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Zedler: Sünde [3] HIS-Data
5028-41-1-7-03
Titel: Sünde [3]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 41 Sp. 21
Jahr: 1744
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 41 S. 24
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Hinweise:
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Übersicht

  [Arten der Sünde]
 
  Die Sünden wieder GOtt
  Sünden, die der Mensch wieder sich selbst begehet
  Die Sünden des Menschen wieder seinen Nächsten

Stichworte Text Quellenangaben
Arten der Sünde Nachdem wir untersuchet haben, daß keinesweges GOtt, sondern der Satan und an seinem Theile auch der Mensch selbsten die Ursache der Sünde sey; so wird es nöthig seyn der vielerley Arten und Classen der Sünden Erwehnung zu thun.  
erste Sünde Die Gottesgelahrten theilen die Sünde anfänglich in die erste Lat. Peccatum primum und in die aus der ersten entstandene Sünde Lat. Peccatum ex primo ortum oder Peccatum originis originans. Durch jene verstehen sie diejenige Sünde, durch welche die gut erschaffenen Engel von GOtt abgefallen, und sich in das ewige Verderben gestürtzet haben; durch die aber die Sünde unserer Eltern, durch welche der Fall derselben verursachet worden, von welcher der Artickel Sünden-Fall nachzusehen.  
Erb-Sünde Das aus dieser Sünde des ersten Menschen entstandene allgemeine Verderben aller Menschen nennen sie die Erb-Sünde, Lat. Peccatum originis, und unterscheiden von derselben die würcklichen Sünden, Lat. Peccata actualia. Von jener siehe den Artickel Sünde (Erb-).  
wirkliche Sünde Da die Sünde eine Abweichung einer vernünfftigen Creatur von dem Gesetz, oder von den moralischen Göttlichen Eigenschafften ist; so ist demnach eine Handlung, die in dem Menschen vorgehet, oder welche von dem Menschen äusserlich begangen wird, und die  
  {Sp. 22}  
  mit dem Gesetz nicht übereinstimmt, sündlich. Eine solche Handlung pfleget daher eine würckliche Sünde, Lat. Peccatum actuale, genennet zu werden. So mancherley die menschlichen Handlungen sind, die von dem Gesetze abweichen; so vielerley sind auch die würcklichen Sünden.  
Sünde durch Unterlassen Man kan von dem Gesetz abweichen, wenn man entweder dasjenige unterläst, was man thun solte; oder auch wenn man dasjenige thut, was man unterlassen solte. Jene Abweichung heisset peccatum omissionis, diese peccatum commisionis.  
  Daß man eine solche Abweichung vom Gesetz, welche durch eine Unterlassung dessen, was man nach dem Gesetze billig thun solte, begangen wird, mit unter die Classen der würcklichen Sünden setzet, solches scheinet zwar anfänglich der ordentlichen und natürlichen Bedeutung der Worte zu wider zu lauffen; ist aber doch dem Gebrauch im gemeinen Reden nicht zuwider. Wenn jemand bey gewissen Gelegenheiten etwas versäumet und unterläst, was er den Umständen nach billig hätte thun sollen; so saget man eben so wohl zu ihm: Du hättest das nicht thun sollen, als wenn er würcklich etwas gethan hat, so er billig hätte unterlassen sollen.  
  Doch dem sey wie ihm wolle, so bringet es nunmehro die allgemeine Gewohnheit also mit sich, daß die Unterlassungs-Sünden auch mit zu den würcklichen Sünden gerechnet werden. Wir haben nicht nöthig uns über blose Worte aufzuhalten; genug daß es eine ausgemachte Sache ist; daß es eben so unrecht sey, etwas, so das Gesetz fordert, zu unterlassen, als etwas würcklich zu thun, welches das Gesetz verbietet. Die Schrifft saget: Wer da weiß Gutes zu thun, und thuts nicht, dem ist es Sünde. Jacobi IV, 17.
  Und unser Heyland spricht: Der Knecht der seines Herren Willen weiß, und hat sich nicht bereitet, auch nicht nach seinem Willen gethan, der wird viele Streiche leiden müssen. Luc. XII, 47.
  Hat man denn wohl einen Knecht deßwegen, daß er im Hause nur nichts böses thun soll, und hält man es ihm zu gute, wenn er das unterläst, was ihm anbefohlen worden? Eben so wenig und noch vielweniger, kan es bey den Menschen als etwas gleichgültiges angesehen werden, wenn sie dasjenige unterlassen, wozu sie doch nach dem Gesetze verpflichtet sind. Wenn man den Befehl eines andern nicht ausrichtet, so thut man solches entweder aus Verachtung, weil man nicht glaubet, daß der andere in diesem Stücke uns zu befehlen habe; oder aus eingebildeter Klugheit, weil man denckt, daß man es besser verstehe; oder aus Nachläßigkeit, oder aus purer Bosheit.  
  Es mag nun die Ursache der Unterlassungs Sünde bey dem Menschen seyn, welche sie will; so ist sie höchst strafbar. Hat die Sünde der Unterlassung eine Verachtung GOttes zum Grunde, oder sie stammet aus einer eingebildeten Klugheit her, da der Mensch dasjenige, was GOtt geboten hat, gar nicht nöthig findet; so äussert sich der Hochmuth, da sich der Mensch GOtt an die Seite, oder wohl gar über GOtt hinüber setzet.  
  Ist der Mensch nachläßig im Guten, so ist es ein gewisses Kennzeichen, daß es ihm an der feurigen und ernsten Liebe zum Guten fehle. Unterlässet der Mensch das Gute gar aus pur lauterer Bos-  
  {Sp. 23|S. 25}  
  heit; so lieget vollends die Feindschafft wider GOtt am Tage. Und so erkennet man auf alle Weise, daß auch die Sünden der Unterlassung, so geringe sie auch anfänglich scheinen möchten, dennoch ein grosses Gewichte haben. Wenn der Mensch überhaupt das Gute unterlassen wolte, worzu wäre er denn in der Welt nütze. Er ist als eine vernünfftige Creatur verbunden, sich nach dem Muster und Exempel GOttes zu richten.  
  Was findet nun aber der Mensch an GOtt für ein Muster? Etwa, daß GOtt nichts Böses thut? Dieses hat bey dem allervollkommensten Göttlichen Wesen keine Statt. Er giebt uns darinne sonderlich ein Beyspiel, daß er beständig und lauter Gutes thut. So weichet denn der Mensch in so weit von dem Muster GOttes ab, so viel Gutes er unterlässet.  
  Hierbey entstehet die Frage welche unter diesen beyden Sünden-Arten für die schwereste zu halten sey? Überhaupt lässet sich nichts besonders darauf antworten, sondern man muß die Sache nach den Umständen erwegen. Öfters ist die Unterlassungs-Sünde für schwerer zu halten, als jene, da man dasjenige thut, was man unterlassen solte. Dieses ist hauptsächlich in 4 Fällen  
 
1.) je besser und nöthiger die Handlung ist, die man unterlässet;
2.) je boshaffter die Art und Weise der Unterlassung ist,
3.) je wichtiger die Folgerungen sind, welche durch die Unterlassungs-Sünde entstehen; und endlich
4.) je öffterer die Unterlassungs-Sünde begangen wird; desto schwerer.
 
  Wenn man aber nach der wesentlichen Beschaffenheit jener Sünde urtheilen will, so ist sie allerdings für schwerer zu erklären, weil diese Sünde, bey der man etwas thut, was verboten ist, auch zugleich und allezeit mit der Unterlassungs-Sünde verknüpffet ist. Denn indem man das thut, was verboten ist, so unterlässet man auch das gegenseitige Gute, welches man hätte thun sollen, und begehet also dadurch eine doppelte Sünde.  
  Der Mensch hat ein Natur-Gesetz, daß er die Wahrheit suchen, und das, was ihm seine Sinne vorstellen, nicht gleich für bekannt annehmen, sondern selbiges mit seinem Verstande recht beleuchten und beurtheilen soll. Es ist eine zwar mehrentheils unerkannte, aber gewiß sehr wichtige, und dem Menschen selbst sehr schädliche Sünde, wenn er solches unterläßt; und können hieraus nichts anders, als viele würckliche Sünden entstehen.  
  Wenn der Mensch der Wahrheit, sonderlich in Dingen, die das ewige Wohl betreffen, nicht nachspühret; so kan nichts anders darauf erfolgen, als daß er in mancherley Irrungen, und auf vielerley Abwege verfällt. Lässet er es in seiner Seelen bey den bloß sinnlichen Vorstellungen bewenden, und beurtheilet die Dinge, welche ihm sinnliche Empfindungen zuwege bringen, nicht gehörig; so wird er alle Augenblicke etwas böses und schädliches für gut und nützlich annehmen, und darüber in unordentliche Begierden, Affecten und Leidenschafften verfallen. Er wird dadurch verleitet werden, mehr auf das Gegenwärtige, als Zukünftige zu sehen, und mehr nach dem gegenwärtigen Gefühle, als wie es die wahre Beschaffenheit der Sache selbst mit sich bringet, zu handeln. Z.E. Man stelle sich einen Menschen vor, der einen Diebstahl be-  
  {Sp. 24}  
  gehet. Ein solcher Mensch weiß, daß der Diebstahl verboten sey; er weiß, daß diese Sünde in der Welt mit dem Tode bestraffet werde, und er hat auch verschiedene Exempel davon vor sich; ja noch mehr, er weiß auch, und hat zum öfftern gehöret, daß die Schrifft den Diebstahl mit unter die verdammlichen Sünden setze, und daß es heisse: Lasset euch nicht verführen, weder die Hurer, noch die Diebe, noch die Räuber, werden das ewige Leben ererben 1 Corinth. VI, 9. 10.
  Wie kommt nun gleichwohl ein solcher Mensch zum Diebstahl? Er siehet seines Nächsten Geld oder Gut vor Augen, oder stellet sich dasselbe in seinem Gemüthe vor. Es werden durch diese sinnliche Vorstellungen seine Begierden rege, daß er entweder sich so gleich der gegenwärtigen Gelegenheit bedienet, zugreifft, und des Nächsten Geld und Gut an sich nimmt; oder er fänget an in seinem Verstande zu überlegen, wie er es anfangen könne, daß er zu seinem Zwecke kommen, und das, was seines Nächsten ist, an sich bringe.  
  Hier brauchet er zwar seinen Verstand, aber zu spät, und anders, als er ihn hätte gebrauchen sollen. Er hat schon durch die blosse sinnliche Vorstellungen des Guts seines Nächsten sich blenden lassen, und es solchergestallt schon als etwas gutes voraus gesetzet, wenn er durch den Schaden seines Nächsten sich einen Vortheil zu wege bringen könnte; und darüber hat er das Verbot, und die auf die Übertretung folgende zeitliche und ewige Straffe aus den Augen gesetzet. Dagegen hätte er bey der ersten Vorstellung, da ihm etwas, als gut vorkommen, seinen Verstand zu rathe ziehen und recht überlegen sollen, ob es ihm auch wahrhafftig gut seyn werde, wenn er auf diese Weise etwas an sich brächte, was ihm nicht gehörete.  
  Ob er es auch noch so dann für etwas Gutes halten werde, wenn sein Diebstahl entdecket, und er darüber zur Straffe werde gezogen werden. Und wenn auch dieses nicht geschehen solte, ob denn der gegenwärtige Vortheil, den er sich zu schaffen vermeynet, auch wohl so wichtig sey, als der Verlust der Göttlichen Gnade und des ewigen Lebens. Und wenn er dabey gedencken möchte, er könne sich ja wohl bekehren, und seine Sünde GOtt abbitten; ob er denn seinen Diebstahl mit gutem Gewissen behalten könne, und da er denselben wieder erstatten müste, ob er denn von denselben den geringsten Vortheil noch haben und behalten würde.  
  Wenn der Mensch diese ernstliche Vorstellung in seinem Verstande sich machte, sobald seine sinnliche Vorstellungen ihm den Besitz der Habseeligkeit seines Nächsten, als eine angenehme Sache, vormahlen; so würde er zu der würcklichen That des Diebstahls sich unmöglich entschliessen können; und würden die Überlegungen, wie er seines Nächsten Geld und Gut an sich bringen könnte, bey ihnen keine statt finden. So aber bleibet der Mensch an den bloß sinnlichen Vorstellungen kleben, leget dieselben zum Grunde seiner innerlichen und äusserlichen Handlungen, und geräth darüber in die würckliche Sünde des Diebstahls.  
Sünden durch Handlungen Wir haben bisher von der Art der würcklichen Sünde, welche durch die Unterlassung des Guten begangen wird, gehandelt;  
  {Sp. 25|S. 26}  
  ietzo müssen wir zu derjenigen Art der würcklichen Sünder fortgehen, dadurch man etwas Böses begehet, und auf solche Weise von der Richtschnur des Gesetzes abweichet.  
innerliche Handlungen Es ist anders woher bekannt, daß zu den innerlichen Handlungen der Seele, was sonderlich den Verstand derselben anbelanget, gehöre, wenn der Mensch seine Gedancken und Überlegungen auf etwas richte, und von einer Sache ein würckliches Urtheil fälle. Hier findet nun abermahls eine Abweichung vom Gesetz, und folglich eine würckliche Sünde statt. Zwar, so lange der Menschen nichts anders thut, als daß er eine Sache in Überlegung und Erwegung ziehet, so weichet er dadurch so gar nicht von dem Gesetze ab; daß er vielmehr dasjenige beobachtet, wozu ihn sein Natur-Gesetz verbindet. Allein, wenn es bey ihm zu einem würcklichen Urtheil kommet, so dann kan er gar leichte von der Wahrheit, und von dem Gesetze abweichen, und sich versündigen.  
  Unser Heyland saget davon: Matth. XV, 19. Aus dem Hertzen kommen arge Gedancken; Eigentlich nach dem Grunde heißet es: Aus dem Hertzen kommen böse Urtheile und Schlüsse. Und bey dem Marco Cap. VII, 21. 22. thut unser Heyland hinzu: Aus dem Hertzen kommt Unvernunfft. Z.E. Der Mensch hat sich nur zu lauter sinnlichen Vorstellungen gewöhnet, und weiß von keinen andern Vergnügungen, als die ihm die sichtbaren Dinge dieser Welt zu wege bringen. Er handelt schon hierinne unvernünfftig wie ein Thier, das von keinen andern Vergnügen weiß, als was die blossen Sinnlichkeiten mit sich bringen; aber er beweiset noch mehr Unvernunfft, wenn er aus seinen bloß sinnlichen Empfindungen und Vergnügen Schlüsse machen will. Er hat etwa gehöret, daß ein GOtt seyn soll; er klebet aber nur an dem sichtbaren. Weil denn nun keinen GOtt siehet, und ihm über dem die Lehre, daß ein GOtt sey, eine unangenehme Empfindung macht, indem er so dann vieles unterlaßen müste, was er heimlich mit Vergnügen begehet; so spricht der Thor in seinem Hertzen: Es ist kein GOtt, Psalm XIV, 1.
  Ebenso gehet es mit allen Schlüssen, die der Mensch machet, wenn er sich zu den bloß sinnlichen Empfindungen gewöhnet hat, und nach denselben eine Sache, ob sie gut oder böse sey beurtheilet. Dergleichen Menschen Grund-Satz ist: Was mir angenehme Vorstellungen und Empfindungen machet, das ist gut; und was mir unangenehme Vorstellungen und wiedrige Empfindungen zu wege bringet, das ist Böse.  
  Was für eine unzählige Menge falscher und sündlicher Urtheile und Schlüsse entspringen nicht aus dieser vermeynten Grund-Wahrheit eines verkehrten menschlichen Hertzens? Und was für böse und sündliche Thaten veranlassen dieselbe nicht? Bey einem Freßer, und Säuffer und Hurer ist zugleich der Schluß da: Speise und Tranck und unzüchtige Wercke machen mir eine angenehme Empfindung, deßwegen mag ich fressen und sauffen und huren, so viel ich kan und will. Wenn es nun auch schon bey solchen falschen und argen Gedancken nicht allemahl zur würcklichen That käme, so sind doch alle solche verkehrte Schlüsse und Urtheile mit unter die würcklichen Sünden zu rechnen, indem sie eine würckliche Abweichung von den Re-  
  {Sp. 26}  
  geln des Gesetzes in sich faßen.  
  Zu den würcklichen Sünden im Verstande gehören auch diejenigen Bemühungen des Verstandes, wenn der Mensch damit umgehet, daß er etwas Böses erfinden möge. Wenn der Apostel den grossen Verfall der Heyden beschreibet, so nennet er sie unter andern v. 30. schädliche, oder in seiner Sprache eigentlich: Erfinder des Bösen. Hieher gehören alle diejenigen Menschen, von welchen die Schrifft saget: Daß sie mit Unglück schwanger gehen, daß sie aufs Blut lauren, und daß sie suchen Schaden zu thun.  
  Wenn die Menschen ihre Erfindungs-Krafft dazu anwenden, daß sie etwas nützliches aussinnen und zu wege bringen mögen, so ist ihre Bemühung allerdings löblich und Gesetzmäßig. Allein um desto verwerfflicher und sündlicher ist es, wenn diese an sich gute Krafft der Seelen aufs Böse gerichtet ist, und der Mensch in seinem Gemüthe damit umgehet, daß er etwas Böses und Schädliches, was weder mit der Liebe GOttes noch des Nächsten bestehen kan, erdencken möge.  
  Jonadab, Davids Bruder-Sohn, war ein sehr weiser Mann. Allein es war eine sehr gottlose Erfindung, als er dem Ammon an die Hand gab, wie er an seine Schwester Thamar kommen, und seine unzüchtige Begierden an derselben stillen könnte; wodurch er denn in diesem Stücke nicht so wohl eine wahre Weisheit, als vielmehr seine Arglistigkeit an den Tag legte. Solche und dergleichen Erfindungen, wenn sie auch gleich nicht zur Thätlichkeit kommen, sind doch eine würckliche Abweichung vom Gesetz, und gehören also in die Claße der würcklichen Sünden.  
  Von den würcklichen Sünden, die ihren Grund in dem Mißbrauch des Verstandes haben, kommen wir nun zu denjenigen Sünden, die eigentlich durch den Willen begangen werden.  
  Die Sünde ist eine Abweichung von dem Gesetz. So sündiget der Wille, wenn die Seele wider das Gesetz etwas würcklich erwehlet oder verwirfft, das ist, wenn sie dasjenige billiget, liebet und verlanget, was dem Gesetze zu wider ist; und im Gegentheil dasjenige verwirfft, missbilliget und verabscheuet, was das Gesetz erfordert. Wenn denn nun auch schon hier nicht allemahl eine äusserliche That und würcklicher Beweiß von dem, was im Hertzen verborgen ist, erfolget; so ist doch in der Seele selbst schon eine würckliche Abweichung von dem Gesetze vorgegangen, und GOtt, der da Hertzen und Nieren prüfet, siehet solche Abweichungen an, als eine würckliche That.  
  Um dieser Ursache willen waren die Juden, als sie bey sich selbst, ihren Willen drauf gesetzet hatten, daß sie Christum tödten wolten, in den Augen GOttes und Christi schon würckliche Mörder; Joh. VIII, 37. 40
  und Christus konnte von ihnen bey solcher Beschaffenheit ihres Hertzens sagen: Ihr thut euers Vaters Werck, und: Ihr seyd von dem Vater, dem Teufel, und nach euers Vaters Lust wollet ihr thun. Derselbe ist ein Mörder vom Anfang v. 44
  Wer seinen Bruder hasset, spricht die Schrifft, der ist ein Todtschläger. 1 Joh. III, 15.
  Wer ein Weib ansiehet, ihr zu begehren, der hat schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Hertzen. Matth. V, 28.
  Eine solche Bewandniß hat es mit allen verkehrten  
  {Sp. 27|S. 27}  
  Neigungen des Willens. Sind die sinnlichen Neigungen und Begierden verkehrt und unordentlich; so gehören sie in eben diese Classe. Wäre die Seele eines Menschen nicht vernünfftig, und könnte sich daher nach nichts anders, als nach den bloß sinnlichen Vorstellungen richten; so würden dieselben zu der Zahl der würcklichen Sünde nicht gerechnet werden können. Allein die Seele des Menschen ist ein Geist, und solten dahero die untern von den obern Kräfften billig beherrschet werden.  
  Wenn nun aber solches nicht geschiehet, oder, wenn durch die verkehrte Vorstellung des Verstandes, und durch die verkehrten Neigungen des Willens, auch verkehrte und unordentliche sinnlichen Neigungen und Begierden erwecket werden; so gehören diese letztere eben auch mit unter die würcklichen Abweichungen vom Gesetz; sintemahl das Gesetze mit dem gantzen Menschen zu thun hat, und will, daß alles bey demselben in seiner behörigen Ordnung seyn und bleiben soll.  
  Hieher gehören also alle unordentliche Begierden zur Ausübung der fleischlichen Lüste. Zwar eine sinnliche Begierde zu dem andern Geschlechte, ist an und vor sich selbst eben so wenig Sünde, als eine sinnliche Begierde zum Essen und Trincken. Denn beydes hat der Schöpffer selbst in die Natur des Menschen geleget; das letztere zur Erhaltung des Leibes und der Person des Menschen, das erstere aber zur Erhaltung und Vermehrung des menschlichen Geschlechtes. Allein, wenn in diesem Stücke sinnliche Begierden in dem Menschen entstehen, die mit der von GOtt gestiffteten Ordnung des Ehestandes nicht bestehen können; so sind dieselbe in so fern unordentlich, und eine würckliche Abweichung von dem Gesetze.  
  Hieher gehöret ferner der Zorn des Menschen, in so fern derselbe in unlautern und unordentlichen Gemüths-Bewegungen bestehet. In so ferne der Zorn nichts anders ist, als eine ernstliche Abneigung von dem, was Böse ist, gehöret derselbe zu den Willen. In so fern aber auch in der Seelen sinnliche Neigungen entstehen, um äusserlich durch Geberden, Worte und Wercke an den Tag zu legen, daß uns etwas mißfalle; gehöret der Zorn zu den sinnlichen Begierden und Affecten.  
  Wenn nun die Abneigung des Willens gerecht ist, und wenn die daraus entspringende sinnlichen Neigungen und Affecten, dadurch der innerliche Abscheu der Seele an einer Sache sich äusserlich zu erkennen giebt, sich weiter nicht erstrecket, als die Natur, und Beschaffenheit des Bösen es mit sich bringet, so ist ein solcher Zorn unsündlich. Der Apostel bestätiget dieses, wenn er saget: Zürnet, und sündiget nicht. Eph. IV, 26.
  Wenn aller Zorn des Menschen an sich selbst unrecht wäre, so müste er gesaget haben: Zürnet nicht, damit ihr nicht sündiget, oder: ihr müsset gar nicht zürnen, weil ihr euch sonst versündiget. Weil er aber seine Worte so fasset: Zürnet, und sündiget nicht, so giebt er allerdings dadurch zu erkennen, daß nicht eine iegliche Gemüths-Bewegung, die wir den Zorn nennen, an sich selbst sündlich sey. Hingegen, wenn der Zorn entweder wieder das Gute, oder wieder Unschuldige gerichtet ist, oder, wenn er das menschliche Gemüthe beunruhiget, und dasselbe in eine solche Verwirrung setzet, daß offte der Mensch nicht recht mehr weiß, was er thut; so heisset es: Des Menschen Zorn thut  
  {Sp. 28}  
  nicht, was vor GOtt recht ist. Jac. I, 20.
  Und hieher gehören endlich überhaupt alle unordentliche Lüste und Begierden. Weil diese einen Irrthum zum Grunde haben, indem sich der Mensch das Böse, als gut vorstellet; so bezeuget davon der Apostel, daß der Mensch durch Lüste in Irrthum sich verderbe. Eph. IV, 22.
  Wenn zwey unterschiedene und wiedrige Affecten sich mit einander vereinbaren, so wird eine Leidenschafft daraus. Z.E. Man liebet iemanden, und träget zu demselben eine gute Neigung, folglich freuet und vergnüget man sich über seinen Wohlstand. Wenn man nun etwas bey ihm antrifft, so man ihm für böse und schädlich hält; so erwecket solches bey uns Traurigkeit und Mißvergnügen. Und so entstehet bey uns diejenige Leidenschafft, welche wir Mitleiden zu nennen pflegen.  
  Im Gegentheil, wenn man jemanden hasset, und wieder denselben eine grosse Abneigung träget; so entstehet daraus ein Vergnügen, wenn es dem andern übel gehet. Wenn man nun nichts desto weniger etwas an ihm gewahr wird, so man für gut, nützlich und angenehm hält, so entspringet daher ein Mißvergnügen. Und dieses ist diejenige Leidenschafft, welche wir den Neid nennen.  
  Überhaupt gehören hieher alle diejenigen wiedrige und mißvergnügende Empfindung, welche bey einem Menschen entstehen, wenn man etwas ernstlich begehret, und von demselben ein sinnliches Vergnügen erwartet, und gleichwohl desselben nicht noch Wunsch theilhafftig werden kan. Z.E. Der Mensch suchet ein sinnliches Vergnügen in den Lüsten des Fleisches; es fehlet ihm aber die Gelegenheit dazu, so entstehet bey ihm eine Leidenschafft.  
  Wenn nun in solchen Leidenschafften nichts abweichendes von dem Gesetz sich findet, wie z.E. in einem liebreichen Mitleiden; so ist auch an denselben in so fern nichts sündliches. Wenn aber nun dergleichen Leidenschafften und Gemüths-Bewegungen etwas in sich fassen, welches sich mit dem Gesetze nicht reimet, wie wir an dem Neid gesehen haben; so sind dieselbe lasterhafft, und gehören zu den würcklichen Sünden.  
  Die äusserlichen Geberden eines Menschen sind eine solche Stellung des Leibes, dadurch die innerliche Beschaffenheit des Gemüthes und Hertzens ausgedrücket wird. Und so gehören sie zu den äusserlichen Handlungen, welche nach der Wahl und dem Verlangen der Seele geschehen. Wenn nun der Grund, woraus die Geberden entspringen, unrichtig und sündlich ist; so werden auch die Geberden zu einer würcklichen Sünde. Hohe Augen und hochmüthige Geberden hasset der HErr. Sprüchw. VI, 16. 17.
  Leute, so Augen haben voll Ehebruchs, und durch unzüchtige Geberden andere zur fleischlichen Lust reitzen, sind Knechte des Verderbens. 2 Petr. II, 14. 18. 19.
  Worte sind nichts anders als Ausdrückungen der Gedancken; wenn denn die Gedancken und Worte eine solche Verbindung mit einander haben, daß wir auch so gar, so lange wir unserer bewust, nichts anders als Worte gedencken können. Wenn nun die Worte von der Wahrheit und dem Gesetze abweichen, so gehören sie mit zu den würcklichen Sünden. Daher gedencket die Schrifft der schandbaren Worte und Narrentheidung, des faulen Geschwätzes und der Lügen Ephes. V, 4. Cap. IV, 24. 25.
  als  
  {Sp. 29|S. 28}  
  lauter sündlicher Wercke, davon sich die Menschen zu enthalten haben.  
äußerliche Handlungen Wir schreiten denn endlich zu den Handlungen fort, die in äusserlichen Wercken bestehen. Die äusserlichen Wercke der Menschen, wenn sie an und für sich selbst und ohne alle Umstände betrachtet werden, haben eigentlich keine Gesetzlosigkeit an sich, sondern können alle als gleichgültige Handlungen angesehen werden; wenn sie aber aus einem Grunde herfliessen, welcher mit dem Gesetze nicht übereinstimmet, so werden sie eben um deßwillen sündlich.  
  Der Mensch hat in der Welt mit verschiedenen Dingen zu thun; entweder mit Gott, oder mit sich selbst, oder mit seinem Nächsten, oder auch mit andern Creaturen. Und so kan sich denn der Mensch auch versündigen, entweder gegen Gott, oder gegen sich selbst, oder gegen seinen Nächsten, oder auch gegen andere Geschöpffe.  
  Es ist wohl wahr, daß alle Sünden, weil sie von dem ewigen und unveränderlichen Gesetz, das in GOtt ist, abweichen, auch wieder GOtt gehen; so kommen auch viele Fälle vor, da der Mensch sich zu gleich wieder sich und seinen Nächsten versündiget. Allein es dienet doch zu desto deutlichern Begriffen, wenn die Sünden jetztgedachter massen von einander unterschieden werden. Und so stellen wir uns denn zuerst  
  Die Sünden wieder GOtt  
  vor. Überhaupt wird wieder GOtt gesündiget, wenn man sich nicht gegen GOtt verhält, wie es die Beschaffenheit seines Wesens erfordert. GOtt ist ein ewiges, selbstständiges und schlechterdings nothwendiges Wesen. Er ist nicht allein würcklich vorhanden; sondern es ist auch unmöglich, daß er nicht da seyn solte. So hat er sich auch den Menschen zu erkennen gegeben nicht nur in dem Wercke der Schöpffung, sondern auch in der heiligen Schrifft; und zwar in beyden so deutlich, daß die Menschen keine Entschuldigung haben, wenn sie Gott nicht aus dem erstern, geschweige denn aus dem letztern erkennen. Rom. I, 19. 20.
  Da nun das Licht zum Erkänntniß Gottes da ist, so muß in dem Menschen eine Abweichung von dem Lichte, und folglich eine grosse Finsterniß im Verstande vorhanden seyn, wenn es an der Erkänntniß GOttes fehlet. Und so haben wir auch schon hier eine Art der Sünde, die wieder Gott begangen wird; wenn nehmlich Gott nicht erkannt wird, der da könnte und auch billig solte erkannt werden. Noch grösser ist die Sünde, wenn die Menschen nicht achten, oder sich nicht darum bekümmern, daß sie Gott erkennen. Hier ist eine Unterlassung, welche mit einer grossen Fahrläßigkeit verknüpffet ist.  
  Wenn nun die Nachläßigkeit zum Erkänntniß GOttes zu gelangen, schon eine Sünde ist; was wollen wir denn davon sagen, wenn Gott gar verläugnet wird. Dieses setzet wenigstens voraus, daß man wisse es werde von andern ein höchstes Wesen, als der Schöpffer, Besitzer und Beherrscher Himmels und der Erden erkannt und geglaubet. Wenn nun gleichwohl ein Mensch Gott verläugnet; so ist bey ihm keine blosse Unwissenheit, auch keine blosse Nachläßigkeit, sondern ein grosser Grad der Bosheit.  
  Der Mensch versündiget sich ferner an Gott, wenn er seinen Willen dem Willen  
  {Sp. 30}  
  GOttes nicht vollkommen unterwirfft, sondern demselben den Göttlichen Willen entziehet, oder sich gar ihm wiedersetzet. Eine vollkommene Unterwerffung des menschlichen unter den Göttlichen Willen erfordert, daß der Mensch sich alles gefallen lässet, was der Göttliche Wille mit sich bringet. Der Mensch kan sich hier auf eine dreyfache Weise versündigen. Entziehet der Mensch seinen Willen von dem, was Gott von ihm selbsten fordert, so ist die Versündigung gantz offenbar.  
  Richten wir unsere Augen auf dasjenige, was er selbsten thut, und thun will, so ist bekannt, daß der Göttliche Wille in der Natur vielfältig solche Würckungen hervorbringt, daß weder Menschen, noch andere Creaturen des Erdbodens daran etwas ändern können. Dahin gehöret z.E. Sonnen-Schein, Wind, Regen, Hagel, Schnee, Frost, Hitze und dergleichen. Alle diese Dinge kommen manchmahl dem Menschen, wie er es nach seinen besondern Umständen gerne haben möchte, zur Unzeit. Und da fänget sich denn an zu zeigen, wie weit der menschliche Wille dem Göttlichen unterworffen sey oder nicht. Wenn sich nun hierbey heimlicher Unwille, Unzufriedenheit, Ungedult und Murren wieder Gott reget; so ist solches schon eine Abweichung des menschlichen von den Göttlichen Willen, welcher der Mensch allerdings als sündlich an sich zu erkennen hat.  
  Eben eine solche Abweichung zeiget sich auch, wenn GOtt von andern bösen Menschen etwas uns schädliches und nachtheiliges geschehen lässet, welches der Mensch durch seine Vorsichtigkeit, und durch andere erlaubte Mittel nicht hat verhindern können.  
  Die Gottes-Lästerung ist gleichfalls eine Art der würcklichen Sünden, welche wieder Gott begangen werden. Sie bestehet darinnen, wenn etwas wieder die Ehre Gottes geredet und vorgenommen wird. Die Ehre, wenn man überhaupt von derselben redet, gründet sich in gewissen Vollkommenheiten eines vernünfftigen Wesens, und bestehet also darinne, wenn man so redet und sich bezeiget, wie es den Vollkommenheiten eines solchen Wesens gemäß ist. Folglich bestehet die Ehre, welche eine vernünfftige Creatur dem höchsten Wesen giebet, und zu geben verbunden ist, darinne, wenn sie also von GOtt redet, und sich dermassen gegen ihn beweiset, als es die Vollkommenheiten GOttes des höchsten Wesens erfordern.  
  Daraus wird nun klar, daß eine Gotteslästerung sey, wenn man Gott die gebührende Ehre nicht allein nicht erzeiget, sondern, und zwar vornehmlich, wenn man wieder die Ehre GOttes, und wieder seine Vollkommenheiten etwas redet und vornimmt. Ein Mensch also der da verächtlich und geringschätzig von Gott, seinen Eigenschafften, und seinen Wercken redet, der lästert GOtt.  
  Mit der GOtteslästerung kommt die Sünde der Abgötterey ziemlicher massen überein. Denn wie die erstere darinne bestehet, wenn man wieder die Ehre Gottes etwas redet oder vornimmt; also wird dieses letztere begangen, wenn man die Ehre die Gott allein gebühret der blossen Creatur beyleget.  
  Wir haben bisher von den würcklichen Sünden, die wieder Gott begangen werden gehandelt. Nun hat der Mensch in der Welt nicht nur mit GOTT, sondern auch mit  
  {Sp. 31|S. 29}  
  sich selbst zu thun, und so schreiten wir denn zu den  
  Sünden, die der Mensch wieder sich selbst begehet.  
  Der Mensch ist sich selbst die Liebe schuldig, das ist, er ist verbunden, sich als ein vernünfftiges Geschöpff anzusehen, und gegen sich selbst sich so zu betragen, wie ein vernünfftiges Geschöpff es verdienet, mithin sein eigen wahres Beste auf eine Gesetzmäßige Art in allen Stücken zu suchen. Wenn wir uns den Zustand des Menschen vorstellen, so können wir denselben betrachten, entweder nach seinem Wesen, oder nach seinen äusserlichen Umständen. Zu dem Wesen des Menschen gehöret Seele und Leib. Es ist eine ausgemachte Sache, daß die Seele viel edler sey, als der Leib. So beweiset demnach der Mensch eine Gesetzmäßige Liebe gegen sich selbst, wenn in der Liebe die Seele und derselben Bestes dem Leibe vorgezogen wird.  
  Hieraus können wir nun abnehmen daß der Mensch wieder sich selbst sündige, wenn er das wahre Beste seiner Seele hintansetzet, und das äusserliche Wohl seines Leibes demselben vorziehet. Der Mensch sündiget wieder sich selbst, wenn er im gemeinen Wesen solche Dinge begehet, dadurch er rechtmäßiger Weise in Schimpff und Schande, in Verlust seiner Güter oder Freyheit, oder auch seines Lebens selbst, gesetzet wird.  
  Der Mensch sündiget endlich wieder sich selbst, wenn er einen Mord an seinen eignen Leibe begehet. Denn wie er sich sein Leben nicht selbsten gegeben hat, und auch von dem Schöpffer zum Herrn seines Lebens nicht gesetzet ist, also ist auch nicht befugt, ihm selber das Leben zu nehmen.  
  Der Mensch ist nicht alleine in der Welt; sondern er findet an allen Orten seines gleichen, die ihrem Wesen und ihrer Natur nach mit ihm übereinkommen. Es sündiget daher der Mensch nicht nur wieder sich selbst, sondern auch wieder seinen Nächsten. Daher folgen  
  Die Sünden des Menschen wieder seinen Nächsten.  
  Die vornehmste Sünde, die der Mensch an seinem Nächsten begehen kan, ist, wenn er ihm durch Verführung seine Seele verdirbet, und dadurch, so viel an ihm ist, ins ewige Verderben stürtzet.  
  Ausser diesem kan sich ein Mensch an seinem Nächsten versündigen, wenn er theils ihm dasselbige entziehet was er ihm zu leisten nach der Liebe verbunden ist; theils auch, wenn er das an ihm thut, was er ohne Verletzung der wahren Liebe an seinem Nächsten nicht thun kan.  
  Der Mensch ist verpflichtet, auf des Nächsten Beste sein Auge mit zu richten, und dasselbe nach Möglichkeit mit zu besorgen. Daher schreibet der Apostel: Niemand suche alleine, was sein ist, sondern auch was des andern ist. Wenn nun der Mensch seinen Nächsten um deßwillen weil er etwa nicht so groß, reich und vornehm ist, als er, oder weil er meynet, daß er von ihm keinen sonderlichen Dienst und Nutzen wider erwarten könne, verachtet, und ihm in seiner Noth nicht beyspringet, da er solches doch wohl thun könnte, so heisset es: der Sünder verachtet seinen Nächsten Sprüchw. XIV, 21.
  Weil nun  
  {Sp. 32}  
  eine solche Verachtung, daraus die Unterlassung der Ausübung der Liebe gegen den Nächsten entspringet, eine Unbarmhertzigkeit zum Grunde hat; so ist auch dieselbe schon als eine heimliche und verborgene Sünde wieder den Nächsten anzusehen.  
  Nebst diesem versündiget sich der Mensch wieder seinen Nächsten, wenn er ihm frevelhaffter Weise an seinem Leibe, an seiner Gesundheit, an seinem Leben, oder sonst an seinen Gütern, und an seiner Ehre Schaden zufüget. Und da auch diese würckliche That in dem Hertzen des Menschen eine verderbte Neigung zum Grunde hat, in dem man dergleichen an Niemanden ausüben wird, wieder welchem man nicht mit unbefugtem Zorn, Haß, Feindschafft, Rachgier oder ungegründetem Argwohn eingenommen ist; so gehören denn alle diese Dinge abermahls mit zu der Classe, der Sünden wieder den Nächsten.  
Sünden wider Kreaturen Es ist noch eine Art der würcklichen Sünden übrig, die nehmlich wieder die unvernünfftige und leblose Creatur begangen wird. Gott hat zwar den Menschen zum Herren über die Creatur gesetzet; Gott bleibet aber deßwegen dennoch der oberste Herr und Schöpffer derselben, und hat die Creatur dem Menschen nicht solchergestalt in die Gewalt gegeben, daß er damit umgehen dürffte, wie er wolte; deßwegen Gott auch gleich im Anfange, und noch im Stande der Unschuld, dem ersten Menschen das Essen eines gewissen Baums untersaget hat, damit derselbe eine Erinnerung haben möchte, er müsse bey dem Gebrauch der Creaturen Gott beständig als seinen Oberherren ansehen.  
  So versündiget man sich denn an der Creatur, wenn man dieselbe bloß nach seinen verkehrten und ausschweifenden Begierden gebrauchet, oder vielmehr mißbrauchet. Der Gerechte, heist es, erbarmet sich auch seines Viehes, aber das Hertz der Gottlosen ist unbarmhertzig. Sprüchw. XII, 10.
  Es ist zwar das Vieh dem Menschen zum Gebrauch und Nutzen gegeben, und, wenn es die Noth erfordert, und der Mensch einen wahren Nutzen, den er sonst nicht erhalten kan, davon zu gewarten hat, so ist es keine Unbarmhertzigkeit, wenn auch einem Viehe auf gewisse Weise hart mit gefahren wird. Wenn aber der Mensch aus blosser Leichtsinnigkeit mit einem Viehe hart umgehet, so ist solches schon eine Art einer sündlichen und vor GOTT strafbaren Unbarmhertzigkeit.  
  Noch grösser ist das Verbrechen wenn mit dem Vieh unnatürliche Sünden getrieben werden, als worauf Gott einen besondern Fluch geleget hat
  • 5 Buch Mos. XVII, 21.
  • 2 B. Mos. XXII, 19.
  • 3 B. Mos. XVII, 23. cap. XX, 15, 16.
weitere Sünden Ausser jetzt angeführten Sünden kan auch jemand entweder wieder besser Wissen und Gewissen oder unwissentlich von dem Gesetze abweichen. Eine Sünde der Unwissenheit Latein. Peccatum ignorantiae, ist, wenn ein Mensch wieder das Gesetz handelt, ohne daß er dasselbe inne wird, oder daran gedencket. David saget davon: Wer kan wissen, wie offt er fehlet? Psalm XIX, 20.
  Man solte zwar meynen, daß eine solche unwissentliche Sünde nicht so gar viel auf sich hätte; allein sie zeuget bey dem Menschen von einem sehr grossen Verderben. Denn einmahl, da der Mensch im Stande ist,  
  {Sp. 33|S. 30}  
  unwissentlich Böses zu thun, so ist solches ein Zeichen, daß er nicht allemahl recht auf seiner Hut sey; da es doch mit zur Vollkommenheit gehöret, sich bey seinen Handlungen seiner bewust seyn. Überdem muß derselbe, der auch unwissentlich sündiget, schon eine grosse Fertigkeit zum Bösen besitzen, indem er nicht lange überlegen darff, wie er etwas Böses ausrichten wolle, sondern solches gantz natürlich ist.  
  Wenn nun die Sünde der Unwissenheit schon ihr Gewichte hat; was wollen wir denn von solchen Sünden sagen, die wider besser Wissen und Gewissen begangen werden. Der Mensch weiß, was er thut, er weiß auch, daß er dem Gesetz zuwider handelt, und dennoch thut ers. Dieses letztere kan nicht geschehen, ohne daß der Mensch die Sünde liebet und in dieselbe williget.  
  Es sind Sünden, die mit Willen und Vorsatz begangen werden, wissentliche Sünden, Lat. Peccata voluntaria, Proaeritica, malitiae, voluntatis deliberatae, peccata contra conscientiam, und sind auch Sünden, die aus Übereilung und ohne eine völlige Einwilligung geschehen, Schwachheits-Sünden, Lat. Peccata involuntaria, infirmitatis.  
  Die erstere sind zwar viel grösser als die letztere; aber diese sind doch auch nicht geringe. Denn sie zeugen von einem unordentlichen und gewaltsamen Affect, welcher noch in dem Menschen verborgen ist, und davon der Mensch billig frey seyn solte, wenn sein Hertz und Sinn ein würcklicher und vollkommener Abdruck des Gesetzes wäre.  
  Der Mensch kan aus Übereilung eben so viel böses und schädliches thun, als etwa von einem andern mit rechtem Vorsatze geschehen möchte. Ein Mensch, der in der ersten Hitze und ohne vorhergegangene Überlegung, einen erschläget, thut an dem andern eben das, was ein anderer etwa mit genugsamer Überlegung thun möchte. Und daher können auch die Sünden der Übereilung nicht für Kleinigkeiten gehalten werden.  
übrige Sünden Die Benennungen der übrigen Sünden-Arten haben ihren Grund theils in den sündigenden Personen, theils ausser denselben. Und auf solche Weise werden die Sünden der Wiedergebohrnen, welche von ihnen entweder aus Schwachheit oder Übereilung würcklich begangen worden, erläßliche Sünden, Lat. Peccata venialia, genennet, nicht etwa aus diesem Grunde, als ob sie an und vor sich erläßlich wären, und die ewige Verdammniß nicht verdieneten; sondern weil selbige von den Wiedergebohrnen, sobald sie begangen werden, auch so gleich wieder bereuet werden, und ihnen Krafft der Zueignung des Verdienstes JESU nicht zugerechnet werden; da hingegen die Sünden der Unwiedergebohrnen Tod-Sünden, Lat. Peccata mortalia, genennet werden, weil sie von denselben nicht bereuet werden, und also den geistlichen und ewigen Tod nach sich ziehen.  
  Die wissentlichen Sünden werden wieder in herrschende, Lat. Peccata regnantia, und nicht herrschende Sünden, Lat. Peccata non regnantia, eingetheilet. Jene werden deswegen also genennet, theils, weil sie aus einer blossen Gewohnheit zu sündigen entstehen, da sich ein Unwiedergebohrner angewöhnet hat, bald wider dieses, bald wider  
  {Sp. 34}  
  jenes Gebot zu sündigen, theils, weil diese oder jene Sünde von dem Sünder mit Willen und Vorsatz öffters wiederholet wird, und mit einem rechten Verlangen, die selber noch mehrmahls zu begehen, verknüpffet ist.  
  Eine herrschende Sünde kan auch eine solche genennet werden, welche in andern Ausdrückungen auch eine Schoß-Sünde genennet wird, welcher man vor allen andern gantz besonders ergeben ist, und von welcher die übrigen sündlichen Handlungen gleichsam dependiren. Z.E. bey einem Geitzigen ist die herrschende Sünde der Geitz. Ein solcher Mensch wird alle seine Handlungen also einrichten, daß sie seiner Haupt-Neigung nicht zuwider lauffen, sondern dieselbe vielmehr befördern, sie mögen nun offenbahre Abweichungen von dem Gesetze seyn, oder nicht.  
  Mit den Nahmen der nicht herrschenden Sünden werden diejenigen beleget, welche sich dann und wann bey den Wiedergebohrnen hervor thun, aber in ihnen nicht die Oberherrschaft erhalten können.  
  Wenn jemand zu einer Sünde, oder zu durch deren Fortsetzung etwas beyträget, oder billiget, der handelt wider das Gesetz und sündiget. Daher sind ausser den eigenen Sünden, Lat. Peccatis propriis, auch fremde Sünden, Lat. Peccata aliena, peccata participata. 1 Tim. V, 22.
  Man kan sich fremder Sünden theilhafftig machen antecedenter, da man entweder Ärgerniß giebt, die Sünde, da es möglich ist, nicht verhindert, den andern nicht bessert; oder durch Rathen, Befehlen, Zwingen, oder Verschaffung der Gelegenheit zu sündigen; und consequenter, durch Vergnügen, Nachahmung, Vertheidigung, Unterlassung und Verhinderung die Sünde abzuschaffen.  
  Schreyende Sünden, Lat. Peccata clamantia, heissen in der heiligen Schrifft diejenigen, welche ihrer Grösse und Abscheulichkeit wegen die augenblickliche Rache GOttes nach sich ziehen, und daher scheinen gleichsam zu GOtt um die Vergeltung des Bösen schreyen. Sie werden in den nachfolgenden Verse begriffen:  
  Clamitae ad Coelum vox Sanguinis et Sodomorum
Vox oppressorum, merces detenta laborum,
 
     

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HIS-Data 5028-41-1-7-03: Zedler: Sünde [3] HIS-Data Home
Stand: 7. April 2013 © Hans-Walter Pries