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Zedler: Sünde [2] HIS-Data
5028-41-1-7-02
Titel: Sünde [2]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 41 Sp. 13
Jahr: 1744
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 41 S. 20
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Hinweise:
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  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Bibel

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Stichworte Text Quellenangaben
  Hier wollen wir nur zwo Fragen erörtern, welche folgende sind:  
  I. Ob GOtt durch die Zulassung des Bösen zu einem Urheber der Sünde werde? II. Ob er durch die Erhaltung der sündigen Creatur zu einer Ursache derselben werde?  
I. Die erste betreffend, so bemercken wir, daß sich die Menschen an die Zulassung des Bösen sehr stossen. Es ist daher wohl nöthig, daß dieser Punct berühret, und daß untersuchet werde, ob die Zulassung des Bösen mit den Göttlichen Eigenschafften streite, und ob sie insonderheit mit der Macht, Weisheit, Güte und Heiligkeit GOttes bestehen könne.  
  Um nun hier auf den Grund zu kommen, so ist nöthig, daß wir zwischen der Sünde, welche in den wesentlichen Kräfften einer vernünfftigen Creatur ihren Sitz hat, und zwischen denen daraus entspringenden äusserlichen bösen Handlungen, einen Unterscheid machen. Und abermahls muß ein Unterscheid gemachet werden, zwischen der blossen Möglichkeit zu sündigen, und böse zu werden, und zwischen der würcklichen Neigung zum Bösen.  
  Das eigentliche Böse, oder die Sünde ist nichts anders, als eine Abweichung von der Wahrheit und dem Gesetze, so ferne dieselbe ihrer Natur nach den gantzen Zustand eines  
  {Sp. 14}  
  vernünfftigen Wesens verschlimmert und unvollkommener macht. Wenn wir nun zuerst bey der blosen Möglichkeit der Sünde und des Bösen stehen bleiben; so finden wir leichte, daß dieselbe bey dem Göttlichen Wesen keines Weges statt findet. Denn Gottes-Wesen ist schlechterdings ewig; es ist auf einmahl, was es ist, es ist ohne allen Schrancken, und daher unveränderlich. In Gott ist die allerdeutlichste und vollkommenste Erkänntniß des Guten. Diese Erkänntniß ist daher unveränderlich, und können folglich in Gott niemahls falsche Begriffe entstehen.  
  Weil uns der Wille nach der Art, und dem Maasse der Erkänntniß geneiget wird; so findet denn auch bey Gott nicht die geringste Abweichung von der Liebe zum Guten statt. Und so ist es denn auf keine Weisse unmöglich, daß in GOtt selbsten etwas böses oder sündliches solte entstehen können; mithin hat das Böse in dem ewigen und vollkommensten Wesen GOttes nicht die geringste Wurtzel, weder der Würcklichkeit, noch einmahl der Möglichkeit nach.  
  Wenn wir aber dargegen die Creaturen, und insonderheit die vernünfftigen Geschöpffe betrachten; so sind sie alle endlich, und haben so wohl in ihrem Wesen als auch in ihren Kräfften, ihre gewisse Schrancken. Dis ist der Creatur so wesentlich eigen, daß es ihr auch durch die Göttliche Macht selbsten nicht kan genommen werden. Denn wenn eine Creatur unendliche Kräffte, und uneingeschränckte Eigenschafften haben solte; so müste sie eine Creatur und zu gleicher Zeit auch GOtt selbst seyn. Dieses wiederspricht sich aber vollkommen, stürtzet den Grund aller Wahrheit über einen Hauffen, ist in sich selbst schlechterdings unmöglich, und kan daher auch durch die Göttliche Macht nicht bewerckstelliget werden, indem dieselbe nichts hervorbringen kan, als was der Göttliche Verstand sich als möglich vorstellet.  
  Weil denn nun aber auf jetzt besagte Weise die vernünfftige Creatur ihre gewisse Schrancken hat, und also ihre Kräffte, die sie als eine vernünfftige Creatur besitzet, eingeschräncket sind; so ist es an sich selbst möglich daß sich eine vernünfftige Creatur verändern kan, so wohl in ihren Vorstellungen, als auch in ihren Neigungen. Die Möglichkeit ist also der Creatur wesentlich eigen, und kan ihr von dem Schöpffer nicht genommen werden; folglich kan ihr auch die blosse Möglichkeit, falsche Vorstellungen und verkehrte Neigungen zu haben, nicht genommen werden. Allein in der blosen Möglichkeit lieget noch nichts böses; in dem das Böse in einer würcklichen Abweichung von der Wahrheit und dem Gesetze bestehet; und gleichwohl etwas nicht deßwegen würcklich ist, oder nothwendig werden muß, weil es an und vor sich selbst möglich ist.  
  Daß dieses seine Richtigkeit habe, davon sind die Menschen in ihren Handlungen selbst die besten Zeugen. Es ist ja an sich selbst möglich, daß ein jeglicher Mensch dem andern durch ein tödliches Gewehr das Leben nehmen kan; aber geschiehet es denn deßwegen würcklich, oder muß es würcklich geschehen? Was würde man sagen, wenn uns jemand eines würcklichen Todschlages aus diesem Grunde beschuldigen wolte, weil es uns möglich gewesen wäre einen Todschlag zuverrich-  
  {Sp. 15|S. 21}  
  ten? Oder wenn jemand einem Schwerdt-Feger oder Büchsenmacher, einen Todschlag deßwegen zurechnen wolte, weil er ein Gewehr verfertiget hätte, mit welchem ein anderer nach seinem eigenen Gefallen einen Menschen ums Leben gebracht hätte? Die Zueignung ist hier auf Gott und den ersten Menschen leicht gemacht.  
  Insonderheit erhellet daraus soviel, daß in der blosen Möglichkeit zu sündigen, welche bey den ersten Menschen, als endlichen und eingeschränckten Geschöpffen sich gefunden hat, noch gar kein hinlänglicher Grund zur Sünde liege. So kan auch die blose Möglichkeit des Bösen Niemanden zu gerechnet werden, wenn nicht erst eine würckliche Entschliessung zum Bösen hinzu kommt. Es müssen erst bey der Creatur würckliche falsche, von der Wahrheit und dem Gesetze abweichende Vorstellungen und Neigungen entstehen, wenn sich etwas böses an der Creatur befinden soll.  
  Diese falsche Vorstellungen aber müssen entweder von der Creatur selbst, oder von andern Creaturen, oder auch von Gott gemacht werden. Von Gott sind dem ersten Menschen keine falsche Vorstellungen gemacht worden; er hat ihn zur Wahrheit erschaffen, und hat ihm nichts als Wahrheiten vorgesagt. Ja Gott kan auch vernünfftigen Creaturen keine falsche Vorstellungen machen, noch beyzubringen suchen; denn er hat dergleichen selbst nicht, kan sie auch nicht haben, und kan sie auch bey andern nicht lieben noch billigen, weil er sonst wieder sich selbst und wieder seine ewige Wahrheit handeln müste. Und so rühren denn die falschen Vorstellungen bey den Creaturen nicht von Gott her.  
  Daher bleiben selbige den Creaturen eigen, nicht, so fern sie Creaturen sind, sondern, so fern sie willkührlich und würcklich von der Wahrheit abweichen. Denn wenn auch andere Creaturen uns falsche Vorstellungen machen und beyzubringen suchen, so können selbige uns doch nicht anders zum Bösen, und daß die Sünde würcklich in uns Platz gewinnet, bringen, als wenn wir sie selbst annehmen, und dadurch unser eigen werden lassen.  
  Und so haben wir denn bisßhero gesehen, was der oben angeführte Unterscheid, zwischen der blosen Möglichkeit und Würcklichkeit des Bösen, sagen wolle; und wie daraus, daß GOtt den Menschen nicht anders, als in dem Stande einer blosen Möglichkeit zu sündigen, erschaffen hat, so gar nicht folge, daß man GOtt dieserwegen zum Urheber der Sünde und des Bösen machen könnte, daß man auch nicht einmahl den Menschen, alleine um der Ursachen willen, weil bey ihm eine blose Möglichkeit zu sündigen vorhanden ist, als einen würcklichen Sünder ansehen kan.  
  Wenn wir nun weiter gehen, und auf die würckliche Abweichung vom wahren Guten in dem Verstande und Willen des Menschen unsere Augen richten; so haben wir schon vorhin bewiesen, daß dieselbe gleichfalls nicht von Gott herrühre. Wir müssen aber doch zu gestehen, daß hier eine Göttliche Zulassung mit obwalte. Und so fraget sichs denn: Ob diese Zulassung den Göttlichen Eigenschafften nicht zuwieder lauffe. Hierbey aber ist zu erwegen, daß Gott, da er den Menschen zu einer vernünfftigen Creatur erschaffen hat, demselben auch den Ge-  
  {Sp. 16}  
  brauch seines freyen Willens nicht hat benehmen können; weil einer vernünfftigen Creatur, wie der Verstand also auch der freye Wille wesentliche eigen ist, und ohne dieses doppelte Vermögen kein vernünfftiges Wesen seyn kan.  
  Wenn nun eine Creatur sich selbst falsche Vorstellungen macht, und machen will, und ihre Neigungen darnach einrichtet; so muß der Schöpffer es geschehen lassen, wo er sie nicht augenblicklich ihres Wesens berauben, oder zu nichts machen will. Denn nimmet man einem Geiste den freyen Willen, so nimmt man ihm sein Wesen, denn der freye Wille gehöret mit zu seinem Wesen. Und es ist eben so viel, als wenn man ein Nichts aus ihm machen wolte.  
  Mit einem Cörper hat es eine andere Beschaffenheit. Denn, weil das Wesen eines Cörpers in der Art der Zusammensetzung seiner Theile bestehet, so wird sein Wesen zerstöhret, wenn seine Theile, daraus der Cörper bestehet, gantz aufgelöset werden. Aber deßwegen kan man nicht sagen, daß der Cörper schlechterdings zu Nichts werde. Denn es bleiben die kleinen Theile, daraus er bestanden, und solten es auch nur Stäubgen seyn, noch irgendwo übrig.  
  Allein ein Geist ist kein zusammen gesetztes, sondern ein einfaches Wesen. Daher kan ihm nichts, was zu seinem Wesen gehöret genommen werden, ohne ihn in sein voriges Nichts zu setzen. Wie nun aber der freye Wille selbst einem Geiste, wenn er anders bestehen und ein Geist bleiben soll, nicht genommen werden kan; also kan auch der Gebrauch des freyen Willens nicht schlechterdings genommen werden. Denn wozu wäre der freye Wille, wenn er niemahls frey solte können gebrauchet werden?  
  In so fern demnach das Böse so zu sagen, in dem Schooß und Bezirck eines Geistes entstehet, und verborgen bleibet; in so ferne könnte GOTT solche Ausbrüche auf eine sehr leichte Art hindern. Da er nun aber dieselben gleichwohl sehr offte zuläst, so ist von dieser Art der Sünde und des Bösen der meiste Zweiffel; ob nicht die Göttliche Zulassung ein Zeichen sey, daß Gott an den bösen Handlungen Theil nehme, und ob nicht dieselbe der Göttlichen Güte und Heiligkeit zu wiederlauffe.  
  Bey dieser Sache aber ist zuförderst zu untersuchen, ob man nicht eine äusserliche böse Handlung zulassen könne, ohne dieselbe zu billigen; und in welchem Fall man selbige ohnbeschadet der Heiligkeit zulassen könne, und nach den Regeln der Weisheit und Güte zulassen müsse. Wenn man etwas Böses zulässet, deßwegen, weil es böse ist, um des Bösen willen; so ist kein Zweiffel, daß man das Böse zugleich billige und Theil daran nehme. Wenn man aber das Böse deßwegen zuläst, weil man weiß und erkennet, daß sonst etwas gutes, welches viel wichtiger ist als das Böse, nicht würde erhalten werden können; so ist an einer solchen Zulassung nichts sträffliches.  
  Es ist zwar wohl eine ewige Wahrheit, daß man nichts böses thun soll, damit etwas gutes herauskomme; aber etwas selber thun und etwas zulassen, ist sehr weit von einander unterschieden. Man kan nichts böses thun, ohne das Böse zu billigen; aber man kan wohl etwas Böses ohne Billigung desselben  
  {Sp. 17|S. 22}  
  zulassen, wenn man nehmlich weiß und gewiß ist, daß viel ein wichtiger Gutes gantz unterbleiben würde, wenn man das Böse schlechterdings nicht hätte zulassen wollen. Exempel werden diese Sache erläutern und bestätigen.  
  GOtt lässet zu, daß der böse Sinn und die bösen Neigungen bey einem Menschen durch äusserliche Worte und Wercke ausbrechen. Er könnte dieses letztere durch seine Allmacht leicht hindern, er thut es aber nicht. Warum thut er es nicht? Er handelt hier nach seiner Weisheit. Wenn eine Kranckheit in dem Cörper verborgen bleibet, so glaubet offt der Mensch nicht, daß er so kranck sey, und will nichts brauchen; schläget die Kranckheit aus, so hat er Gelegenheit seine Gefahr zu erkennen, und ist noch eher zu bewegen, wider seine Kranckheit heilsame Mittel anzunehmen.  
  So lange das Böse nur in den blossen Vorstellungen u. Neigungen bleibet, glaubt der Mensch schwerlich, daß er in einem schlechten u. Verdammungs würdigen Zustande sich befinde; ja er kützelt sich wohl mit dem, was in seinem Geiste unordentliches vorgehet. Aber wenn es GOtt zulässet, daß er in manche grobe Sünde äusserlich hineinplumt, so ist es noch eher mit ihm dahin zu bringen, daß er sich selbst erkennen und fühlen lernet, und die Mittel von seinem Verderben loß zu werden, sich gefallen läst. Hierauf gründet sich der Ausspruch Christi, wenn er zu den Pharisäern, die darum, weil sie äusserlich und vor der Welt keine Räuber und Ehebrecher waren, sich vor gantz gute und fromme Menschen hielten, saget: Die Hurer mögen wohl ehe ins Himmel-Reich kommen, denn ihr. Matth. XXI, 31.
  Bey dem äusserlichen Ausbruch der Sünde, kan der Mensch viel eher gefaßt, und ihm die Scheußlichkeit und Schädlichkeit derselben zu seiner und anderer Besserung vorgestellet werden, als wenn die Sünde in der Heucheley bey ihm versteckt bleibet. Will der Mensch bey dem äusserlichen Ausbruch seiner Sünde sich selbst nicht helffen lassen; so können doch andere einen Nutzen daher haben.  
  Die bösen Handlungen der Menschen, müssen offte andern zu vielen guten dienen, entweder zur Übung in der Gedult, und daß man sich um desto mehr zu GOtt halte; oder, daß man einen desto grössern Abscheu vor der Sünde bekomme, und, weil der Ausbruch derselben so scheußliche Folgen nach sich ziehet, daß man um desto mehr über sein Hertz wache, und den ersten verkehrten Neigungen keinen Raum gebe.  
  Hätte GOtt die böse That der Kinder Jacobs, die sie an ihren Bruder Joseph bewiesen, schlechterdings hindern wollen, so würde das Gute, welches Joseph in Egypten ausrichtete, nicht erfolget seyn. Die Brüder Josephs konnten sich dieses Gute keinesweges zuschreiben, weil es gar ihre Absicht nicht war; aber Joseph sahe dabey auf die Absicht GOttes, warum er dieses alles habe geschehen lassen, und sagte deswegen: Ihr gedachtets böse mit mir zu machen, GOtt aber gedachts gut zu machen, daß er thät, wie es jetzt am ist Tage, zu erhalten viel Volcks. 1 B. Mosis L, 20.
  Wenn GOTT schlechterdings hätte hindern wollen, daß die Jüden ihren bösen Vorsatz wider Christum nicht ins Werck hätten richten können, und wenn er ihnen denselben, so zu sagen, nicht hätte Preiß geben  
  {Sp. 18}  
  wollen, so würde das, was aus der Creutzigung Christi erfolget ist, zugleich unterblieben seyn.  
  Über dem so kan etwas böses auf eine unschuldige Weise zugelassen werden, nicht nur in der Absicht, damit ein grösser Gut nicht unterbleiben dürffe, sondern auch, damit ein grösser Übel verhindert, und demselben vorgebeuget werde. Man setze zum Exempel den Fall, daß ein Vater vorher wüste, daß, wenn sein Sohn gegenwärtig aufs Eyß gienge, er ein Bein zerbrechen würde. Er wüste aber auch vorher, daß, wenn er gegenwärtig solches schlechterdings hindern wolte, sein Sohn doch zur andern Zeit aufs Eyß lauffen, und gar ersauffen würde. Wenn er nun dabey gewiß wüste, daß sein Sohn durch Zerbrechung eines Beins, von dem Eyßgehen dermassen würde abgeschrecket werden, daß das grössere Unglück des Ersauffens dadurch unterbliebe, könnte man es denn einem Vater wohl verdencken, wenn er gegenwärtig seinen Sohn aufs Eyß gehen liesse? Eine solche Zulassung ist so gar ohne Schuld, daß sie vielmehr der gütigen Vorsicht des Vaters muß zugeschrieben werden.  
  Da nun der so gütige GOtt, dessen Wille und Rathschluß immer auf das Beste gehet, den schweren Fall des Menschen zugelassen hat; so wäre es ja ein sehr übereiltes Urtheil, wenn man daraus gleich schliessen wolte, er habe den Fall des Menschen, um des Falles willen gewollt; da man ja vielmehr Ursache hat zu glauben, er müsse vorher gesehen haben, daß, wenn er solchen Fall nicht zulassen wolte, der Mensch in noch viel schlimmere Umstände, die gar nicht wieder hätten gut gemacht werden können, verfallen würde. Wenn wir nun aber auch nicht bey allen Fällen den guten Zweck unsers GOttes nicht zu erreichen vermögend wären, so hätten wir solches lediglich unserer Unwissenheit, da wir nicht alle Umstände durchschauen können, zuzuschreiben, wären aber nicht befugt, dieserwegen die Zulassung des Bösen von Seiten GOttes als einen Ursprung der Sünde und des Bösen anzusehen.  
II. GOtt hat nicht allein die Creaturen erschaffen; sondern er erhält sie auch, und sie würden in ihr voriges Nicht seyn zurücke gehen, wenn GOtt seine Erhaltungs-Krafft von ihnen abziehen wolte. Weil nun viele Creaturen von GOtt abgefallen, und in die Sünde gerathen sind, bey ihnen aber keine sündliche Handlungen statt finden würden, wenn sie GOtt nicht in ihrem Wesen erhielte, sondern sie zu Nichts werden liesse; so möchte noch die Frage entstehen, ob denn nicht von wegen solcher Erhaltung, GOtt die Ursache der Sünde zugeschrieben werden können? Jedoch ausserdem, daß die Göttliche Erhaltung allein auf die Würcklichkeit der Dinge gehet, nicht aber auf derselben Seeligkeit oder Unseeligkeit, und also auch nicht auf ihre freywilligen Handlungen, in sofern aus denselben eine Seeligkeit oder Unseeligkeit erwächset; indem aus der blossen Würcklichkeit einer vernünfftigen Creatur an sich selbst nicht folget, daß sie dieses oder jenes thue, oder thun müsse, wodurch sie glücklich wird, oder sich unglücklich macht; so haben wir fürnehmlich dreyerley Ursachen zu erwegen, die GOtt mit gutem Grunde dazu bringen können, daß er die sündige Creatur weder gantz und gar zernichte, noch auch sonst sogleich aus  
  {Sp. 19|S. 23}  
  dem Wege räume, damit sie etwa nicht weiter im Stande seyn möchte, durch gewisse äusserliche Handlungen hier in dieser Welt sich zu vergehen. Die erste gehet auf GOtt selbst, die andere auf die sündigende Creatur, und die dritte auf andere vernünfftige Geschöpffe; alles mit einander aber überkommt sein rechtes Gewicht davon, daß GOtt in seinem lautern Verstande und nach seiner Weisheit allen Umstände nach dieses oder jenes für das beste erkennet.  
  Wenn GOtt eine sündige Creatur, die da gleichsam wider ihn wütet und tobet, gantz und gar vertilgen wolte, so wäre es fast eben so viel, als ob er sich für derselben fürchten müste; ebenfalls wie ein Fürst für gut finden möchte, einen Menschen, von dem er grosse Unruhe im gemeinen Wesen und Gefahr für seine eigene hohe Person besorget, ohne vieles Bedencken sogleich hinzurichten, welches dem Grunde nach aus einer Furcht, daß ihm sonst selbst, oder seinem Regimente was böses begegnen möchte, herrühret, und ein deutliches Zeugniß und täthliches Bekänntniß ableget, daß er seiner eignen Macht nicht so schlechterdings trauen dürffe.  
  Wenn ein kleines Kind, das man mit einem Finger über einen Hauffen stossen kan, drohet, darüber wird sich Niemand graue Haare wachsen lassen. Wenn man aber den Drohungen durch die Vertilgung des andern vorzukommen nöthig hat; so zeiget man damit an, daß man sich zu fürchten Ursache habe. Unser GOtt, als ein allmächtiger Herr Himmels und der Erden, darff sich weder vor Teuffel noch Menschen fürchten. Da er nun beyden ihren Lauff lässet, so zeiget er damit an, daß er sie verachte, und sie nicht fürchten dürffe. Wenn schon die Heyden toben, und die Könige im Lande sich auflehnen, und die Herren mit einander rathschlagen, wider den HErrn und seinen Gesalbten; so lachet ihrer doch der im Himmel wohnet, und der HErr spottet ihrer. Psalm II, 1. 2. 4.
  Er wird doch schon zu seiner Zeit seine Macht an ihnen bewiesen, und Ehre wieder sie einlegen. Wir haben hiervon ein Exempel an dem König Pharao. Doch siehet unser GOtt, wenn er die Bösen bey ihrer Bosheit erhält, nicht allein auf sich, sondern zugleich auch auf die Bösen selbst. Paulus giebet uns davon einen Aufschluß, wenn er schreibet: Verachtest du den Reichthum seiner Güte, Gedult und Langmüthigkeit? Weissest du nicht, daß dich GOttes Güte zur Busse leitet? Du aber nach deinem verstockten und unbußfertigen Hertzen, häuffest dir selbst den Zorn, auf den Tag des Zorn, und der Offenbahrung des gerechten Gerichts GOttes. Röm. II, 4. 5.
  Hier wird GOtt ein Reichthum der Gedult, Güte und Langmüthigkeit zugeschrieben, die er an den Gottlosen beweiset. Es wird aber auch zugleich der Zweck angezeiget, warum GOtt solches thue; nehmlich, daß sich die Gottlosen zur Busse solten leiten lassen. Dieses ist nun ein so heiliger und seeliger Zweck, daß man nicht die geringste Ursache hat, den lieben GOtt, da er so glücklich ist, scheel anzusehen, und von ihm zu verlangen, er solle einen bösen Menschen sogleich in seiner Bosheit niederschlagen, und dem ewigen Gerichte übergeben.  
  Manche Menschen würden nicht zur  
  {Sp. 20}  
  Bekehrung gelanget seyn, wenn GOtt nicht so lange mit ihnen Gedult gehabt hätte. Nebucadnezar wäre nicht zur Erkänntniß kommen, wenn GOtt bey seinem übermachten Hochmuth ihn so gleich hätte vertilgen wollen. Wenigstens würde ein solches vortreffliches Bekänntniß, welches er in einem offenen Ausschreiben, allen Völckern, Leuten und Zungen seiner Herrschafft zugeschicket hat, und darinnen er die Macht des einigen wahren Gottes über sich erkennet, nicht zum Vorschein kommen seyn, wodurch doch sonder Zweiffel manche sind gerühret und zur Erkänntniß des wahren GOttes sind gebracht worden.  
  Man möchte hiebey sagen: Es habe zwar die Göttliche Erhaltung bey denjenigen, die sich doch endlich bekehrten, ihren guten Nutzen; alleine sehr viele blieben ja in ihren Sünden, und das wisse GOtt auch wohl vorher; warum er denn nichts desto weniger auch dieselben erhalte? Hierauf dienet zur Antwort, daß die Göttlichen Eigenschafften GOtt ein Gesetze sind. GOtt ist die höchste Güte, und nach derselben geneigt, der Creatur, so viel es ihre selbst erwehlten Wege noch leiden, zu helffen. Da würde nun GOtt, so zu sagen, mit sich selbst nicht zufrieden seyn, wenn er nicht an seiner Seite noch thäte, was er thun könnte, ohngeachtet er wohl weiß, daß es nichts helffen werde.  
  Denn eben wie GOtt von uns fordert, daß wir, wenn andere Unrecht thun, deswegen nicht auch unbillig handeln, und uns vom Gutes thun, durch anderer Verfahren nicht abhalten lassen sollen; so ist GOtt auch also gesinnet: Er handelt für sich, wie es nach seiner Heiligkeit und Weisheit gut ist, und unterlässet solches nicht um der blossen Undanckbarkeit und Unerkänntlichkeit der Menschen willen, und damit zeiget er eben an, daß er ein über alle Creaturen weg gesetztes Wesen sey, welches den hinlänglichen Grund aller seiner Handlungen eintzig und allein in sich finde, und von keiner eintzigen Creatur dependire.  
  Ausser dem dienet auch die Langmuth GOttes, damit er unverbesserliche Sünder eine Zeitlang träget, ihnen selbst zu einer desto grössern Überzeugung, daß GOtt an ihrem Verderben keine Schuld habe, sondern, daß an ihnen geschehen sey, was immer mehr habe geschehen können.  
  Da nun dieses alles GOtt schon rechtfertigt, daß ihm um Erhaltung der sündigen Menschen willen die Ursache der Sünde nicht dürffe noch könne zugeschrieben werden; so wird dieses letztere um desto weniger geschehen können, wenn wir ferner erwegen, daß GOtt bey der Erhaltung der sündigen Menschen auch noch das Beste, nicht nur dieser, sondern auch anderer Menschen zum Zwecke habe. Er träget und erhält ein sündiges Volck um der Nachkommen willen, von denen er vorher gesehen, daß sie sich zu Christo bekennen würden, wie solches aus dem Exempel der Jüden erhellet. Siehe das IX Cap. des Briefes Pauli an die Römer.
  Noch ein Beweg-Grund, warum GOtt die sündige Creatur in ihrem Seyn erhalte, ist übrig, welcher nicht von einem geringen Gewichte ist. Wenn GOtt die Creatur, an welcher nichts mehr auszurichten, und die sich von der Sünde nicht mehr will zurücke ziehen lassen, vernichten, und nicht bey ihrer Erhaltung durch eine wohl verdiente Straffe seinen ernstlichen  
  {Sp. 21|S. 24}  
  Abscheu wider die Sünde beweisen wolte; so würden andere noch viel mehr gereitzet werden, entweder in der Sünde zu verharren, oder auch aufs Neue von GOtt abzuweichen. Denn da die Menschen so verderbet sind, daß sie eine kurtze und vergängliche Lust der Sünde ihrem ewigen Wohl vorziehen, ohngeachtet sie wissen, daß auf die Sünden ewige Straffe erfolgen werde; was würde sodann erst geschehen, wenn GOtt die sündige Creatur nicht erhalten und bestraffen; sondern vielmehr, nach einiger Lehre gar vernichten wolte? Da würden sie die größte Gelegenheit haben zu dencken, sie wolten nur immer, so lange sie könnten, in der Sünde fortfahren.  
  Es wäre ja eine Zeit gewesen, da sie nicht gewesen wäre; wenn sie nun in künfftiger Zeit wieder ein Nichts werden solten, so hätten sie zwar nichts Gutes zu hoffen, aber doch auch nichts Böses zu befürchten. So aber, da GOtt die Creaturen, ohngeachtet ihrer Abweichung von dem Schöpfer, ewig erhalten, und ewig bestraffen will; so kan solches der vernünfftigen Creatur, wenn sie nur recht nachdencken, und ihr ewig Bestes besorgen will, eine Anleitung geben, sich von der Sünde bey Zeiten loß zu machen, und, wenn sie davon befreyet ist, sich zu hüten, daß sie sich nimmer wieder in die Sünde einflechten lasse.  
  Wie nun aber hier in der Welt die Erhaltung und Bestraffung der Gottlosen den Frommen eine Warnung giebet, und wie die Erhaltung und Bestraffung der bösen Engel, den guten Engeln zur Warnung dienet; also wird auch die Erhaltung und Bestraffung der Gottlosen in der Ewigkeit den sündigen Menschen eine beständige Warnung seyn und bleiben, daß sie sich in alle Ewigkeit des Bösen nicht wieder gelüsten lassen. Und so zeiget sich denn hier abermahls eine hinlängliche Ursache: Warum GOtt die Bösen erhalte, und wie er deßwegen an ihrem bösen Sinne und Thun nicht Theil nehmen dürffe.  
     

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Stand: 30. März 2013 © Hans-Walter Pries