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Zedler: Wissenschafften [3] HIS-Data
5028-57-1399-1-03
Titel: Wissenschafften [3]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 57 Sp. 1417
Jahr: 1748
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 57 S. 722
Vorheriger Artikel: Wissenschafften [2]
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Hinweise:
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Übersicht
Verbesserung der Wissenschafften.
Welche Wissenschafften nach der mathematischen Methode nicht abgehandelt werden können?

  Text   Quellenangaben
  Verbesserung der Wissenschafften.  
  Da nun noch so viel Ungewißheit in denen Wissenschafften herrschet, so hat man sich die Verbesserung derselben um so mehr angelegen seyn zu lassen. Es ist aber die Verbesserung der Wissenschafften die Bemühung, die Wissenschafften in einen bessern und vollkommenern Stand, als sie bisher gewesen zu setzen. Bey dieser Bemühung geschiehet auch eine Veränderung der Wissenschafften, daß sie aus einem Stande in den andern kommen. Eine Wissenschafft, die vorhero unvollständig gewesen, so nicht gründlich und deutlich gnug vorgetragen worden, kan durch die Verbesserung vollständiger, gründlicher und leichter gemacht werden, wodurch sie also brauchbarer und nützlicher wird. Dieses ist die Ursache, warum Gelehrte arbeiten müssen, die Wissenschafften zu verbessern. Damit wir aber diese Materie ordentlich abhandeln mögen, so wollen wir eine Theoretische und Practische Betrachtung davon anstellen.  
  Die Theoretische zeiget, worauf solche Verbesserung an sich ankomme. Dasjenige was verbessert werden soll, sind die Wissenschafften. In engern Verstande verstehet man dadurch eine solche Lehre, welche gantz gewisse Wahrheiten vorträgt, wiewohl man dieses Wort auch von der Erkenntniß einer solchen Lehre brauchet. In weitern Sinn begreift man darunter eine jede Disciplin, sie mag gewiß oder nur wahrscheinlich seyn, folglich auch eine jegliche Erkenntniß derselbigen, nach welcher letztern Bedeutung wir diesen Discours einrichten, und insonderheit auf die Philosophische Disciplinen sehen werden.  
  Dasjenige, was daran kan gebessert werden, betrift entweder die Materialität, oder die Formalität einer Disciplin. Die Materialität begreift die Sachen und die Wahrheiten selbst, die darinnen vorkommen, oder doch vorkommen sollen. In Ansehung derselben hat man einen zweyfachen Weg  
  {Sp. 1418}  
  der Besserung. Der eine ist die Erfindung, wenn man durch eigenes Nachdencken etwas aussinnet, was man vorher noch nicht gewust, welches auf dreyerley Art geschehen kan.  
  Denn entweder sinnet man neue Principia einer schon bekannten Disciplin aus, an welcher Arbeit sich viele Gelehrten bey der natürlichen Rechtsgelehrsamkeit gemacht: oder man behält die alten Principia, und bessert sie nur aus, indem man sie gewisser und deutlicher machet; oder man erfindet aus guten vorher von andern erfundenen Principiis neue Schlüsse. In der Philosophie braucht man zu solchen Erfindungen ein gedoppeltes Mittel: Die Erfahrung und das Nachdencken. Jene macht Gelegenheit dazu, daß wie alle Philosophische Disciplinen ihren ersten Anfang aus der Erfahrung haben; also müssen sie auch daraus verbessert werden.  
  Man hatte im Anfange weder Logic, noch Physic, noch Ethic in allgemeinen abstracten Regeln nach Systematischer Ordnung; sondern die durch die Erfahrung bemerckte und gesammlete eintzelen Begebenheiten von der Menschen Irrthümern, verderbten Neigungen und Affecten, von den Würckungen in der Natur gaben dazu Anlaß. Solche Erfahrung können wir noch jetzo anstellen, allerhand Begebenheiten wahrnehmen, und wenn wir dabey nachdencken, vieles erfinden, was vorher noch nicht so bekannt gewesen. Die Erfahrung an sich, wenn das Nachdencken damit nicht verknüpffet wird, bleibet todt, und nutzet nichts. Es liegt an Tag, wie auf solche Weise zu unsern Zeiten Physic und Medicin in einen weit bessern Stand gesetzet worden, als sie vorher gewesen.  
  Der andere Weg ist die Prüfung, wenn man dasjenige, was andere voraus in den Disciplinen gesaget, untersuchet und beurtheilet. Man entdecket Irrthümer, unrichtige Schlüsse, unzulängliche Gründe unrichtige Erklärungen; man untersuchet, ob das bisher gesagte hieher gehöre; ob dasselbige einen Nutzen habe? und da findet man Gelegenheit genung, eine Sache besser einzurichten. So verhält man sich bey den Sachen selbst, welche bey der Verbesserung in eine Disciplin können gebracht werden.  
  Wenn aber eine Disciplin systematisch aussehen soll, so muß sie ihren Zusammenhang haben, worauf diese Formalität einer Wissenschafft beruhet. Der Zusammenhang betrift entweder die Materien, welche nach der natürlichen Ordnung, wie es ihre Beschaffenheit mit sich bringt, auf einander folgen müssen; oder den Vortrag selbst, der nach unterschiedener Methode kan eingerichtet werden. Man siehet entweder bloß auf die Sache; oder zugleich auf die Personen, die sich dessen bedienen sollen. In der ersten Absicht verfähret man entweder Synthetisch, wenn man etwas beweiset, daß wenn man mit gantz gewissen Wahrheiten zu thun hat, so legt man Definitiones und Principia zum Grund und ziehet daraus die Schlüsse; oder Analytisch, wenn man anderer ihre Gedancken prüfet.  
  Nach allen diesen Umständen können sich an den Disciplinen Dinge finden, die man zu verbessern hat. Bald bessert man die Ordnung der Materien, und da sie bisher vielleicht nicht ordentlich zusam-  
  {Sp. 1419|S. 723}  
  men gehänget, so sucht man diesen Fehler zu bessern, und ein jedes an seinen rechten Ort zu bringen. Bald erwählt man eine andere Methode, um die Sache entweder gründlicher; oder deutlicher und leichter vorzustellen. Unter anderem sind die Theologischen Wissenschafften zu den neuern Zeiten in vielen Stücken verbessert worden. Man kan zwar darinnen nichts neues ausdencken, weil man sich lediglich an die H. Schrifft halten muß; man hat aber gleichwohl die Disciplinen nach ihrer Formalität besser eingerichtet. Man trägt jetzo alles ordentlicher, gründlicher und deutlicher hervor, als ehedem geschehen.  
  Aus diesem, was wir jetzo gesagt, erhellet, daß diese Verbesserung auf vier Stücke ankommt.  
 
  • Das eine ist die Vollständigkeit, wenn eine Wissenschafft mit neuen Wahrheiten vermehret wird;
  • das andere die Richtigkeit, wann dasjenige, was man bisher fälschlich gelehret, entdecket, verworffen und an dessen Statt die Wahrheit gelehret wird, wie bey der Philosophie mit den Irrthümern des Aristoteles, Cartesius und anderer geschehen;
  • das dritte die Gründlichkeit, wo man dasjenige, so bisher nicht sattsam bewiesen worden, gewisser zu machen und auf festern Füssen zu setzen suchet,
  • und die vierte die Deutlichkeit, wenn man die Lehren und Wahrheiten, die bisher dunckel gewesen, begreiflicher machet.
 
  Die Practische Betrachtung dieser Materie zeiget, wie man sich bey der Verbesserung der Wissenschafften zu verhalten. Daß man die Wissenschafften verbessern könne, daran ist kein Zweifel. Denn wir sehen dieses an ihren Mängeln, die sich überall zeigen; und obwohl zu den neuern Zeiten die Gelehrsamkeit hochgestiegen, so kan man doch nicht sagen, daß sie vollkommen seyn. Vielleicht entdecken unsere Nachkommen manches, so uns jetzo unbekannt, und sagen etwas, so wir nicht wissen.  
  Eine Probe sehen wir, wenn wir die jetzige Gelehrsamkeit gegen die vorige halten. Man hat daran gebessert, und unter andern sehen die Philosophische Disciplinen weit schöner aus, als zu der Zeit, da die Scholastici philosophirten. Es ist eine kahle Ausflucht, daß man nichts neues sagen könnte, dahinter entweder eine Ungeschicklichkeit nachzudencken; oder ein Vorurtheil des Alterthums stecket. Denn ob wir wohl nicht leugnen, daß man manche Wahrheit welche die Alten schon gehabt, nachgehends aber in Vergessenheit kommen, vor was neues ausgiebt, ob man schon nur eine neue Farbe daran gestrichen; so ist doch eben so unleugbar, daß die neuern vieles entdecket und ausgesonnen, daran vor dem nicht gedacht.  
  Wer Wissenschafften glücklich bessern will, muß nicht nur hinlängliche Geschicklichkeit dazu haben; sondern auch gehörige Behutsamkeit anzuwenden wissen. Man muß sehen, ob eine Verbesserung angeht oder nicht. Denn die Verbesserung läst sich nicht überall anstellen, wenn sich gleich Mängel finden, die wir aber zu heben nicht vermögend. Wir wissen viele Dinge nicht; aber ohne unsere Schuld, und das sind die Geheimnisse, dergleichen auch in der Philosophie vorkommen. Wollte jemand hie-  
  {Sp. 1420}  
  rinnen eine Besserung vornehmen, so würde die Mühe vergebens seyn, und man würde bey seiner Bemühung nur auf allerhand schädliche und gefährliche Abwege gerathen, und also den Wissenschafften mehr schaden als nutzen; wovon man zu den neuern Zeiten manche Exempel gesehen, wenn man die Saiten der Vernunfft allzuhoch spannen wollen.  
  Wie wir manche Sache gar nicht ergründen und erforschen können, und dabey unsere Unwissenheit bekennen müssen; also wissen wir von vielen Dingen nur etwas und haben von denselbigen keine gewisse, sondern nur eine wahrscheinliche Erkenntniß. Bey solchen Materien muß man mit der Verbesserung auch nicht zu hoch hinaus wollen, noch sich in Kopf setzen, alles zu eigentlich so genannten Wissenschafften zu machen und über all unleugbare Wahrheiten zu suchen. Es ist eine grosse Schwachheit, daß man sich mit solchen Wissenschafften so groß machen will. Man nimmt freylich lieber eine Demonstration, als eine Wahrscheinlichkeit an; wo kan man sie aber allezeit haben? Der größte Theil der Philosophischen Wahrheiten beruhet nur auf eine Wahrscheinlichkeit.  
  Zu solchem Fehler muß man insonderheit rechnen, wenn man allenthalben die Mathematische Methode appliciren will. Vernünfftige Mathematici haben selbst erkannt, daß sich dieses nicht allezeit thun lasse. Aus diesem folgt die Regel: Man nehme keine Verbesserung vor, wenn selbige nicht kan ins Werck gerichtet werden. Ist selbige thunlich, daß sich nicht nur Mängel finden; sondern auch unser Verstand selbige zu bessern, vermögend; so ist ebenfalls hierinnen die Vorsichtigkeit nöthig, daß man nicht zu weit gehe, welches unter andern geschiehet, wenn man etwas richtiger, als bisher gewesen, abfassen will; und die Meynungen oder Lehren, welche etwas unscheinbar und unnützlich scheinen, gleich als irrig und unbrauchbar verwirft, wie zu den neuern Zeiten mit verschiedenen Lehren der Aristotelischen Logic geschehen; oder wenn man eine Sache deutlicher zu machen suchet, und sie dadurch wohl noch dunckler machet, wie bey solchen Ideen geschiehet, die auf die unmittelbare Empfindung gegründet sind.  
  Es läst sich nicht alles erklären, noch durch Sätze beweisen; sondern man muß einen offte, der einen Beweis fordert, auf die Empfindung weisen: Aus diesen machen wir diese Regel: Man gehe in der Verbesserung nicht zu weit, daß man weder was gutes dabey wegschmeisse, noch die Sache schlimmer mache.  
  Auf solche Weise kan nach den vier Stücken der Verbesserung, die wir vorher angemercket, auch ein vierfacher Fehler vorgehen. Denn  
 
  • bey der Vollständigkeit verfehlet man, wenn man Sachen ausmachen und in eine Disciplin bringen will, die sich nicht ausmachen lassen;
  • bey der Richtigkeit, wenn man ohne Noth an der bisher üblich gewesenen Lehre etwas tadelt;
  • bey der Gründlichkeit, wenn man mehrere Gewißheit, als möglich ist, einzuführen gedencket, und über all Demonstrationes verlangt,
  • und bey der Deutlichkeit, wenn man eine Sache gar zu deutlich geben will, und sich damit nur

    {Sp. 1421|S. 724}

    dunckel machet.
 
  Es weiset auch die Klugheit Regeln an, nach der man sich bey solchen Verbesserungen zu richten hat. Walchs Philosophisches Lexicon.
     
  Welche Wissenschafften nach der mathematischen Methode nicht abgehandelt werden können?  
  Wir haben in dem vorstehenden als einen Fehler angemercket, wenn man allenthalben die mathematische Methode appliciren will, und wir bekümmern uns also billig darum, welche Wissenschafften nach der mathematischen Methode nicht abgehandelt werden können? Unter denenselben stehet die Gottesgelahrheit oben an, insoweit sie uns Christen alleine eigen ist. Denn von der natürlichen wird hernach geredet werden. Diese kan schlechterdings nicht nach der mathematischen Lehr-Art vorgetragen werden.  
  Einmahl gründet sich selbige auf die Auslegung der Heil. Schrifft. Ob nun gleich der wahre Verstand derselbigen, absonderlich wenn die Überzeugung des Heil. Geistes darzu kommt, gewiß erlangt werden kan; So läst sich doch selbiger nach der Schärffe der mathematischen Lehr-Art nicht demonstriren. Hernach sind die vornehmsten Glaubens-Artickel nicht schlechterdings nothwendig, z.E.  
 
  • daß die ersten Menschen durch ihre eigene Schuld den Sündenfall begangen haben;
  • Daß, vermöge dieses Sündenfalls, ein Verderbniß der menschlichen Natur auf das gantze menschliche Geschlecht fortgepflantzet worden.
  • Daß sich GOtt über das Elend der Menschen erbarmet habe;
  • Daß GOtt der Sohn deswegen die menschliche Natur angenommen, gestorben, nach dreyen Tagen wieder aufgestanden und gen Himmel gefahren sey.
 
  Diese Lehr-Sätze, und einige andere mehr, sind ja nicht schlechterdings nothwendig. Theils gründen sich selbige auf die Schuld des mit einem freyen Willen begabten Menschen, theils aber auf den freyen Willen GOttes. Wie kan man sich also unterstehen, diese Sätze als schlechterdings nothwendige Wahrheiten zu demonstriren.  
  Was nun das bürgerliche Recht anbelanget, so ist ja bekannt, daß es hier wieder hauptsächlich auf die Auslegung ankommt; Hernach ist es von dem freyen Willen eines mit der höchsten Gewalt begabten Herrns entstanden: Einige Handlungen bey denen das Recht der Natur den Menschen in Ansehung der äusserlichen Umstände Freyheit gelassen, werden nach Willkühr des Gesetzgebers nur an gewisse Zeiten, Örter, u.s.w. gebunden. Hieraus erkennet man, daß selbiges zufällig, sehr verändernlich und in vielen Stücken höchst ungewiß, und dennoch will man es mathematisch demonstriren, und also als schlechterdings nothwendige Wahrheiten ausgeben?  
  Fragt man ferner: Vielleicht wird man alle Philosophische Wissenschafften nach der mathematischen Lehr-Art demonstriren können? So ist die Antwort: Auch dieses nicht. Denn es gehet nur bey einigen Theilen, an. Die alten Philosophen haben dieses gar wohl eingesehen, dahero haben sie nicht alle, sondern nur einige Theile  
  {Sp. 1422}  
  nach der mathematischen Lehr-Art abgehandelt. Und deswegen sind sie nicht zu tadeln, sondern zu loben.  
  Der Ontologie, oder demjenigen Theil der Weltweißheit, worinnen die allgemeine Erkenntniß der Dinge abgehandelt wird, gestehet man billig die Ehre zu, daß sie nach der mathematischen Lehr-Art abgehandelt werden kan. Denn sie bestehet aus schlechterdings nothwendigen Wahrheiten. Eben deswegen hat sie auch Aristoteles in seiner Metaphysick mathematisch vorgetragen. Einige Stücke der natürlichen Gottesgelahrheit, des natürlichen Rechts, und vielleicht auch der Natur-Lehre können nach der mathematischen Lehr-Art abgehandelt werden. Alleine alle philosophischen Wissenschafften können nimmermehr mathematisch demonstriret werden, weil sie nicht aus lauter schlechterdings nothwendigen, sondern auch aus zufälligen Wahrheiten bestehen. Aristoteles schreibet Metaphys. II. 3. gantz vernünfftig:  
  Es giebt zwar einige, welche diejenige nicht hören wollen, welche sich in ihren Reden der mathematischen Lehr-Art nicht bedienen = = Wir dürffen aber die mathematische Schärffe nicht bey allen Dingen suchen, sondern nur bey denjenigen, welche nicht cörperlich und sinnlich sind.  
  Von der Sitten-Lehre hegt er gleiche Gedancken:  
  Man hat sich hinlänglich genug erkläret, wenn man nach Beschaffenheit der Umstände einigen Grund angegeben hat. Denn die mathematische Schärffe gehet nicht bey allen Dingen an. Bey der Ehrbarkeit und Gerechtigkeit, wovon in der Politik gehandelt wird, trifft man soviel veränderliche und wider einander lauffende Dinge an, daß selbige nicht von Natur, sondern durch ein willkührliches Gesetz, also bestimmt scheinen. Eben dergleichen Unbeständigkeit und Dunckelheit nimmt man bey dem wahr, was man vor gut hält, weil viele deswegen ihres Reichthums, andere aber wegen Tapferkeit umgekommen. Es ist dahero schon genug, wenn man nur einiger massen, oder am wahrscheinlichsten, die Wahrheit zeiget, ob es gleich nicht nach der mathematischen Schärffe geschiehet. „ „  
  Man muß also das vorher angeführte also verstehen.  
  Ein wohl unterrichteter Mensch wird nur insoweit die mathematische Schärfe fordern, als es die Natur einer Sache leiden wird. Es wäre eben so ungereimt, wenn ich von einem Redner mathematische Beweise fordern wolte, als wenn ich von einem Lehrer der Mathematik nur wahrscheinliche Überredungen haben wolte.  
  Plato in Timaeo c. 13 fordert ebenfalls von einem Philosophen nicht durchgängig die mathematische Schärffe, sondern nur bey schlechterdings nothwendigen Wahrheiten, bey zufälligen aber ist schon der höchste Grad der Wahrscheinlichkeit genug.  
  Proclus ad Euclid. p. 10. edit. Bas. macht dahero billig die Anmerckung, ein Mathematickverständiger soll hauptsächlich darauf sehen, daß er sich nur solche Dinge mathematisch zu demonstriren unterfange, welche vermöge ihrer Natur demonstriret werden können. Es fehlten dahero einige unverständige, wenn sie glaubten, sie hätten einige Sache mathematisch demonstriret, da sie doch selbige nur bewiesen hätten. Er leugnet dahero, daß es einem Mathematickverständigen zukomme, zu demonstri-  
  {Sp. 1423|S. 725}  
  ren; ein Circkel wäre schöner, als eine gerade Linie. Denn dieses kan nicht mathematisch demonstriret werden. Er spricht auch demjenigen den Nahmen eines Mathematickverständigen ab, welcher nicht wisse, wo die mathematische Schärffe statt finde.  
  Aus diesen angeführten allen wird man nunmehro leichtlich begreifen, mit was vor Grund man die alten Weltweisen beschuldigt, als wenn sie die mathematische Lehr-Art nicht gewußt, oder sich selbiger nicht bedienet hätten? Wie kan man doch den Rechtsgelehrten zu nahe treten, welche ihre Urtheile nicht in dieser Lehr-Art abfassen? Und warum will man diejenigen tadeln, wenn sie zufällige und veränderliche Wahrheiten nicht mathematisch demonstriren wollen. Unmögliche Dinge von jemand fordern, ist die größte Unbilligkeit.  
  Allhier ist noch nöthig, einige Einwürffe aus dem Weg zu räumen. Wenn man den Leuten die mathematische Lehr-Art anpreisen will, so berufft man sich insgemein auf die Aussprüche der alten Weltweisen: Plato und Xenocrates, sprechen sie, haben ausdrücklich befohlen, wer Philosophie treiben will, der müsse nothwendig die Mathematick studiret haben; Hieraus will man erzwingen, man müsse die Philosophie nach der mathematischen Lehr-Art abhandeln. Alleine man irret sich gewaltig. Man gesteht zwar gerne zu, daß die alten Philosophen die Mathematick ihren Schülern ernstlich anbefohlen; Nicht aber deswegen, daß sie die gäntzlichen philosophischen Wissenschafften in Zukunfft nach der mathematischen Lehr-Art vortragen sollen, oder können, sondern hauptsächlich deswegen, weil durch die Übung der Mathematick unser Verstand aufgekläret und gereiniget wird, nicht eben und blos dadurch, wie es die neuern auslegen, daß man die mathematische Lehr-Art lernet, sondern weil man sich gewöhnt, solche Dinge, die nicht sinnlich sind, sondern blos mit dem Verstande begriffen werden müssen, einzusehen und zu erkennen, daß dieselben eben so gewiß, ja vielfältig, noch gewisser sind, als die sinnlichen, welches die meisten nicht glauben. Diese Ursache haben Plato selbst in seinem 7den Buche de rep. und alle Platonici, auch Plutarchus angegeben, deren Auslegung billig sicherer ist, als diejenige, welche die neuern machen.  
  Dieses also ist der Grund, warum die alten Weltweisen die Mathematick eingeschärffet haben. Andere hingegen wenden ein, wenn man sich der mathematischen Lehr-Art nicht überall bedienen soll, so wird die Gewißheit in den Wissenschafften übern Hauffen fallen, und die Gewohnheit von allen Dingen zu zweifeln, eingeführet werden.  
  Hierauf ist aber die Antwort sehr leicht. Weil in der Geometrie lauter schlechterdings nothwendige Wahrheiten vorkommen, gleichwohl aber auch die Anzahl der zufälligen Wahrheit sehr groß ist, so kan man ja nicht überall geometrische Beweise fordern. Es ist genug, wenn wir es bey zufälligen Wahrheiten auf eine innerliche Empfindung einer Gewißheit bringen, bey der sich das Gemüthe beruhiget, und dieses kan ohne mathematische Lehr-Art geschehen.  
  Z.E. wenn einige hören oder lesen, Cäsar sey auf dem Rath-Hause zu  
  {Sp. 1424}  
  Rom hingerichtet worden, so entstehet ja bey vielen eine solche Empfindung in Ansehung der Gewißheit, als wenn sie einen Geometrischen Satz lesen oder hören. Obgleich bey der Auslegung anderer Leute Schrifften die mathematische Gewißheit nicht statt hat; So können wir doch vielfältig bey derselben eine gleiche Empfindung der Gewißheit haben, daß wir an der Wahrheit der Auslegung ebenso wenig zweifeln, als an einer Geometrischen Wahrheit. Die Märtyrer sind von der Wahrheit der Christl. Glaubens-Artickel so gewiß überzeugt gewesen, daß sie auch ihr Leben darüber gelassen, ob man ihnen selbige gleich nicht mathematisch demonstriret hatte. Und wir hoffen, ja alle mit einer unfehlbaren Gewißheit selig zu werden, ob uns diese Gewißheit gleich die Mathematickverständigen nicht gelehret haben. Wenn es nun eine Gewißheit giebt, die nicht durch eine mathematische Lehr-Art erlanget wird, so wird ja selbige nicht übern Hauffen geworffen, wenn man sich gleich der mathematischen Lehr-Art nicht allezeit bedienet, viel weniger wird die Freyheit zu zweifeln gelehret, wenn man behauptet, daß die mathematische Gewißheit nicht in allen Dingen zu suchen sey. Ein mehrers sehe man hiervon nach in des berühmten hiesigen Herrn Prof. Johann August Ernestis, Programmate, so den Titel führet: Defensio veterum phil. adversus eos, qui methodum mathematicam ab iis vel ignoratam vel male neglectam esse contendunt, so zu Leipzig 1741 in 4. herausgekommen, und davon die Recension in dem Philosophischen Bücher-Saale im II Theile, p. 192 u.ff. zu befinden ist.
     

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HIS-Data 5028-57-1399-1-03: Zedler: Wissenschafften [3] HIS-Data Home
Stand: 7. April 2013 © Hans-Walter Pries