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Zedler: Wissenschafften [5] HIS-Data
5028-57-1399-1-05
Titel: Wissenschafften [5]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 57 Sp. 1433
Jahr: 1748
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 57 S. 730
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Übersicht
Geringe Anzahl derer, so die Wissenschafften recht gelernet.
Art und Weise, wie man zur Wissenschafft gelangen könne.

Stichworte Text  Quellenangaben
  Geringe Anzahl derer, so die Wissenschafften recht gelernet.  
  Wer von der Beschaffenheit der Wissenschafften, oder auch derer, die sich darauf legen, keinen gnugsamen Begriff und Einsicht hat, der wird daher schwerlich glauben und sich überreden lassen können, daß zwar eine unzehliche Menge Menschen in dem Reiche der Wissenschafften anzutreffen; gleichwohl aber, wenn man denen meisten ungeheuchelt nach dererselben Beschaffenheit unter die Augen leuchtet, klagen müsse, daß die wenigsten ihre Wissenschafften recht gelernet haben, und also den Nahmen der Gelehrten mit Recht nicht behaupten können. Wir haben nicht zu viel gesprochen, da wir gesagt haben, daß in dem Reiche der Wissenschafften eine grosse Menge angetroffen werde. Denn wer die Lehrenden nach allen Facultäten und Profeßionen, nach allen Reichen und Ländern, nach allen Universitäten und Academien zusammen rechnen wolte, was würde der nicht vor eine entsetzliche Summe heraus bringen. Einen schönen Discours lesen wir davon in den Gedancken über die Journals T. I. p. 192. seq. 276. seq.
     
  Art und Weise, wie man zur Wissenschafft gelangen könne.  
  Wer seinen Verstand recht zu gebrauchen weiß, wird alles dasjenige, so andere vor ihm erfunden, und daran andere auch noch nicht gedacht, von sich selbst können heraus bringen. Weil wir den Saamen aller Wissenschafften bey uns haben, wenn wir nur das Vorurtheil ablegen, daß wir uns nicht allzu wenig zutrauen. Ob wir nun gleich Wissenschafft von Wahrheiten vor uns erlangen können, so wäre es doch eine grosse Thorheit, wenn wir uns nicht derer erfundenen bedienen wolten. Denn da unser Leben ohne diß kurtz genung ist, würden wir uns selbst noch hemmen, wenn wir alles selbst zu erfinden ge-  
  {Sp. 1434}  
  dächten.  
  Wir müssen uns bemühen immer weiter zu gehen, als unsere Vorfahren gegangen sind, und daher ist die gelehrte Historie in derjenigen Wissenschafft, in welcher wir uns vollkommener machen wollen, eine grosse Hülffe. Denn durch sie wissen wir, was von andern erfunden, wie die erfundenen Sachen nach und nach vermehret und verbessert worden, was zur Erfindung Gelegenheit gegeben, u.s.w. sonst müsten wir die Zeit und Mühe vergebens zubringen, weil wir manches erfinden würden, daß andere schon bereits erfunden haben. Wenn man aber etwas entdecken und also von einer Sache Wissenschafft erlangen will, muß man nicht allein die Fertigkeit besitzen, wie man eine Sache erfinden soll, sondern auch eine Erkenntniß haben von demjenigen, so man erfinden will.  
  Denn wenn man den aller geschicktesten Logicum fragte, ob die Erfindung des Goldes durch menschliche Würckungen möglich sey oder nicht, würde er einem nicht gründlich darauf antworten, und die Möglichkeit oder die Unmöglichkeit hiervon demonstriren können, wenn er nehmlich in der Kunst die Metalle aufzulösen nicht bewandert ist, und von den hierzu dienlichen Sachen klare, deutliche und vollständige Begriffe hätte. Fragt man einen sehr erfahrnen Chymicum, der aber kein scharffer Logicus dabey ist, so wird auch dieser keine gründliche Antwort hierauf geben können, wie sich denn die Herren Chymici weidlich deswegen herum zancken und pro und contra darüber disputiren. Hingegen ein Chymicus, der lange Zeit darauf gesonnen, in metallischen Sachen eine grosse Erfahrung hat, viele Jahre gearbeitet und dabey gründlich zu schlüssen und zu urtheilen weiß, wird vermögend seyn, durch unumstößliche Gründe zu zeigen, daß die Erfindung des Goldes entweder möglich, wahrscheinlich, oder unmöglich sey.  
  Es ist zwar gewiß, daß die mathematische Auflösungs-Kunst (Analytica) unvergleichliche Regeln zeigt, Wahrheiten zu erfinden, wie solches von den Herren Mathematick-Verständigen in ihren Schrifften zur Gnüge gezeiget worden. Doch kan man mit derer Herren Algebraisten Erlaubniß behaupten, daß derjenige, der da weiß, wie er zu klaren, deutlichen und vollständigen Begriffen gelangen soll, sich gewöhnet hat, nicht ohne Grund anzunehmen, sondern alles unmittelbar mit einander zu verknüpfen; in denen Wissenschafften, dazu er Lust hat, und denen er stets nachsinnet, alles dasjenige, so in derselben Wissenschafft durch menschlichen Verstand zu erfinden möglich ist, ohne Hülffe der Algebra heraus bringen könne: hingegen der allersinnreichste Mathematicus mit seinem gantzen Algebraischen Vorrath in der Wissenschafft, darauf er sich nicht mit Ernst applicirt gehabt, nichts erfinden könne. Derjenige aber, so die Regeln der Analytick verstehet, und in andern Sachen eben die Erkenntniß hat, kan, wenn das übrige dabey ist, eine Sache, die ein anderer durch viele Umwege suchen und durch langes Nachsinnen heraus bringen muß, auf eine geschwindere und leichtere Art inventiren, denn er ist im Nachdencken geschickter und hurtiger, weiß die Gründe besser mit einander zu verknüpfen, ohne einen  
  {Sp. 1435|S. 731}  
  Sprung zu machen, und ist von grösserer Tiefsinnigkeit, als ein anderer, der richtig demonstrirte Wahrheiten nicht so fleißig überdacht als ein Mathematicus.  
  Es ist gantz falsch, wenn sich die Menschen einbilden, daß nichts mehr zu erfinden übrig sey. Denn gleichwie im vorigen Jahrhunderte viele Sachen entdecket worden, welche unsere Vorfahren fast vor unmöglich hatten gehalten; Also ist kein Zweifel, daß unsere Nachkommen einstens viel Sachen wissen werden, die uns gäntzlich unbekannt sind, und darüber viele jetzund erstaunen würden. Baco de Verulamio hat gar recht, wenn er saget, daß die meisten Künste und Profeßionen nur dem ungefähren Zufall ihren Ursprung schuldig wären, und wenn die Menschen sich bemüheten, die Erfindung hiervon in Regeln zu bringen, so würden wir darinne viel weiter Progressen machen können, als noch bishero geschehen ist.  
  Wenn wir urtheilen, verknüpfen wir wenigstens zwey Begriffe mit einander oder trennen sie von einander, nehmlich den Begriff des Dinges, von welchem wir urtheilen und den Begriff dessen, was ihm zukommen oder nicht zukommen soll. Wenn nun diese zwey Gedancken so beschaffen sind, daß der andere nothwendig statt findet, wenn man den ersten heget, oder daß ich das andere nothwendig gedencken muß, wenn ich von einem Dinge das erste gedencke, so stimmen meine Gedancken mit einander überein: Kan ich aber das andere von einem Dinge unmöglich gedencken, wenn ich nur das erste von ihm gedencke, so streiten meine Gedancken mit einander und einer widerspricht dem andern.  
  Wenn wir bey uns gedencken, daß etwas sey oder seyn könne, und es ist oder kan seyn, so nennen wir unsere Gedancken wahr, hingegen wenn wir etwas unmögliches vor möglich annehmen, nennen wir sie falsch; wenn aus ungewissen etwas geschlossen wird, ungewiß; und wenn wir einen Theil der Gewißheit erkennen, wahrscheinlich. Wollen wir die erfundenen Wahrheiten ordentlich mit einander verbinden und andern vortragen, so gehöret eine geschickte Methode darzu und ist nicht zu läugnen, daß, wie in allen Sachen, also auch hierinnen eine gute Ordnung gar nöthig sey. Daß man aber ohne die Materie gewisse Regeln von der Lehrart geben und sie in die Synthetische und Analytische eintheilen will: hält der Herr von Rohr in dem unten anzuführenden Buche vor gelehrte Schulfüchsereyen und ist nach seiner Meynung eben, als wenn ein Schuster nach einem Leisten allen Leuten Schuhe machen wolte, die vor iede solten gerecht seyn, ohne ihnen das Maaß dazu zu nehmen.  
  Es ist nicht mehr als eine Methode, nemlich die natürliche und die die Herren Mathematici bisher eintzig und allein, wiewohl einige in der Ubermaasse angewendet. Solche bestehet nun hierinnen, daß man alle Wörter und Sachen soviel als möglich wohl erklärt, alles richtig beweiset, nichts mit herein bringet, so sich zur Sache nicht schickt, und die Sachen vorträgt, wie sie entstanden, oder am natürlichsten aus einander fliessen. Das übrige ist willkürlich und hat man die Freyheit  
  {Sp. 1436}  
  nach dem Unterscheid der Materien die Sachen zu tractiren, wie man will. Dasjenige, was ietzo ausgeführt worden, betrifft fürnehmlich die Erfindung der Wahrheit, davon niemand in Abrede seyn kan, daß sie zu Erlangung der Wissenschafft höchst zuträglich sey.  
  Nunmehro wollen wir specieller zeigen, wie man die Wissenschafften erlangen soll. Es geschieht dieses auf viererley Art, nehmlich  
 
  1. durch die Bücher,
  2. durch eigenes Nachsinnen,
  3. durch Unterrichtung und
  4. durch die Erfahrung.
 
1. Bücher Bey den Büchern hat man sich in acht zu nehmen, daß man keinem eintzigen Buche traue, sondern selbst untersuche, ob die Sachen, die man in den Büchern antrifft, sich in der That so verhalten oder nicht. Wenn man in den Schrifften auch derer gelehrtesten und berühmtesten Leute einige Fehler antrifft, soll man das Vorurtheil des menschlichen Ansehens ablegen. Christliche, verständige und tugendhaffte Lehrer werden ihren Zuhörern allezeit die Vermahnung geben, daß sie die Bücher, die sie geschrieben, mit der grösten Schärffe sollen durchgehen, und nachsinnen, ob alles auch in der Natur der Sachen gegründet sey? Unverständige Lehrer aber, die da wissen, daß durch eine genaue Untersuchung ihrem Ruhme, den sie durch ihre Schrifften vermeynen erlangt zu haben, werde Schaden geschehen, lassen solche Erinnerungen unterwegens.  
  Man lese nicht gar viel, sondern meditire mehr, auch nicht viel Bücher unter einander, vornehmlich, wenn man eine Wissenschafft nur anfängt. Denn weil ein ieder gemeiniglich andere Gründe und eine andere Lehrart hat, so kan man durch so vieles Lesen, wenn man in der Haupt-Sache noch nicht gegründet ist, leichte irre werden. Ist man in der Haupt-Sache gesetzt, so kan es nicht schaden, wenn man andere Bücher mit dabey lieset, jedoch ist nicht zu rathen, die Bücher gantz von Anfang bis zum Ende durchzulesen, denn man kan doch nicht alles behalten; sondern es ist schon genung, wenn man sie durchlauft, und dasjenige heraus sucht, was zu unserer Absicht dienet. An eines aber muß man sich gewöhnen, und da wohl zu sehen, daß man das Beste trifft, u. lasse man sich, weil man zu Anfang den Verstand nicht hat zu wählen, welches das Beste sey, von einem gelehrten und aufrichtigen Mann eines vorschlagen.  
  Wenn du Bücher kaufst so schaffe dir nicht sowohl weitläufftige Systemata und grosse Bücher an, als solche, die besondere Materien ausgearbeitet. Denn zum ersten vergreiffen sich in den Buchläden solche kleine Tractätgen leichter, und werden rar, da hingegen grosse Bücher wohl liegen bleiben; und zum andern sind in einer so kleinen Schrifft die Materien gemeiniglich viel besser und gründlicher vorgetragen, als in einem grossen und weitläufftigen Folianten. Doch sind grosse Bücher auch nicht stets zu verwerffen und kleine Bücher nicht zu loben, sondern man muß den Verfasser und andere Umstände in Erwegung ziehen. Aus dem Grunde recommendiret  
  {Sp. 1437|S. 732}  
  man auch die Disputationes, welche man sich nach und nach vor ein leichtes Geld anschaffen kan.  
  Wenn du ein Buch lesen wilst, so ließ vornehmlich die Vorrede, denn du triffst in derselben gemeiniglich den Grund-Riß des Buches an, du siehest daraus die Bewegungs-Gründe, warum der Verfasser das Buch, und andere Dinge mehr, so dir zu wissen gar nöthig und nützlich sind; hernach das Register, als aus welchen du die Materien, so in dem Buche abgehandelt, erkennen kanst. Endlich lauf das gantze Buch durch und ließ diejenigen Materien, die du am besten verstehest, so kanst du leicht wissen, wie die übrigen ausgearbeitet, und du bist vermögend, von dem gantzen Buch ein geschicktes Urtheil zu formiren.  
  Unterlaß nicht einige Journale zu lesen, so von den Schrifften derer Gelehrten urtheilen und deren heutiges Tages in grosser Menge heraus kommen, denn du kanst aus demselben bisweilen von allerhand Büchern eine ziemliche Nachricht und ein gutes Licht bekommen; doch traue auch nicht allezeit ihren Urtheilen, sondern bediene dich deines eigenen Nachsinnens darbey und untersuche, inwieweit ihr Urtheil gegründet oder nicht, weil öffters Partheylichkeit dabey mit unterlaufft und ein gebunden Exemplar des Verfassers an den Recensenten ein gutes Urtheil bisweilen auszuwürcken vermögend ist.  
  Es ist nicht undienlich diejenigen Schrifften zu lesen, so zur Erklärung des Buchs, daran du dich gewöhnen wilst, geschrieben sind, als Noten, Commentarios u.s.w. weil du in denselben vieles erkläret antreffen wirst, darüber du sonst lange Zeit zubringen müstest, ehe es durch eigenes Nachsinnen heraus brächtest. Doch must du dich bey denen Streitigkeiten nicht lange aufhalten, sondern nur dasjenige heraus suchen, so zur Erklärung des Buches dienlich. Der Weg die Wissenschafften durch die Bücher zu erlangen ist wohl am geschwindesten, denn du kanst aus den Büchern in kurtzer Zeit lernen, darzu sonst vieles Nachsinnen und lange Erfahrung erfodert würde.  
2. Nachsinnen Der andere Weg die Wissenschafften zu erlangen ist durch Meditiren oder eigenes Nachsinnen. Wir wollen mit wenigen in so weit es zu unserer Absicht dienlich unsere Gedancken hierüber eröffnen. Was man durch eigene Meditation heraus bringet, weiß man zwar am gründlichsten und genauer, als was man von andern Leuten gelernet. Allein es ist auch durch einen Umweg gegangen, wenn man eine Wissenschafft durch eigenes Nachsinnen penetriren will. Am besten ist es, wenn das Nachsinnen mit den Büchern und der Unterrichtung vereiniget wird. Zum Nachsinnen wende vornehmlich die Früh-Stunden an, weil da das Gemüthe am besten aufgeräumt ist, aber meditire nicht nach der Mahlzeit, weil durch die zerstreueten Lebens-Geister die Dauung verhindert wird, ingleichen auch nicht bey der Schlafens-Zeit, denn du hierdurch an der Ruhe gestört und das Gemüthe geschwächt wird.  
  Hänge denen Gedancken nicht länger als eine oder zwey Stunden nach und nimm alsdenn zu deiner Veränderung und Gemüths-Erquickung etwas anders vor. Da auch alles seine Zeit hat, so hüte dich, daß du nicht, wie einige Speculativische  
  {Sp. 1438}  
  Köpffe zu thun pflegen, meditirest, wenn du in Gesellschafften bist, denn du machst dich hierdurch bey den Leuten lächerlich, sondern sey Herr über deine gelehrte Gedancken. Es liegen zwar nach der Meynung einiger Weltweisen, die Ideen aller möglichen Dinge in unserer Seele vergraben, die man durch fleißiges Nachsinnen herausbringen kan. Doch ist auch gewiß, und wird durch die Erfahrung bestätigt, daß einer immer eine geschicktere Fähigkeit zur Erfindung dieser oder jener Wissenschafft in seiner Seele habe als der andere.  
  Denn es hat der allweiseste Schöpffer, wie in andern Stücken, also auch hierinnen die Gaben unterschiedlich ausgetheilet. Wenn alle Menschen zu gewissen Wissenschafften gleiche Geschicklichkeit und Lust hätten, würden einige gar nicht exerciret werden. Wer durch eigenes Nachsinnen in den Wissenschafften glücklich fortgehen will, muß durch die wahre Vernunfft-Lehre oder Mathematick eine gute Methode in Kopf bekommen haben, wie er aus bekannten Wahrheiten unbekannte heraus ziehen, ingleichen die Sachen in einer unzertrennten und beständigen Verknüpffung mit einander verbinden soll.  
  In manchen Wissenschafften haben eigene Gedancken bloß und allein gar nicht statt, sondern sie müssen andere Wahrheiten zu ihrem Grunde haben, vermöge welcher man durch vernünfftige Schlüsse und Folgerungen nur immer mehr heraus zieht. z.E. In der Gottesgelahrheit muß die Heilige Schrifft der Grund seyn, sonst läufft es auf schwärmerische Offenbahrungen und fanatische Einbildungen hinaus.  
  Ingleichen werden in der Rechts-Wissenschafft, da in Ansehung der Rechtssprechenden und das Recht vortragenden Juristen die bekanntgemachten Gesetze der Grund seyn müssen, die eigenen Gedancken, sie mögen so scharffsinnig seyn als sie wollen, nicht angesehen, wenn sie den Lands-Gesetzen und Verordnungen zuwider sind. Aber bey der Artzeney-Kunst wäre wohl zu wünschen, daß die Herren Ärtzte durch genaue und scharffsinnige Betrachtungen dieselbe auf gründlichere Grund-Sätze baueten, und von denen Lehr-Sätzen des Galeni und Hippocratis, als deren Weltweisheit auf schlechten Gründen stehet, fast gantz abgiengen.  
3. Unterricht Der dritte Weg gelehret zu werden, ist durch mündlichen Unterricht. Dieses aber wiederum auf unterschiedene Weise. Entweder die Lehrer bringen einem etwas bey, durch blosse Discourse, indem sie über anderer Leute Bücher lesen und dieselbe erklären oder über ihre eigene, oder indem sie ihre Gedancken ihren Zuhörern in die Feder vorsagen. Der Weg, in Unterredungen einem etwas beyzubringen, ist bloß vor Leute, die vor dem Studieren einen Eckel haben, sich nicht die Gedult nehmen können, in Büchern zu lesen oder mit Aufmercksamkeit einen Lehrer ein oder etliche Stunden anzuhören, sondern gleichsam im Spielen und ohne Mühe gelehrt werden wollen.  
  Nun ist es zwar einerley, ob man einem Lehrer in einer ordentlichen Vorlesung eine Zeitlang mit Aufmercksamkeit zuhöret, oder ob man die Sachen durch Discourse in Kopf bekömmt, aber es wird lange Zeit erfordert, auf solche Art etwas zu lernen, denn der Lehrende muß viele andere Worte in  
  {Sp. 1439|S. 733}  
  seinen Unterredungen vorbringen, nur damit er Gelegenheit habe, etwas von den Wissenschafften, so er dem andern beybringen will, mit einfliessen zu lassen. Überdieß gehöret ein sehr geschickter Lehrer darzu, der die Sachen in einer guten Ordnung vorzutragen wisse, und bestehet das vornehmste Kunststücke, wenn ein Lehrender solche Leute vor sich hat, darinnen, daß er ihnen richtige und wenige Grund-Sätze giebt, und zeigt, wie sie aus solchen viele Schluß-Sätze vor sich selbst ziehen können; ingleichen alles so deutlich und leichte vorträgt, als nur möglich ist, und in seinem Vortrage sich der gewöhnlichen und solchen Leuten bekannten Redens-Arten bedienet, hingegen alle gelehrtklingende und Schulfüchsische Wörter, soviel er seyn kan, vermeidet.  
  Endlich muß er auf die Anwendung kommen, und nach eines ieden Beschaffenheit weisen, was sie von diesen ihnen beygebrachten Wissenschafften im menschlichen Leben vor Nutzen zu erwarten haben; denn der Bewegungs-Grund, der vom Nutzen hergenommen wird (argumentum ab utili), ist am kräfftigsten die Leute zu etwas anzufrischen. Es versehen es aber die meisten Lehrer hierinnen, weil die wenigsten selbst wissen, was diese oder jene Wissenschafft dem menschlichen Leben vor Nutzen schafft; und sind wir versichert, daß manche Standes-Personen es in ihren Wissenschafften viel weiter würden gebracht haben, wenn ihre Lehrer nicht selbst Schuld daran gewesen und ihnen allzu pedantische Sachen in einer ungeschickten und albern Lehrart vorgebracht hätten.  
  Herr Wagenseil hat von der Belehrung eines Printzen, so vor allem Studieren einen Abscheu hatte, ein Buch geschrieben; er zeiget darinnen, wie man einem Printzen, der zum Kriege, zur Jägerey oder zu Wollüsten nur Lust hat, allerhand nützliche Wissenschafften im Spielen gleichsam beybringen könne. Herr von Rohr urtheilet davon, daß ob er gleich in einem und andern gar gute Gedancken und artige Sachen vortrage, dennoch kein Zweifel wäre, daß man diese Materie auf eine gründlichere und mehreren Nutzen bringende Lehrart, als des Herrn Wagenseils seine ist, vortragen könne.  
  Wenn man die Leute durch Unterredungen unterrichten will, muß man sich sonderlich bemühen, daß sie die Sachen mit Verstande lernen, und es nicht bloß auf das Gedächtniß ankommen lassen. Denn weil solche Leute nicht das gelernte zu wiederholen pflegen, müssen sie die Sachen fein ordentlich, wie sie am besten aus einander fliessen und mit einander verknüpft sind, in Kopf bekommen, denn ihnen sonst dasjenige, was sie gelernet, nicht viel helffen wird.  
  Ferner hat ein Lehrer bey solchen Leuten auch dahin zu sehen, daß er ihnen zu der Zeit, wenn sie nicht rechte Lust dazu haben, nicht vorsaget, sondern sie lieber, wenn er sie zu dem Studieren geneigt antrifft, desto länger anhält. Bey einigen, die vor denen Wissenschafften so einen grossen Eckel haben, muß man es machen, wie es die Ärtzte mit den Pillen oder andern herben Artzeneyen bey zärtlichen Leuten zu machen pflegen, indem sie die Pillen in gebackene Pflaumen einwickeln, daß die Patienten den herben Geschmack derselben nicht empfinden; Also muß  
  {Sp. 1440}  
  man auch bey denen, die vor dem Lernen einen Abscheu haben, die Wissenschafften gleichsam in lauter lustige Reden einwickeln, damit sie sich nicht einbilden, daß sie Wissenschafften lernen, und unvermerckt, ja gar wider ihren Willen etwas fassen mögen.  
  Wenn du bey Leuten, die über Bücher lesen, etwas lernen willst, must du eigentlich, um rechtschaffenen Nutzen von einer Vorlesung zu haben, drey Stunden dazu anwenden, als erstlich eine Stunde vor der Vorlesung. In derselben must du dich vorbereiten, dasjenige, was erklärt werden soll, mit Bedacht lesen und untersuchen, wie viel du davon verstehest oder nicht. Wo du merckest, daß einige sehr schwere und dunckele Stellen sind, so notiere dieselben mit einem Bley-Stifft, damit du bey derselben Erklärung desto genauer acht darauf geben mögest. In der Stunde, wenn du hörest, biß aufmercksam, schreibe aber nicht viel von des Lehrers geführten Reden auf, sondern gib nur acht auf die Erklärung des Buchs. Nach geendigter Vorlesung wiederhole das gehörte zu Hause, und untersuchen, ob du nun alles wohl verstehest. Befindest du, daß hier und da einige Scrupel noch übrig sind, so bitte dir die Erklärung davon aus entweder bey deinem Lehrer oder bey andern, zu denen du das Vertrauen hast, daß sie mehr verstehen als du. Auf die Art wirst du von deinen Collegiis guten Nutzen haben.  
  Verlangest du aber eine Probe zu wissen, ob du den dir erklärten Schrifftsteller recht verstehest, so lehre entweder einen einen andern, oder thue, als wenn du Zuhörer vor dir hättest, denen du das Buch, darüber du gehöret, wiederum erklären soltest. Denn da wirst du dahinter kommen. Bisweilen wirst du dencken, du verstehest eine Sache, wenn du sie aber wirst aussprechen, und andern vortragen sollen, wirst du sehen, woran es dir fehlet.  
  Höre über dasjenige Buch, so am meisten zu deiner Absicht dienlich ist, und bey denen gelehrtesten und verständigsten Leuten den grösten Ruhm in der Welt erlanget hat, welches du bald erfahren kanst, wenn du berühmter Leute Urtheile davon hörest und liesest. Doch gilt es endlich gleich, du hörest worüber du wollest, wenn du nur dasjenige, so dir erklärt wird, wohl verstehen lernest, denn wenn du eins verstehest, so verstehest du gemeiniglich die andern auch, so von dieser Materie handeln.  
  Erwehle dir denjenigen Lehrer, welcher in derselben Wissenschafft, die du begreiffen wilst, am berühmtesten, dabey fleißig und aufrichtig ist, auch eine gute Art hat, dasjenige, so er weiß, andern wieder vorzutragen. Es ist gut, wenn du über eine Wissenschafft etliche mahl hören kanst, und wolten wir dir wohl rathen, daß du zu Anfange denjenigen aussuchest, der die Gabe hat, eine Sache deutlich vorzutragen, ob er gleich sonst eben kein Stern der ersten Größe ist; denn grundgelehrten Leuten, weil sie ihre Gedancken an lauter abstracte Dinge gewöhnet haben, fehlet es öffters an einem guten Vortrage, und können sie sich, so gerne sie auch wolten, nicht allezeit deutlich erklären, hingegen ein anderer richtet sich bisweilen besser nach eines seiner Fassungs-Krafft und hat eine bessere Lehrart. Hast du aber bey einem solchen einen guten Vorschmack der Wissen-  
  {Sp. 1441|S. 734}  
  schafft bekommen, so kanst du dich hernach bey einem Gelehrten und berühmten Mann vollends recht feste setzen, und in demjenigen, so du gehöret, bestätigen.  
  Geschriebene Collegia zu halten ist nicht zu rathen, denn es gemeiniglich eine unvollkommene Sache damit ist, weil die Lehrenden öffters dabey lernen wollen die Sache auszuarbeiten, und die Gedancken ordentlich mit einander zu verknüpffen. Wenn sie nun nach und nach ihre geschriebene Sätze verbessert, und zur vermeynten Vollkommenheit gebracht, so lassen sie das geschriebene Collegium, welches mancher von ihren Zuhörern vor einen großen Schatz gehalten, alsbald drucken.  
  Einige unverständige und ungelehrte Leute, die nicht geschickt sind andere Bücher gantz zu erklären, halten bisweilen geschriebene Collegia, da sie aus den Büchern das leichte zusammen tragen und mit einander verbinden, das schwere und dunckle aber auslassen. Doch wenn du bey einem Gelehrten und berühmten Mann hörest, kanst du auch wohl in einem geschriebenen Collegio dasjenige antreffen, so du in andern gedruckten Büchern offtmahls vergebens gesucht hast.  
  Du wirst bey einem Collegio, da von dem Lehrer die Sätze in der Zuhörer Feder dictirt werden, noch diese Unbeqvemlichkeit finden, daß du in den gedruckten Büchern von derselben Wissenschafft offtmahls viele Scrupel antreffen, und das wenigste daraus verstehen wirst. Ingleichen, wenn du so ein geschriebenes Collegium verliehrest, lieget bisweilen deine gantze Wissenschafft in Brunnen, weil die geschriebenen Collegia nicht allezeit so leicht wieder zu bekommen sind als die gedruckten Bücher.  
  Wenn dir dein Lehrmeister in der Vorlesung etwas gesagt, glaube ihn nicht auf sein Ansehen, sondern streich seine Sätze auf dem Probier-Stein der gesunden Vernunfft, und untersuche, ob sie auch in der Natur gegründet sind, und ob du dir davon einen Begriff könnest machen oder nicht.  
  Die Art aus den Lexicis etwas zu lernen, ist eine unvollkommene und unordentliche Arbeit, weil man die Sachen ohne Grund und Verbindung lernet, und doch blehet solches auf, in dem es bey unverständigen Leuten den Schein giebt, als ob einer viel wisse und gelesen habe.  
  Bey Erlernung einer Wissenschafft unterlasse auch nicht diejenige Collegia zu besuchen, darinnen von den Sätzen, die dahin einschlagen, pro und contra disputirt wird. Denn du erweckest dir durch solche eine Munterkeit des Geistes, daß du gleich, wenn du angepackt wirst, deine Meynung vertheidigen kanst, du lernest deine Gedancken hurtig aussprechen und deine Stärcke und Schwäche am besten dabey erkennen. Doch nimm dich auch bey dergleichen Collegiis in acht, daß du dir nicht dadurch einen Geist des Widerspruchs zuwege bringest, und in allen Gesellschafften Streit anfangen willst, denn solches nicht allein bey denen Leuten verhaßt, sondern auch pedantisch ist.  
4. Erfahrung Der vierdte und letzte Weg zu den Wissenschafften zu gelangen ist durch die Erfahrung; und dieser wird von ihrer vielen aus unterschiedenen Ursachen betreten. Denn zum ersten ist es beqvem, daß man, wenn man in die Ämter kömmt, die Sache allererst lernen kan, und doch eben die Ehre und Besoldung genießt, als ein anderer,  
  {Sp. 1442}  
  der sich dazu qvalifizirt und geschickt macht: zum andern braucht es nicht zu viel Nachsinnens und Kopfbrechens, als was man durch fleißiges Lesen, Unterricht und eigenes Nachdencken lernt. Aber unterdessen hat es auch seine grosse Unbeqvemlichkeiten, denn man kan einem Amte nicht mit solcher Treue vorstehen, wenn man andere erst fragen soll, als wenn man selbst weiß, wie man seine Sachen anzustellen habe. Und ist auch ein ziemlicher Umweg, wenn man durch die Erfahrung in vielen Jahren dasjenige lernen will, so man durch Unterrichtung und Bücher in einem Jahre begreiffen kan.  
  Die Leute lernen aber aus der Erfahrung auf unterschiedene Art, entweder indem sie, ehe sie etwas vornehmen, andere Gelehrtere und Erfahrnere darum fragen, oder indem sie auf andere, die in eben diesen Verrichtungen stehen, acht haben und sich anmercken, wie sie sich dabey aufführen, damit sie es ein andermahl auch wissen, oder aber, wenn sie etwas auf ein gerathe wohl versuchen, und sehen, was es vor eine Würckung hat, ob es angeht, ob es wohl aufgenommen wird, u.s.w. bis sie denn endlich durch lange Ubung und vieles Versuchen immer besser und besser dahinter kommen, das heist denn hernach aus der Erfahrung lernen.  
  Daher, wenn einige junge Leute, vornehmer Ministers Kinder und Befreundte zu Bedienungen gebraucht werden, denen sie nicht sattsam vorstehen können, entstehen die Redensarten: es wird sich schon geben: wenn sie zu den Geschäfften kommen, so werden sie schon lernen; es giebt sich alles durch die Ubung u.s.w. gerade als wenn die Ämter, denen solche Leute vorstehen sollen, Lehrmeister wären. Wenn man es aber bey dem Lichte besieht, so heissen diese Redensarten so viel, als wenn sie fein lange versucht, und vieles mit Schaden und Schande werden gelernet haben, werden sie schon dahinter kommen, oder sie werden schon Verständigere, entweder ihre Obern, Kollegen, oder auch ihre Untergebene und Secretairs darum fragen können.  
  Indessen ist doch auch gewiß, daß ein ieder Mensch, er sey so gelehrt und verständig, als er nur immer wolle, aus der Ubung unterschiedenes lernen kan. Denn wenn man die Wissenschafften anwendet, findet man in der Anwendung eines und das andere, so entweder gar nicht, oder doch nur unter gewissen Umständen angehet, daß man sich bey der blossen Theorie nicht hätte eingebildet gehabt. Wiewohl, wenn die Herren Practici fleißiger wären in Bemerckung desjenigen, was von den Theoretischen Sachen in der Ubung nicht angeht und theilten solches denen Theoreticis mit; so würden wir endlich genaue Theorien bekommen, und die Ubung der Theorie nicht mehr zuwider seyn.  
  Erwehle und lerne keine Wissenschafft, wenn du nicht vorher die präparatorischen Wissenschafften, so vor Erlangung derselben nöthig sind, gefaßt hast. Ingleichen treibe nicht viele Wissenschafften auf einmahl, sondern eine nach der andern, so wirst du dich nicht verwirren und auch mehreren Fortgang haben, als wenn du viel unter einander anfängest. Untersuche nicht allein, ehe du dich auf etwas legst, deinen Trieb und Neigung, sondern auch deine Fähigkeit, Gedult  
  {Sp. 1443|S. 735}  
  und andere hierzu dienliche Mittel und Umstände.
  • Julii Bernhards von Rohr Einleitung zu der Klugheit zu leben. L. V. §. 9-56. p. 95. seq.
  • Kemmerichs Academie der Wissenschafften, I. Eröffn. I. B. V. C. p. 38. seq.
  • Grotius de instituendis studiis et de methodo studiorum.
  • Fleury du choix et de la conduite des Etudes in 12.
  • le Clerc Pensées sur la necessité et sur la maniere d'etudier.
  • St. Evremond de l'Etude et de la conversation in seinem Melange curieux Tom. I. Entretiens sur les sciences.
  • Großers Einleitung zur Erudition, I. Gespräch.
  • Rechenberg de studiis Academicis in 12.
     

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Stand: 7. April 2013 © Hans-Walter Pries