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Zedler: Tugend [1] HIS-Data
5028-45-1471-4-01
Titel: Tugend [1]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 45 Sp. 1471
Jahr: 1745
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 45 S. 749
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Übersicht
  Moralische Tugend
 
1) Definition
2) Zahl der Tugenden
  Praktische Betrachtung
  Literatur

Stichworte Text  
  Tugend, Lat. Virtus, in gantz weitern Verstande wird dieses Wort auch gebraucht von leblosen Sachen, als von Steinen, Kräutern und Thieren, da man darunter eine natürliche Krafft und Eigenschafft eines natürlichen Cörpers, und die daraus entstehende Würckungen verstehet.  
  Eigentlich wird die Tugend den Menschen zugeschrieben, welche, wenn man das Wort, sonderlich das Lateinische virtus in seinem gantzen Umfange betrachtet, in weitern und engern Sinn kan genommen werden.  
  Denn nach jenem verstehet man darunter eine iede Geschicklichkeit, die der Mensch über seine natürliche Fähigkeiten erlangt, und weil er so wohl Fähigkeiten des Leibes, als der Seelen hat, so sind solche Tugenden entweder virtutes corporis oder animae, welche letztere in Ansehung des Verstandes und Willens, womit die Seele versehen, wieder entweder virtutes intellectus, oder voluntatis sind.  
  Dieser letztern sind die eigentliche, und im engern Verstande sogenannte Tugenden, die man auch die moralischen nennet, davon wir hier in solcher Ordnung handeln wollen, daß wir erstlich die Lehre davon vortragen und erklären; vors andere eine historische  
  {Sp. 1472}  
  Nachricht von den unterschiedenen Meinungen der Philosophen geben.  
  Was erstlich die Lehre und Sache selbst betrifft, so müssen wir voraus wieder einen Unterscheid machen unter den moralischen und politischen Tugenden, und von einer jeden Art ins besondere handeln, damit wir aller Verwirrung entgehen.  
Moralische Tugend Bey der moralischen Tugend, so fern sie in die Philosophie gehöret, müssen wir eine theoretische und practische Betrachtung anstellen, und nach jener untersuchen, sowohl was dasselbige; als auch wie vielerley solche sey:  
1) Definition 1) was die moralische Tugend sey.  
  Wir halten dafür, sie sey eine Fertigkeit des menschlichen Willens, da man geneigt ist, seine Handlungen nach dem natürlichen Gesetze einzurichten. Bey dieser Definition kommen verschiedene Umstände vor, welche müssen erkläret werden.  
  Denn erstlich nennen wir diese Tugend eine Fertigkeit des Gemüthes, oder des menschlichen Willens, welches anzeigt, daß sie nichts natürliches; sondern wenn sie einen Habitus seyn soll, so muß sie nach und nach durch Fleiß und Mühe erlanget werden. Es sind zwar verschiedene, welche meinen, man könne die Tugend nicht mit Recht eine Fertigkeit, oder einen Habitum nennen, als von den neuern Heinrich Morus in Enchirid. ethic. … und Arnold Geulinc in Eth. …, es kommt aber unserm Bedüncken nach darauf an, in was vor einer Absicht man die Tugend betrachten will.  
  Denn ist die Rede von der natürlichen Tugend, und zwar, wie sie sich bey einem natürlichen Menschen befindet, so kan man sie gar wohl eine Fertigkeit des Gemüths nennen; ob aber eine solche Tugend eine wahre Tugend, dieses ist eine andere Frage. Doch liegt nicht viel dran, indem man die natürliche Tugend auch eine Bemühung nennen kan, zumahl sich diese Fertigkeit des Gemüthes durch eine Bemühung äussert.  
  Ist die Tugend eine Fertigkeit, oder eine Bemühung, so hat man von derselbigen die Pflichten und die tugendhafften Verrichtungen zu unterscheiden. Denn Pflichten sind solche Handlungen, dazu man durch das Gesetze verbunden; beobachtet man nun dieselbige, und zwar weil man erkennet, daß sie der Vernunfft gemäß und von GOtt geboten sind, so werden sie tugendhaffte Verrichtungen, indem sie aus der Fertigkeit, oder aus dem Bemühen nach dem natürlichen Gesetze zu leben, herrühren.  
  Die Beobachtung der Pflichten an sich selbst ist noch nicht tugendhafft. Denn solche kan auch bisweilen aus einem natürlichen Triebe herfliessen, daß man thut, was das Gesetze befielet, und unterlässet, was es verbeut, und zwar entweder aus Furcht vor die Strafe, als wenn jemand um deswegen z.E. einen nicht beleidiget, damit er nicht gestraft werde; übrigens aber in seinem Hertzen dazu geneigt ist; oder aus Trieb einer verderbten Neigung, z.E. wenn ein Wollüstiger Barmhertzigkeit ausübet; oder ein Ehrgeitziger sein Versprechen hält.  
  Solche Handlungen haben den Schein einer Tugend, und daher nennet man sie simulacra virtutum. Eigentlich können sie gar keine Tugenden heissen. Denn wenn die Tugend eine Fertigkeit des Gemüthes ist, so hat man selbige, nicht von Natur,  
  {Sp. 1473|S. 750}  
  als die uns nur blosse Fähigkeiten mittheilet. Gewisser massen können wir auch daraus schlüssen, daß nur eine eintzige Tugend sey, weil nur eine eintzige Fertigkeit, oder ein eintziges Bemühen des Gemüths statt findet, wovon wir unten mit mehrern reden wollen.  
  Vors andere sagen wir in der Beschreibung, wir suchen bey dieser Tugend seine Handlungen nach dem natürlichen Gesetze einzurichten, und damit zeigen wir die Norm an, nach welcher sich ein tugendhaffter Mensch in seinem Thun und Lassen richtet, so das natürliche Gesetz sey. Dieses hat abermals seine Richtigkeit, so fern wir nur von der natürlichen oder Philosophischen Tugend reden. Ein natürlicher Mensch suchet sich nach dem Willen GOttes zu richten, so fern er ihn aus der Natur durch die Vernunfft erkennet. Nach solchen Gesetzen suchet man bey der Tugend seine Handlungen einzurichten, zu welcher Einrichtung zwey Stücke, die Materialität und Formalität, erfordert werden, wie die Moralisten erinnern.  
  Die Materialität ist derjenige Theil, welcher dasjenige in sich begreiffet, was man nach dem Gesetze entweder thut, oder unterlässet. Die Formalität aber geht vornemlich auf die Absicht, die man bey einer Handlung hat, so das wichtigste Stücke bey einer Tugend ist. Bey der natürlichen Tugend kan selbige nichts anders seyn, als weil man überzeuget, daß GOtt dieses geboten, jenes verboten, so wolle man durch Beobachtung der Gesetze seinen Gehorsam beweisen. Hat ein tugendhaffter Mensch diese Absicht, so sucht er auch bey seinen Handlungen GOttes Ehre, und der Menschen nebst seiner eigenen Glückseligkeit zu befördern.  
  Es bemercken die Moralisten gewisse Eigenschafften der Tugend, welche etliche Modos virtutis nennen, und derselbigen viere bestimmen: den Fleiß, den Gehorsam, die das Mittel haltende Gerechtigkeit, oder die Justititiam correctricem, und die Demuth. Durch den Fleiß sey man bemühet, den Göttlichen Willen zu erkennen, und wenn dieses geschehen, demselbigen nachzuleben. Der Gehorsam sey die Vollbringung selbst dessen, was man erkannt, daß es dem Willen GOttes gemäß sey, es mag nun GOtt was befehlen, oder verbieten; und wenn man dabey suche, der Sache weder zu viel noch zu wenig zu thun, so sey dieses die Justitia correctrix; zu welchen noch die Demuth kommen müsse, daß man allein GOttes Ehre suche.  
  So träget die Sache D. Buddeus in elem. philos. pract. … u.ff. vor, welche vier Eigenschafften auch Philaretus in ethic. … und Geulinc in ethic. … annehmen. Dieser letztere erkläret sich davon also:  
  Der Fleiß sey eine Aufmercksamkeit auf das, was die Vernunfft saget; der Gehorsam eine Vollbringung dessen, was die Vernunfft befiehlet; die Gerechtigkeit eine Einrichtung seines Thuns und Lassens nach dem Maaß der Vernunfft; die Demuth eine Unachtsamkeit sein selbst.  
  Zum Fleiß gehörten zwey Stücke, die Abwendung von äusserlichen Dingen, und die Einkehr in sich selbst. Zum Gehorsam gehörte die Vollbringung dessen, was die Vernunfft befiehlt, und die Unterlassung der Dinge, die sie verbeut; Die Gerechtigkeit habe wieder zwey Stücke, die Reinlichkeit, welche ab-  
  {Sp. 1474}  
  nimmt, was zu viel ist, und die Vollkommenheit, welche ersetzt, was zu wenig ist. Zur Demuth gehöreten gleichfalls zwey Stücke, die genaue Betrachtung sein selbst, oder die Verachtung, oder Geringachtung sein selbst.  
  Eine iede Tugend habe auch ihre besondere Hülffs-Mittel. Das Hülffs-Mittel des Fleisses sey, daß man sich mit der Vernunfft wohl bekannt mache; des Gehorsams, daß man nichts thue, was blos von den Menschen angeordnet; der Gerechtigkeit, daß man die Beschaffenheit der Dinge nach Zahl und Maaß eigentlich betrachte; die Demuth, daß man nichts thue um seiner Glückseligkeit Willen, sondern um seiner Schuldigkeit ein Gnüge zu thun.  
  Die Frucht des Fleisses sey die Klugheit, die Frucht des Gehorsams die Freyheit, die Frucht der Gerechtigkeit volle Gnüge, die Frucht der Demuth die Hoheit.  
  Bey der Demuth kommt folgende Regel für: wobey ich nichts vermag, dabey will ich auch nichts. Der erste Satz begreiffet die genaue Betrachtung und Einschauung in sich selbst; der andere aber begreifft die Verachtung sein selbst.  
  Die genaue Betrachtung seiner selbst habe vier Stücke. Ich vermag nichts in Ansehung meines Thuns, denn wir können keinen Cörper zuwege bringen, wir bewegen auch unsern Cörper nicht selbst, denn wir wissen nicht, wie er beweget wird, und wenn wir es auch gleich wüsten, so würde doch dieses Wissen nichts zur Bewegung helffen, noch viel weniger aber bewegen wir andere Cörper. Und daraus folget, daß wir ausser uns nichts thun; gleichwohl geschiehet die Bewegung, das ist, sie wird mit der Anordnung des Willens vereiniget: diese Vereinigung aber verursachet iemand anders, nemlich GOtt.  
  Ich vermag ferner nichts, in Ansehung des Leidens; denn die Dinge, die ausser mir seyn, können mir ihre Gestallt nicht eindrucken, sondern iemand anders, nemlich GOtt bildet mir die Gestallt der Welt ein, und macht, daß meine Action in die Theile der Welt sich ausbreitet.  
  Ich vermag auch nichts in Ansehung meiner Geburt. Ich weiß nicht, wie ich auf die Welt kommen bin, noch weniger aber bin ich durch eigene Krafft herkommen. Ich vermag nichts in Ansehung des Todes, auch hierbey hat mein Wille nichts zu thun; ja er folgt meinem Willen. Und also handele ich thöricht, wenn mein Wille sich dabey einiges Vermögen zueignen will, daß ich weiß, daß er nichts ausrichten kan. Und also will ich in allen nichts, sondern ich vollbringe nur, was GOtt befiehlet etc.  
  Thomasius in cautel. circa praecogn. Jurispr. … urtheilet von diesen Gedancken des Geulincs also: Wer siehet nicht, daß man durch diese Lehre unvermerckt in Spinozismum verleitet wird? denn es gehet alles dahin aus, daß alle Dinge in der Welt aus einer unumgänglichen Nothwendigkeit einer unendlichen und eintzigen Substantz geschehen; wodurch alle Freywilligkeit und Zurechnung des menschlichen Thuns und Lassens aufgehoben wird.  
  Becmann bestimmt in lin. doctrin. moral. … eine grössere Anzahl solcher Eigenschafften, als die Einigkeit, Unveränderlichkeit, Aufrichtigkeit, Völligkeit, Emsigkeit. Was diese Modos virtutis heissen, das  
  {Sp. 1475|S. 751}  
  nennet Heinrich Morus l. 2. enchir. ethic. …, und setzet deren drey, die Klugheit, Aufrichtigkeit und Gedult, wobey Buddeus in institut. theol. moral. … erinnert, daß die Klugheit zu den Tugenden des Verstandes gehöre; die übrigen aber nicht hinlänglich wären, die Sache gantz zu erschöpffen.  
  Ein natürlicher Mensch kan es soweit nicht bringen, daß seine Tugend alle diese Eigenschafft an sich habe. Um deswillen muß man den Unterscheid der natürlichen und Christlichen Tugend kennen lernen. Denn die Christliche Tugend befindet sich nur bey den Gläubigen und Wiedergebohrnen, und ist daher kein Werck der Natur, oder ein natürlicher Habitus, sondern eine Frucht des Geistes. Sie hat zwar auch den Willen GOttes zur Richtschnur; den aber ein Christe aus der Heil. Schrifft weit gewisser, genauer und vollkommener erkennet.  
  Der Grund ist nicht etwa eine natürliche Uberzeugung der Vernunfft, daß man GOtt gehorchen müste; sondern die wahre Liebe zu GOtt, welche aus dem Glauben kommt, und diese bringet auch alle Eigenschafften der wahren Tugend herfür;  
2) Zahl der Tugenden 2) sehen wir, wie viel man Tugenden habe.  
  Wir haben schon vorhero angemercket, daß eigentlich nur eine Tugend sey. Denn es ist nur eine Fertigkeit, oder ein eintziges Bemühen, seine Handlung nach dem natürlichen Gesetze einzurichten. Doch weil sich solche Fertigkeit, oder Bemühung nach dem Unterscheid der mannigfaltigen Dinge, damit sie zu thun hat, mancherley erweiset, so bekommt sie auch unterschiedliche Benennungen, und man kan allerdings sagen, daß mancherley Tugenden sind.  
  Die Pflichten, auf welche die Tugend gehet, sind dreyerley, gegen GOtt, gegen sich selbst, und gegen andere, weswegen man drey Haupt-Tugenden setzen kan,  
 
  • die Gottseligkeit, bey der man bemühet ist, die Pflichten gegen GOtt in acht zu nehmen:
  • die Mäßigkeit, welche eine Bemühung ist, nach den Pflichten gegen sich selbst zu leben,
  • und die Gerechtigkeit, nach welcher man suchet, den Pflichten gegen andere eine Gnüge zu erweisen.
 
  Aus einer jeden fliessen wieder besondere Tugenden, nach den unterschiedenen Stücken, die eine iede Art der Pflichten in sich begreiffet.  
  Denn bey der Gottseligkeit haben so viel Gattungen statt, als Stücke des Gottesdienstes sind, es mag ein innerlicher, oder ein äusserlicher seyn. Zum innerlichen Gottesdienst gehöret, daß wir ihn lieben, fürchten, unser Vertrauen auf ihn setzen und ihm gehorchen, woraus entstehet die Tugend der Liebe, der Ehrfurcht, des Vertrauens, und des Gehorsams.  
  Eben so verhält es sich mit der Haupt-Tugend, der Mäßigkeit, in Ansehung sein selbst. Denn,  
 
  • leben wir mäßig in Essen und Trincken, so ist dieses die Nüchterkeit;
  • ist man mäßig bey der fleischlichen Wollust, so heist das die Keuschheit;
  • bey der Ehre die Bescheidenheit;
  • bey dem Geld und Gut die Vergnüglichkeit;
  • bey seinen Verrichtungen der Fleiß;
  • und wenn einem was unglückliches aufstösset, und man kan dabey seinen Affect mäßigen, so ist dieses die Gedult und Standhaftigkeit.
 
  Die Gerechtigkeit in Ansehung anderer bringet auch ihre besondere Tugenden her-  
  {Sp. 1476}  
  für. Denn man pflegt drey allgemeine absolute Pflichten zu setzen,  
 
  • daß man niemand beleidige;
  • einen ieden als seines gleichens tractire,
  • und die Pacte halte.
 
  Aus diesen entstehen drey besondere Tugenden, als  
 
  • die Gerechtigkeit in engerm Verstande, oder die Friedfertigkeit, wenn man sich bemühet, niemand einigen Schaden zuzufügen;
  • die Bescheidenheit, welche, wenn sie gegen andere betrachtet wird, eine Bemühung ist, keinen geringer als sich selbst zu achten,
  • und die Treue, wenn man bemühet ist, Treu und Glauben zu halten, und also sein Versprechen zu erfüllen.
 
  Dieses sind nur einige besondere Tugenden, damit wir nur erweisen wollen, in was vor Ordnung dieselbigen zu bringen. Es können derselbigen noch mehr angeführet werden, indem man ihrer so viel hat, als besondere Stücke der Pflichten in dem Göttlichen Gesetze enthalten sind, z.E. in Ansehung der Pflichten der Bequemlichkeit gegen andere, die Gutthätigkeit, die Sanfftmuth, u.s.f. nur hat man nicht allezeit besondere Namen vor dieselbigen.  
Praktische Betrachtung Die practische Betrachtung von der Tugend zeiget, wie man dieselbige erlangen könne; indem wir aber nur von der natürlichen Tugend handeln, so werden wir auch nur natürliche Mittel vorschlagen müssen. Wer tugendhafft leben will, der muß bereit seyn, nach dem Gesetze der Natur zu leben. Auf solche Weise kommet das Haupt-Werck auf den menschlichen Willen an. Dieser wird durch die bösen Neigungen zu den Lastern angetrieben; von der Tugend hingegen abgehalten, folglich muß demselbigen ein Vorsatz, die Laster zu fliehen, und sich der Tugend zu befleißigen, beygebracht werden, um wenn derselbige vorhanden, so sind Mittel vorzuschlagen, wie er ins Werck zu richten.  
  Man hat also bey dieser Bemühung auf zwey Stücke zu sehen. Das eine betrifft den Vorsatz zur Tugend, wozu der Wille durch Vorstellungen seiner Natur muß bewogen werden, mithin gehöret dazu eine lebendige Erkänntniß und Vorstellung. Der Wille kan zu nichts bewogen werden, man stelle ihm denn eine Sache als etwas gutes vor; daher man zeigen muß, wie die Ausübung der Tugend was gutes und nützliches sey.  
  Solchen Nutzen zeiget man aus einem zweyfachen Grunde. Der eine beziehet sich auf den Willen GOttes, es wolle GOtt haben, daß man sich der Tugend ergebe, dem man zu gehorchen verbunden. Denn ihm komme die Herrschafft über uns zu, weil wir von ihm in Ansehung unsers Ursprungs und Erhaltung dependiren. Wie aber GOtt nach seiner Weisheit und Barmhertzigkeit nichts anders, als unsre Glückseligkeit suche; also habe man solche Verbindlichkeit, nach dem Gesetze zu leben, vor was gutes anzusehen.  
  Dieses giebt zu dem andern Grund Gelegenheit, daß man aus der Natur der Tugend selbst zeiget, wie gut und nützlich es sey, wenn man selbige besitze. Denn da man bey derselbigen nach dem natürlichen Rechte zu leben bemühet ist; die Beobachtung aber desselbigen ist das Mittel, wodurch die menschliche Glückseligkeit erhalten wird, so folget ja daraus, daß sie zu was guten abziele.  
  {Sp. 1477|S. 752}  
  Doch weil man solche Gesetze auch ohne Tugend beobachten kan, entweder aus Furcht, oder aus Antrieb einer verderbten Neigung, wie wir vorhin erinnert, so haben wir den Nutzen, den die Tugend selbst mit sich führet, in einen gemeinen und in einen besondern abzutheilen.  
  Jener bestehet in der Beobachtung der Gesetze selbst, so ferne man solche willig über sich nimmt, und damit die Glückseligkeit, dahin die Gesetze zielen, befördert; diesen aber hat insonderheit der tugendhaffte Mensch vor sich von seiner Tugend. Denn er hat dabey ein gutes Gewissen, aus welchem die Gemüths-Ruhe und ein innigliches Vergnügen entstehet, welches aber, wenn man die Sache Theologisch betrachtet, nur was scheinbares ist, indem niemand ohne Christo ein gutes Gewissen und eine Gemüths-Ruhe, die wahrhafftig ist, haben kan. Er erwirbt sich durch die Tugend einen guten Ruhm, indem dieselbige eine solche Krafft hat, daß sie auch von denen, die ihr nicht anhängen, muß gelobet, auch sogar an ihren Feinden gepriesen, und die Laster gescholten werden.  
  Mit diesem Vortheil verknüpffet sich die Gewogenheit und Freundschafft anderer. Denn wenn sie sehen, daß man durch die Tugend bemühet ist, ihnen alle Schuldigkeiten willig und gerne zu leisten, so gefället ihnen dieses wohl, und dieses Wohlgefallen bahnet den Weg zu einer Liebe. Eine solche Vorstellung von der Vortrefflichkeit der Tugend kan nachdrücklicher werden, wenn man zugleich einem Menschen zu Gemüthe führet, was vor Schade und Beschwerniß den Lastern auf dem Fuß nachfolgen.  
  Ist der Vorsatz, tugendhafft ins künfftige zu leben, erwecket, so müssen auch Mittel vorgeschlagen werden, wie derselbige ins Werck zu richten; weil aber selbige eben diejenigen sind, welche überhaupt zu Verbesserung des Willens müssen gebrauchet werden, so wollen wir davon in dem Artickel von dem Willen handeln. Denn dahin zielet die Ausbesserung des Willens, daß er von den Lastern abgezogen, und zu der Tugend gebraucht werden sollen.  
  Doch müssen wir dieses noch erinnern, daß man die beyden Bewegungs-Gründe, warum man tugendhafft leben soll, nemlich der Wille GOttes und der Tugend Vortrefflichkeit, nicht von einander zu sondern hat. Denn fällt der Wille GOttes weg, und man übet Tugenden aus, nicht deswegen, weil es GOtt geboten, sondern aus blossem Eigennutz, so werden es nur politische Tugenden, welche auch Atheisten haben können.  
  Von diesen moralischen Tugenden unterscheiden wir die politischen, welche nur, als Mittel der Klugheit, um seinen Zweck zu erhalten, mithin des eigenen Interesse wegen angenommen werden, die dahero kein Absehen weder auf GOtt, noch auf den Nächsten, oder gemeine Wohlfahrt haben.  
  Sie sind zweyerley, in dem einige zugleich moralisch, andere aber bloß politisch sind. Jene, oder die moralisch-politischen Tugenden sind diejenigen, die sowol von GOtt geboten, als auch zum Zweck der Klugheit sehr nützlich sind, daher sie in Ansehung des Göttlichen Wil-  
  {Sp. 1478}  
  lens moralische; in Ansehung der Klugheit aber politische genennet werden. Wie sie von den natürlichen Menschen angenommen und ausgeübet werden, so kan man sie vor keine wahren Tugenden halten. Die That selbst kommt wohl mit dem Gesetze überein; es fehlet aber die rechte Absicht, massen man solche Tugenden nur als Mittel seines eigenen Nutzens brauchet. Unter diese Tugenden gehöret  
 
1) die Gerechtigkeit, welche zwar GOtt in seinem Gesetze von den Menschen verlanget, und ihnen verboten, iemand zu beleidigen, und ihm Unrecht zu thun; sie wird aber politisch, wenn man sie braucht, damit man sich nicht verhast mache. Denn man weiß, daß mit ungerechten Leuten, Betrügern, Pasquillanten, Zänckern und dergleichen, niemand gerne umgehen will; und erkennet, daß man bey dem Mangel der Gemeinschafft mit andern Leuten mehr verlieret, als gewinnet;
2) Die Gottseligkeit, die GOtt auch geboten; wenn man aber die Religion als ein Staats-Instrument ansiehet, so geschiehet vielmahls, daß man andächtige Minen macht, die Kirchen fleißig besuchet, den Geistlichen grosse Ehre erweiset, nicht GOtt zu gefallen, sondern sich nur bey dem Volcke beliebet zu machen.
3) Die Mäßigkeit. Mancher ist, vermöge seiner wollüstigen Natur, zur Unmäßigkeit geneigt; weil er aber weiß, daß er damit in der Welt nicht fortkommt, so nimmt er aus politischen Absichten, um seiner Glückseligkeit nicht im Wege zu stehen, die Larve der Mäßigkeit an. Er erkennet auch wohl, daß Fressen und Sauffen den Verstand verdüstert; ohne Verstand aber keine Klugheit seyn könne:
4) Die Bescheidenheit, womit manche ihrem Ehrgeitz wehe thun, zumal wenn sie Verstand haben. Denn sie begreiffen gar wohl, daß die Menschen nicht nur nicht leiden können, daß sich einer würcklich über den andern erhebe; sondern auch nicht gerne sehen, daß einer würdig scheinet über den andern erhoben zu werden. Der Haß und der Unwille anderer Leute trägt nichts ein, und weil dieses ein kluger Mensch erkennet, so nimmt er als ein Politicus die Bescheidenheit an; er läßt seinen Ehrgeitz nicht mercken, ja er thut, als hätte er nicht einmahl eine Empfindung von seinen Qualitäten und Geschicklichkeiten. Er führet sich bey solcher Bescheidenheit in Geberden, Worten und Thaten so auf, daß er aus sich selbst nichts sonderliches zu machen scheinet:
5) Die Gedult. Ein kluger Mensch siehet wohl, daß man in der Welt nicht gleich alles erlanget, was man sich in Kopff setzet, und bey seinen Unternehmungen vielen Widerstand findet. Wolte man gleich oben hinaus, so wäre dieses eine Brutalität; liesse man aber den Muth gleich sinken, so wäre dieses eine Feigheit. Beydes thut nicht gut. Denn durch jenes verdirbt man vor der Zeit eine Sache, die noch gut hätte ausschlagen können; durch dieses aber setzet man sich aus dem Vortheil. Das beste Mittel ist die Gedult, daß man warten kan, bis sich glückliche Umstände, deren man sich bediene, herfür thun, welches die Tapfferkeit nicht aufhebet. Denn wie die Gedult mit
 
  {Sp. 1479|S. 753}  
 
  der Tapfferkeit wesentlich vereiniget; also kan die Gedult niemals ohne die Tapfferkeit seyn. Diese Gedult macht den Haupt-Theil des so hoch gepriesenen Sang froid aus. Aus solchen politischen Ursachen muß sowol ein Ehrgeitziger seine Hitze, als ein Wollüstiger sein ungedultiges Wesen in Zaum halten, und dämpffen;
6) Der Fleiß, daß man sich keinen Affect abhalten lasse, wenn man sich einer Gelegenheit, seinen Nutzen zu befördern, bedienen kan. Ein Politicus sucht dadurch in der Welt Ehre und Reichthum, so daß er dabey bestehen kan.
 
  Diese und noch andere Tugenden sind in dem Göttlichen Gesetze geboten, wie wir bey einigen schon erinnert haben; weil sie aber nur des eigenen Interesse wegen ausgeübet werden, so können sie vor keine wahren Tugenden paßiren. Doch ist unter ihnen und denenjenigen, die aus den natürlichen Neigungen fliessen, einiger Unterscheid. Denn bey diesen folget man den Neigungen; z.E. ein Ehrgeitziger hält seine Versprechungen, weil dieses sein Ehrgeitz mit sich bringet; bey jenen aber muß man den Neigungen bisweilen widerstehen.  
  Die andere Art solcher Tugenden begreifft die bloß politischen, welche zwar nützlich, von GOtt aber nicht geboten sind, die auf die Beobachtung des Wohlstandes ankommen, von dem unten in einen besondern Artickel gehandelt worden.  
Literatur Wir haben nicht nöthig, die Scribenten von dieser Materie anzuführen, weil in allen Büchern der Ethicen davon gehandelt wird, weswegen wir nur einiger Disputationen, und besonderer Schrifften, die hieher gehören, gedencken, welche sind  
 
  • Johann Gottlob Pfeiffers de convenientia et differentia virtutum naturalium, Leipz. 1708.
  • George Christoph Büttners de larvis virtutum, Leipz. 1709.
  • Elias Silberrads de virtutibus larvatis, Straßb. 1713.
  • Joh. Englerts de virtute, quatenus cum honore, divitiis et voluptate conjuncta est, Leipz. 1711.
  • Joh. Christ. Hommels de praemio naturali cujuslibet virtutis comite, Leipz. 1717, und Eisenach 1718.
  • Joh. Christian Clausii de solo virtutis cultore ad veram sapientiam idoneo, Leipz. 1719.
  • Joh. Tob. Wagners de variis exercitandi ad virtutem modis, Hall. 1715.
 
  Im Jahr 1726 ist zu Londen in Engeländischer Sprache heraus gekommen Epistola ad deistam de pulchritudine et excellentia virtutis moralis etc. und 1728 Fundamentum bonitatis internae virtutis …, auch in Engeländischer Sprache, worauf noch 1729 gefolget pars secunda … von welchen Schrifften die Acta Eruditorum 1730 … zu lesen.  
  Von einem in Engeländischer Sprache verfertigten Discours, ob die Ausübung der Tugend einem Volcke nützlich, oder schädlich sey, findet man Nachricht in dem Journal des scavans 1726 ... und in der Biblioth. Angloise  
     

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Stand: 29. März 2013 © Hans-Walter Pries