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Zedler: Scham HIS-Data
5028-34-841-5
Titel: Scham
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 34 Sp. 841
Jahr: 1742
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 34 S. 434
Vorheriger Artikel: Schalwyck
Folgender Artikel: Scham, das menschliche Glied
Siehe auch:
Hinweise:

  Text Quellenangaben
  Scham, Lat. Pudor, ist die Unlust, welche wir über das Urtheil anderer von unserer Unvollkommenheit empfinden, z.E. wenn ein Gelehrter in seinen Schrifften einen Fehl wahrnimmt, und sich vorstellet, was die Leute darzu sagen werden, darüber aber verdrüßlich wird, daß er ein widriges Urtheil zu besorgen hat; so schämet er sich, daß er diesen Fehler begangen.  
  Aristoteles rhetor. … nennet die Scham einen Schmertz und Verwirrung über dasjenige, so die Beleidigung unserer Ehre zu betreffen scheinet, es mag dasselbige etwas gegenwärtiges, oder vergangenes, oder zukünfftiges  
  {Sp. 842}  
  seyn. Wer eine Auslegung hierüber haben will, der lese Schraders Commentarium de rhetoricorum Aristotelis sententia et usu … und Voss. in instit. orator.
  Von den neuern sagt Carthesius de passionibus animi … die Scham wäre eine Art der Traurigkeit, welche sich auf die Liebe gegen sich selbst gründe, und von einer Einbildung oder Furcht der Schande herkäme.  
  Es pflegen einige eine natürliche Scham zu statuiren, welche also von der moralischen, von der wir eigentlich reden wollen, zu unterscheiden, daß wie diese von einer Gedancke herrühret, also muß jene aus einem natürlichen Trieb herkommen. Sie entstehet aus einer dem Menschen von Natur eingepflantzten Furcht, vermöge welcher er sich vor gewisse Thaten hüte, damit er nicht möge verachtet werden, dahin sonderlich die Geheimhaltung der Geburts-Glieder gehören.  
  Der Herr Thomasius theilet in cautelis circa praecogn. jurisprudent. … die Wohlanständigkeit in eine natürliche und politische, davon jene aus der gemeinen Gleichheit aller Menschen müsse hergeführet werden. Weil nun die Schamhafftigkeit in einer Furcht wegen einer unanständigen und unerbaren That verachtet zu werden bestünde, so könte solche wegen des zweyfachen Decori auch in eine natürliche und politische eingetheilet werden, welche Lehre er in seinen fundamentis Juris naturae et gentium weiter ausgeführet, darinnen Ephraim Gerhard gefolget, dessen Fundamenta generalia doctrinae de decoro seiner delineationi juris naturalis beygefüget.
  Auf solche Weise schränckt der Herr Thomasius die Schamhafftigkeit in etwas ein, und indem er meynet, die Schamhafftigkeit sey natürlich, so ferne sie ihr Absehen auf das natürliche Decorum, so in der Natur gegründet, habe, so ist das keine solche natürliche Scham, wie wir sie vorher beschrieben. Es wird auch schwer seyn zu behaupten, als wäre uns von Natur eine würckliche Furcht oder Abscheu gewisse Dinge vorzunehmen, eingepflantzet, wie wir sonst andere natürliche Begierden haben, als zu essen, zu trincken, zu schlafen, allem, was unserer Erhaltung zuwider ist, zu entgehen. Denn wir finden solche Eigenschafften nicht, die sonst solche Begierden haben müssen.  
  Dasjenige, was man der natürlichen Scham beyleget, ist weder was beständiges, noch was allgemeines. Der Grund davon ist viel mehr in der Meynung und Gewohnheit der Menschen zu suchen, daß also auch solche Scham ursprünglich von den Gedancken herkommt. Doch lese man, was Velthuysen in dem Tractatu morali de naturali pudore et dignitate hominis, der pag. 160. seiner Operum stehet, und in der Dissertatione epistolica de principiis justi et decori p. 961. der gedachten Operum, ingleichen Pufendorf in jure naturae et gentium … ausführlich davon gesagt.
  Wir bleiben also nur bey der moralischen Scham, und erwegen sowol ihre Beschaffenheit, als ihre Arten.  
  Nach ihrer Beschaffenheit fragt sichs: was dieselbige sey? Sie ist derjenige Affect, welcher aus der Vorstellung, man  
  {Sp. 843|S. 435}  
  dürffte wegen gewisser Reden und Thaten veracht werden, entstehet. Daß sie mit Recht unter die Affecten gezehlet werde, können wir leicht sehen, wenn wir die Natur eines Affectes und der Scham gegen einander halten. Bey einem Affect muß eine ausserordentliche starcke Bewegung des Willens seyn, die mit einer Bewegung des Geblüts verknüpfft ist, welches beydes bey der Scham wahrgenommen wird. Denn wer sich schämet, führet im Willen eine Alteration, und indem er roth wird, daß man auch im Sprichwort saget: erubuit; salva res est; so zeiget dieses den Einfluß in das Geblüt an.  
  Ist man aber bey der Scham besorget, man werde an seiner Ehre und Credit schaden leiden, so ist sie ins besondere eine Art der Furcht.  
  Will man ihre Beschaffenheit genauer betrachten, so können die Ursach, das Object und die Würckung in Erwegung gezogen werden.  
  Erstlich ist zu untersuchen, woraus die Scham entstehet? oder welches die Ursach derselbigen sey? wie überhaupt die näheste Ursache aller Affecten die Imagination, oder die lebhaffte Vorstellung einer Sache, die man entweder als was Gutes, oder als was Böses ansiehet, ist; also entstehet auch daher die Scham. Solche Imagination ist unterschiedlich, daß eine Sache bald auf diese, bald auf jene Art vorgestellet wird, nachdem einer diese oder jene Principia heget; die Sache entweder bloß nach den Sinnen, oder auch nach dem Judicio betrachtet, und bald von dieser, bald von jener Gemüths-Neigung getrieben wird.  
  Dieses ist der Grund, daraus wir das unterschiedene Verhalten der Menschen bey ihrer Scham erklären können. Denn wir wissen aus der Erfahrung dreyerley, daß sich ein Mensch wegen gewisser Dinge schämet, in andern Sachen aber keine Scham bezeiget: das, wenn sich etliche schämen, so schämen sich andere nicht, und daß sich die Scham bey einem Menschen verändere. Alles dieses ist aus der Beschaffenheit, Unterscheid und Veränderung der imaginativischen Vorstellung zu leiten, so aus demjenigen kan erläutert werden, was hiervon Buddeus in institut. theol. mor. … saget:  
  „Die Scham hat alles das zum Object, welches die gute Meynung, so andere von uns haben, oder zum wenigsten in der wir bey ihnen zu stehen wünschen, verringern kan, es mag nun solches unsere Hochachtung würcklich schmälern, oder uns nur also vorkommen. Nachdem aber die Leute mehr oder weniger Verstand haben, wohl zu urtheilen, suchen sie bald in diesen, bald in jenen Dingen ihre Ehre. Fallen denn jene weg, so meynen sie, ihr guter Leumund leide Schaden, und fangen also an, sich zu schämen.  
  Die, so vor andern am besten von allen urtheilen können, sehen gar wohl, daß die gröste Würde und Vorzug eines Menschen in Ausübung der Tugenden bestehe: wenn sie nun etwas thun, das von der Tugend abgehet, so glauben sie, ihre Ehre habe vornemlich hierdurch einen Schandfleck bekommen. Das ist die Ursache, daß die  
  {Sp. 844}  
  Schamhafftigkeit für ein Zeichen der Tugend ausgegeben wird, wie das bekannte Sprüchwort heist, erubuit, salva res est, die Schamhafftigkeit ist da, nun ist nichts verlohren.  
  Nun ist solches zwar in so weit wahr; nur muß man zugleich wissen, daß solches eben sowol bey den übertünchten Schein-Tugenden der Unwiedergebohrnen, als bey den wahren Tugenden der Wiedergebohrnen angehe. Solchergestalt würde sich derjenige sehr betrügen, der aus dergleichen Scham sofort schliessen wolte, er müsse die wahre Tugend haben, welche sich allein bey den Wiedergebohrnen oder wahren Christen findet.  
  Hierzu kömmt auch noch dieses, daß der Mensch offt nicht sowol in den Tugenden, die das Gewissen betreffen, als in denen, die zum Wohlstand gehören, seine Ehre sucht, und deswegen sich schämet, wenn er etwas wider die Regeln der äusserlichen Erbarkeit versehen, nicht aber, wenn er wider Pflicht und Gewissen gehandelt hat.  
  Aus diesem Grunde siehet man, daß sich mancher schämet, wenn er etwan aus Unbedachtsamkeit und Ubereilung sich mit einem Worte vergangen, der doch im geringsten nicht erröthet, wenn er den Gottesdienst versäumet, dem Fressen, Sauffen und Geilheit nachhanget, andere betrüglich hintergehet u.d.m. Ja etliche schämen sich so gar das zu thun, was recht ist, z.E. öffentlich ihr Gebet zu verrichten, oder von Göttlichen Dingen in anderer Gegenwart zu reden, die sich durchaus nicht schämen, den Gebrauch ihrer gesunden Vernunfft zu versauffen, und sich um alles das zu bringen, woran der Mensch vor dem unvernünfftigen Vieh einen Vorzug hat.  
  Alle diese Dinge entstehen aus der Menschen verkehrten Urtheil von ihrer Würde und Ehre, welche sie da suchen, wo sie nicht solten, und selbige nicht suchen wollen, wo sichs gehörte. Und weil das Urtheil von einer Sache bey einem Menschen sich ändern kan, so ist die Ursach leicht zu errathen, warum sich einige erst gewisser Dinge schämen, darüber sie nachgehends nicht mehr roth werden, weswegen es von ihnen heist, daß sie Schande und Scham verliehren: gleichwie es auch umgekehrt eintrifft.  
  So siehet man, daß junge Leute, so gute Zucht gehabt, und zu allen Tugenden angeführet worden, das, was schändlich ist, ohne Schamhafftigkeit nicht sagen, viel weniger thun können. So bald sie aber durch böse Gesellschafften verführet werden und mit der Welt mitmachen, vergehen sie sich so weit, daß sie alle Scham beyseite legen, und kein Bedencken tragen, die schändlichsten und ärgerlichsten Bubenstücke zu begehen. Denn die Urtheils-Krafft wird nach und nach verderbet, daß ihnen dasjenige nicht mehr als schändlich vorkommt, was sie vorher allerdings vor höchst leichtfertig hielten.  
  Da aber die Urtheile der Menschen von Dingen, die wider ihre Ehre und Ansehen lauffen, nach ihrem unterschiedlichen Alter und Stande bald so, bald anders fallen, so ist hieraus zu sehen, warum etliche aus gantz verschiedenen Ursachen sich schämen, etliche aber sich nicht schämen. Knaben von zartem Alter  
  {Sp. 845|S. 436}  
  können in Gegenwart anderer vor Scham kaum etliche Worte aufbringen, weil sie sich fürchten, sie möchten dabey hier und da verstossen. Ehrbare Jungfrauen und Weiber, die, wie billig, ihre gröste Ehre und Zierde in der züchtigen Schamhafftigkeit suchen, haben nicht das Hertz, ohne Erröthung etwas vorzubringen, was auch nur den Schein eines unverschämten Wesens hat. Ein Soldat schämet sich, wenn ihm irgend etwas begegnet, so ihn um den Ruhm der Tapfferkeit bringen möchte; ein Hof-Mann, wenn er in Umstände geräth, dabey das Ansehen seiner Klugheit Schiffbruch leiden könte; ein Gelehrter, wenn sich etwas ereignet, das ihm die Ehre der Gelehrsamkeit und Gewißheit, alles auf ein Haar zu treffen, streitig machen dürffte, u.s.w.  
  In Erwägung alles dessen, kan man nicht nur begreiffen, worinnen die Natur und eigentliche Beschaffenheit der Schamhafftigkeit bestehe, sondern es wird sich auch äussern, daß dieser Affect nicht so stracks für eine Probe, Regel und Richtschnur der Tugend und des Rechten anzugeben sey, wie einige zu thun pflegen. Denn wenn jemand diesen Grundsatz machte: was dem Menschen Röthe und Scham abjaget, das ist schändlich, wobey man sich aber nicht schämet, das ist tugendhafftig; der wird bey Anwendung dieser Regel finden, wie sehr er betrogen sey. Denn aus bisher gesagtem ist klar, daß mancher, ohne sich zu schämen, etwas begehet, das doch schändlich ist: und daß man sich vieler Dinge schämet, die tugendhafft und löblich sind.„  
  Vors andere ist zu untersuchen das Objectum der Scham, oder worüber man sich schämet. Es sind Reden, oder würckliche Thaten, von denen wir uns einbilden, daß sie unserer Ehre nachtheilig seyn würden. Also kommt es auch hier alles auf die Einbildung und Vorstellung an. Die Menschen richten nicht allezeit ihre Scham nach der wahren Beschaffenheit der Reden und Thaten ein. Man solte sich schämen solcher Dinge, die den Regeln der Gerechtigkeit und Klugheit, folglich auch der Wohlanständigkeit zuwider wären.  
  Es ist aber bekannt, daß man sich in Dingen, die den Wohlstand betreffen, schämet: in Sachen aber, so die Tugend angehen, schämet man sich nicht; ja, man schämt sich wol, wenn man was löbliches und tugendhafftes thun soll. Dieses beruhet auf der Vorstellung, die man sich von solchen Dingen und von seiner Ehre macht; und weil die Ehre in der Opinion anderer beruhet, so wird man befinden, daß die Scham nach dem Unterscheid der Personen, unter denen man sich befindet, sehr veränderlich ist.  
  Drittens kommen vor die Würckungen der Scham, oder was aus derselbigen entstehet? Im Verstande würcket sie eine Verwirrung der Gedancken; im Willen selbst eine Unruhe, und im Leibe verspüret man auch würckliche Würckungen. Denn im Gesichte wird man roth, und wenn die Scham starck, so lähmet sie gleichsam dem Menschen die Zunge, daß sie Muth genug haben, vorzubringen, was sie können und sollen.  
  Die-  
  {Sp. 846}  
  ses war die Beschaffenheit der Scham. Es folgen ihre Arten, daß wir auch sehen, wie vielerley sie sey? man kan sie in einer zweyfachen Absicht abtheilen.  
  Denn in Ansehung der Scham selbst, ist sie entweder eine vorhergehende, welche vor den Reden und Thun, die unserer Ehre Abbruch thun können, hergehet, daß man sich nemlich schämet, etwas zu reden, und zu thun; oder eine nachfolgende, welche erfolget, wenn bereits etwas geredet oder gethan worden, so unserer Ehre nachtheilig. Einige halten die letztere Art nicht sowol vor einen Affect, als vielmehr vor eine schmertzhaffte Empfindung; man weiß aber, daß auch dieselbige vielmals so beschaffen, daß sie mit Recht vor einen Affect anzusehen ist.  
  Nach der Moralität ist sie entweder vernünfftig, oder unvernünfftig. Jene ist, wenn man eines Theils sich wegen solcher Reden und Thaten schämet, die den Regeln der Gerechtigkeit und Klugheit, auch der Wohlanständigkeit zuwider sind, und also der wahrhafftigen Ehre Eintrag thun können; andern Theils gehörige Maße dabey beobachtet, woraus leicht zu schliessen, was die unvernünfftige Scham sey. Nemlich, wenn man sich wegen Sachen schämet, da man keine Ursache hat, wie sich z.E. mancher schämet, von Göttlichen Dingen zu reden; oder auch keine Maße zu beobachten weiß, wohin die Bauer-Schamhafftigkeit gehöret; die aus der Unwissenheit der manierlichen Sitten, oder aus der irrigen Meynung, als wenn der Gehorsam der Höflichkeit weichen müste; oder auch aus einer allzugrossen Furchtsamkeit entstehet.  
  Nach Syrachs Lehre ist die Scham zweyerley: eine tugend- und lasterhaffte, nachdem die Sache ist, davor man sich schämet, wie zu sehen Syr. 4, 24. 25, 31.
  Absonderlich hat er Cap. 41, 18. u.ff. ein langes Register dessen, weß man sich schämen soll, aufgesetzet, bis er solches mit diesen Worten schliesset: Also schämest du dich recht etc. ferner Cap. 42. auch 2 Tim. 1, 8.
     

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Stand: 5. April 2013 © Hans-Walter Pries