der Mensch braucht also nicht mehr zu seinem Unterhalte als wie die Thiere; daß er aber zu seiner Beqvemlichkeit die Beyhülffe derer Menschen gebrauchet, das ist an ihm kein Fehler, sondern vielmehr ein Vorzug, nach welchem ihn GOtt gesellig gemacht hat. Der Mensch ist also in denenjenigen Stücken, in welchen er mit denen Thieren übereinkömmt, nicht unglücklicher als dieselbige, in denenjenigen aber, in welchen er einen Vorzug vor denen Thieren erhalten hat, ist er freylich unglücklicher durch den Sünden-Fall geworden.  
  Die Betrachtung, wobey sich der Mensch vor ein Mit-Glied der Gesellschafft ansiehet, verbindet ihn zu allen denenjenigen Pflichten, welche in dem Rechte der Natur abgehandelt werden, und die an ihren gehörigen Orten zu finden sind.  
  Betrachtet sich der Mensch in dem Stande der Gnaden, so muß er die Würckungen des Heiligen Geistes in sich empfinden, dieses gehöret aber nicht in unsre Abhandlung sondern in die geoffenbarte GOttes-Gelehrsamkeit.  
  Der Nutzen der Erkenntniß sein selbst ist über alle Massen groß. Es ist der Grund unsrer Weißheit, die uns zur Glückseligkeit beförderlich ist. Betrachtet sich der Mensch, so erblicket er eine kleine Welt, und so wohl die wunderbare Structur seines Cörpers, als die Weißheitsvolle Einrichtung seines Gemüthes lassen ihn einen mächtigen und weisen Schöpffer erkennen.  
  Wer sich selbst erkennet, siehet seine Fehler ein. Er weiß die Quellen seines Übels, und sucht dieselbigen zu verstopffen. Er lernet aber auch seine Stärcke und Fähigkeiten, und weiß also, wozu er sich schicket, und in was vor einem Stande er sich glücklich machen könne. Auch die Erkenntniß des Verstandes und Gemüthes beruhet auf der Erkenntniß unser selbst. Unsre Seele ist bey uns, und sie empfindet sich selber. Es ist dieses also der beste Grund, woraus wir die Schlüsse auf ihr Wesen machen können. Das Mittel hierzu zugelangen, bestehet in nichts anders als in einer Aufmercksamkeit auf unsre eigene Handlungen. Wir wenden ja so viel Zeit auf die Lesung mancher Bücher, warum wollen wir nicht selber auf uns Achtung geben, da dieses so leichte, da dieses so nützlich ist?  
  Der Grund unsrer Zufriedenheit ist eintzig und allein in uns zu finden. Hier sind die Mittel, welche uns wahrhafftig glücklich machen, ausser uns suchen wir sie vergebens. Zwar erschrecken wir vor uns selber, wenn wir unsre Untugenden einsehen. Doch wir können diesen Schrecken-Geist vertreiben, und werden wir uns um desto hefftiger lieben, wenn wir uns umso viel desto mehr mit uns bekannt machen.  
  Die alten Welt-Weisen haben die Vortrefflichkeit der Erkenntniß sein selbst sehr erhoben. Die Pythagoräer und Platonici hielten sie vor das erste Mittel, dadurch man zu der Ähnlichkeit mit GOtt, welches der letzte Endzweck der Philosophie sey, gelangen könne.
  • Scheffer de Nat. et Constit. Philos. Italicae 7.
  • Buddeus Analect. Histor. Philos.
  Chilon, einer derer so genannten sieben Weisen in Griechenland, soll das [drei Wörter Griechisch] zum Wahlspruch gehabt haben, wiewohl andre solches andern zuschreiben.
  • Buddeus in Ethic. Chilon. §. 4.
  • Casaubonus ad Persii Sat. …
  • Pufendorf. Jure Natur. et Gent.
  Es können auch von dieser Materie gelesen werden
  • Vossius de cognitione sui.
  • Charron de la Sagesse I. 1.
  • Abbadie de l'Art. de se
  {Sp. 1675|S. 869}  
   
  connoitre Loy méme.
  • Lami de la Connoisance de Loyméme.
     

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Stand: 4. Januar 2023 © Hans-Walter Pries