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Zedler: Wille des Menschen [1] HIS-Data
5028-57-59-6-01
Titel: Wille des Menschen [1]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 57 Sp. 59
Jahr: 1748
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 57 S. 43
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Übersicht
I. Dogmatische Abhandlung
  1) Allgemeine Betrachtung
  2) Besondere Abhandlung
 
  (a) Des natürlichen Willens
  (b) Des verderbten Willens
  (c) Des verbesserten Willens

Stichworte Text Quellenangaben
  Wille des Menschen, Lat. Voluntas hominis, Voluntas humana, wir wollen hier eine dogmatische und historische Abhandlung anstellen, und bey jener die Sache erklären, bey dieser aber die vornehmsten Meynungen der Philosophen hiervon erzehlen.  
     
  I. Dogmatische Abhandlung.  
  1) Allgemeine Betrachtung.  
  Bey der Dogmatischen Betrachtung haben wir erstlich zu sehen: Was der menschliche Wille sey? Es wird das Wort Wille auf verschiedene Art gebraucht, indem solches entweder vor das Vermögen der Seelen, etwas zuwollen oder vor einen Habitum, wenn man eine beständige Neigung zu etwas hat, oder auch vor eine Würckung genommen wird. Weil die Würckungen und Habitus die Fähigkeit und das Vermögen voraussetzen, so bleiben wir bey der ersten Bedeutung, und halten den menschlichen Willen vor diejenige Krafft der Seelen, da sie gegen eine Sache, an der man was Gutes befindet, einen Neigung, und vor derjenigen, an der man was Böses wahrnimmt, einen Abscheu haben, aber auch in dem erlangten Guten acqviesciren, und desselben geniessen kan. Oder will man die Sache kürtzer geben, so kan man sagen, der Wille ist dasjenige Vermögen der Seelen, da sie das Gute liebt, und das Böse hasset.  
  Der Wille hat, wie aus der gegebenen Beschreibung zu ersehen ist, eigentlich zwey Fähigkeiten, eine thätige und eine leidende.  
  Die thätige Fähigkeit bestehet in einem Verlangen, und Triebe zu demjenigen Objecte, das der Verstand für Gut erkennet; Damit zugleich in dem Gegentheil die Fliehung desjenigen Objectes verknüpffet ist, welches der Verstand für Böse erkläret.  
  Die leidende Fähigkeit aber ist ein Vermögen, das dargereichte Gute anzunehmen, und sich in demselben zu beruhigen, welches nicht ohne Vergnügen geschiehet; Das hingegen in eine Unruhe und Traurigkeit, durch den Verlust solches Gutes verwandelt werden kan.  
  Indem wir  
  {Sp. 60}  
  den Willen eine Krafft der Seelen nennen, so gehen wir von denjenigen ab, welche sagen, die Seele bestünde aus Verstand und Willen, als zwey unterschiedenen Substantzen, auch selbige nach dem unterschiedlichen Sitz eines jedweden unterscheiden, und dem Verstande in dem Haupte, dem Willen aber in dem Hertzen, eine Wohnung einräumen. Denn, wie man sich auf solche Weise einen gantz andern Concept von einem Geiste und von der Seelen machen und sich einbilden müste, daß ein geistliches Wesen einen Verstand ohne Willen, und einen Willen ohne Verstand haben könnte; Also finden wir in den Würckungen der Seelen, wenn sie gedenckt, oder Begierden hat, noch keinen Grund, warum man Verstand und Willen als zwey von einander unterschiedene Substantzen ansehen solte.  
  Es ist eine Seele, sie thut aber nach dem Unterschied der ihr vorkommenden Dinge unterschiedene Würckungen, folglich hat sie unterschiedene Kräffte, denen man billig unterschiedene Benennungen beyleget. Wir finden dieses auch an den natürlichen Cörpern, als an der Sonne, welche nach dem Unterscheid der Sachen bald ihre Krafft etwas zu erhärten; bald etwas zu erweichen äussert, wiewohl sich solche Gleichnisse in Ansehung der geistlichen Substantzen nicht wohl brauchen lassen.  
  Es ist wohl wahr, daß etliche Bewegungen des Willens am meisten im Hertzen empfunden werden; Es folgt aber noch nicht daraus, daß man ihm deswegen im Hertzen eine eigene Stelle anweisen müsse. Zwar bedeutet in heiliger Schrifft das Wort Hertz öffters den Willen, es haben aber die Theologen wol erinnert, es geschehe dieses deswegen, weil ein Mensch die Bewegungen des Willens im Hertzen hauptsächlich empfindet, man könne aber daraus noch nicht folgern, daß der Sitz des Willens im Hertzen sey, indem auch die andern Kräffte der Seelen, entweder allzusammen, oder jede absonderlich den Nahmen des Hertzens führten.  
  Dasjenige, womit der Wille beschäfftiget ist, das ihn bewegt und rührt, damit diese Krafft der Seelen in die würckliche That ausbrechen kan, ist entweder was gutes oder böses: Jenes begehrt er, vor diesem flieht er. Die Ursach, warum GOtt die menschliche Seele mit einem Willen versehen, ist, weil er den Menschen zur willkührlichen Glückseligkeit in dem Genuß eines Guts und der damit verknüpften angenehmen Empfindung bestehet, so muste eine Krafft vorhanden seyn, dadurch man das Gute verlangen, und das Böse fliehen konnte.  
     
  2) Besondere Abhandlung.  
  (a) Des natürlichen Willens.  
  Doch wir müssen vors andere die Natur des menschlichen Willen ins besondere nach denen unterschiedenen Stücken betrachten, und einen dreyfachen Stand desselbigen, als den natürlichen, den verderbten und verbesserten Stand in Erwegung ziehen. Was anlangt: den natürlichen Stand, so begreift derselbige alles dasjenige, was zu der Natur und Wesen des Willens erfordert, folglich auch bey einem jeden Willen angetroffen wird. Dieses kommt auf drey Stücke an:  
   
  {Sp. 61|S. 44}  
  Das Objectum ist allezeit entweder was gutes, oder was böses, davon jenes der Wille verlangt, dieses hingegen fliehet. Man muß aber hier die Sache nicht nach ihrer natürlichen Vortrefflichkeit ansehen, sondern sofern jemand etwas daran findet, so er vor gut oder böse hält, und daher eine Verwandtschafft mit seinem Glücke oder Unglücke hat, oder zu haben scheinet. Es ist auch gleich viel, ob das Gute ein wahrhafftiges, oder nur ein Schein-Gut ist, gnug daß der Wille gerühret wird; so bald man eine Sache vor was gutes ansieht, es mag die Erkenntniß gegründet, oder irrig seyn.  
  Aus diesem können wir eine vierfache Moralische Erfahrung erklären. Denn einmahl weiß man, daß die Menschen solche Dinge als was gutes lieben, suchen und darnach streben, die in der That was böses sind, und mehr ihr Unglück, als Glück befördern, z.E. wenn ein Wollüstiger eine ihm ungesunde Speise mit gröstem Appetit isset, welche ihm doch eine Kranckheit verursachet; indem sie aber solche ihnen schädliche Dinge verlangen, so erkennen sie dasjenige, was an ihnen böse ist, nicht, und halten sie vielmehr vor was gutes, indem sie solche blos nach der Sinnlichkeit betrachten.  
  So ist auch bekannt, wie unbeständig die Menschen in ihren Neigungen und Begierden sind. Das, was sie zu einer Zeit geliebet, achten sie zu einer anderen nicht mehr, oder hassen sie wohl gar, welche Veränderung nicht von dem Objecto, das an sich unveränderlich bleibt; sondern vielmehr von der Vorstellung, die man sich von demselbigen machet, herkommt. Denn im Anfange kan man sich an demselbigen fälschlich was gutes haben eingebildet, das man nachgehends bey reiffer Überlegung anders befunden und gesehen, es sey mehr schädlich als nützlich, wie man z.E. in der Jugend an manchen Dingen eine grosse Lust und Vergnügen hat, die man, wenn man zum mehrern Verstand kommt, gäntzlich hasset.  
  Noch weiter befinden wir bey der Erfahrung, daß offt bey einerley Sache die Neigungen der Menschen gantz unterschieden sind, daß was dem einen Lust erwecket, das achtet der andere nicht, und machte ihm wohl Unlust, folglich muß es der eine vor was gutes, der andere hingegen vor was böses halten. Ja die Erfahrung lehret, daß man sich durch leere Einbildungen Begierden erwecken kan, welches nicht nur offt in den Träumen geschiehet; sondern auch wenn ein Mensch wachet, und indem er seinen Phantasien nachhängt, sich bald eine vergebene Hoffnung, bald eine Freude, Furcht u.s.w. erreget, welches alles solche Umstände sind, die sattsam bekräfftigen, man müsse das Gute und Böse bey dem menschlichen Willen nicht nach seiner Natur, sondern nach der Einbildung und Vorstellung der Menschen betrachten.  
  Es ist ohnmöglich, daß der Wille das Böse, in so fern es böse ist, begehren, und vor dem Guten, in so fern es gut ist, einen Abscheu haben solte. Und wenn auch ein Mensch das Böse ergreifft, so thut er dieses entweder aus Irrthum, daß ers fälschlich vor was gutes hält, oder er will dadurch ein grösseres Übel wegräumen, und in so weit sieht ers vor gut an, so ferne er  
  {Sp. 62}  
  solches zu einem Mittel brauchen will, dem grössern Übel zu entgehen, z.E. Alle Menschen halten den Tod vor was böses, und gleichwohl finden sich Leute, die sich selbst um das Leben bringen; weil nun der Tod was böses, so dörffte man daraus schliessen, der Wille verlange dergleichen.  
  Man antwortete aber billig darauf: Ein Mensch, der sich selbst ums Leben brächte, sey entweder bey keiner Vernunfft mehr, und da könnte er freylich nicht unterscheiden, was gut oder böse sey, oder er habe noch seinen Verstand, als wenn ein Missethäter sich die Kehle abschneide, den man zu rädern willens gewesen, und dieser ergreiffe den Selbst-Mord, als ein Mittel, den grösten Schmertzen dadurch zu entgehen, und in so weit halte er ihn vor was gutes. Alle Menschen gestehen, daß die Zerstimmelung der Glieder was böses; wenn sich aber einer den Fuß, daran er den kalten Brand hat, ablösen lässet, um sein Leben zu erhalten, so begehrt er solche Ablösung in so weit als was gutes, daß sie zu einem Mittel, einem grössern Übel, welches der Tod ist, zu entgehen, dienen soll.  
  Die Würckungen des Willens sind nach dem zweyfachen Objecte, dem guten und bösen, zweyerley: Cupiditates und Aversationes. Denn wenn ihm was gutes vorgestellet wird, so neigt er sich zu demselbigen, und will sich mit ihm vereinigen, welches wir Begehren nennen; hat er aber was Böses vor sich, so flieht er davor, und zieht sich gleichsam zurücke, welches einen Abscheu tragen heisset. Woraus zu schliessen, daß in demselben so wohl eine Thätlichkeit als eine Leidenschafft anzutreffen.  
  Die Begierden sind überhaupt entweder cupiditates naturales oder arbitrariae. Jene, die natürlichen Begierden, gründen sich auf einen von Natur eingepflantzten Trieb, die allen Menschen gemein, und deswegen von GOtt eingepflantzet worden, daß sie desto eher ihrer Erhaltung sollen angetrieben werden.  
  Einige hat der Mensch mit dem unvernünfftigen Vieh gemein, und die zielen  
 
  • entweder auf die Erhaltung sein selbst, deren drey sind, als 
    • der Appetit, oder das Verlangen zu essen und zu trincken,
    • der Schlaf und
    • der Abscheu in vor allem demjenigen, was der menschlichen Natur nachtheilig;
  • oder sie gehen auf die Erhaltung des menschlichen Geschlechts, wozu GOtt auch einen zweyfachen Trieb in die Natur, geleget, als
    • die Lust zum Beyschlaf,
    • und die natürliche Liebe der Eltern gegen die Kinder, oder der Kinder gegen die Eltern.
 
  Einige von solchen Begierden hat der Mensch vor sich gantz allein, als die Begierde  
   
  welche Materie Rüdiger in der Anweisung zu der Zufriedenheit der menschlichen Seele weiter ausgeführet hat. Nach dem Falle sind diese Begierden in Unordnung gerathen, daher selbige die Menschen nach der Vernunfft einrichten und dirigiren müssen.  
  Die cupiditates arbitrariae, oder die willkührliche Begierden rühren von den Gedancken, und dependiren von der Determination des Verstandes, so fern eine Sache was Gutes, oder was Böses an sich hat, welche wir da-  
  {Sp. 62|S. 45}  
  her in unserer Gewalt haben, und nach dem Unterscheid der Menschen gar sehr unterschieden sind, z.E. Da sich jemand heute das schöne Wetter vorstellte, so bekam er Lust, heute spatzieren zu gehen, und das war eine cupiditas arbitraria, eine Begierde, die er sich durch seine Gedancken erreget; aber auch zugleich in seiner Gewalt hatte, daß, wie er sich die Lust spatzieren zu gehen erwecket hatte; also konnte er sich selbige durch eine andere Vorstellung, z.E. daß der Wind so starck gienge, wieder vergehen lassen.  
  Anders verhält sich die Sache mit den natürlichen Begierden. Denn da ist keine Determination des Verstandes nöthig; sie sind nach dem Unterscheid der Menschen nicht unterschieden, und denn hat man sie nicht in seiner Gewalt, daß wenn jemand bey dem Hunger Lust zu essen hat, so kan er sich solche durch keine Gedancken vergehen lassen.  
  Die willkührlichen Begierden theilen wir in cupiditates habituales und transitorias. Jene sind, wenn man nach einer gewissen Sache ein beständiges Verlangen hat, wie die Neigungen des Ehrgeitzes, der Wollust und des Geldgeitzes sind, die man auch propensiones zu nennen pflegt; die transitoriae hingegen entstehen nur zu gewissen Zeiten, und gehen bald wieder vorbey, die wieder entweder blosse volitiones sind, wenn man von ohngefehr zu etwas einen Lust bekommt, die eben so starck nicht ist; oder adfectus, wenn das Verlangen sehr hefftig, welche Materie von den Begierden und Affecten des menschlichen Willens schon oben in besondern Artickeln abgehandelt worden, die wir hier nur der Ordnung wegen kürtzlich haben mitnehmen müssen.  
  Auf solche Weise scheint die Sache mit den Würckungen des menschlichen Willens ordentlich vorgetragen zu seyn, wobey wir von der gemeinen Lehre, die wir nicht vor richtig befunden, abgegangen. Nach derselbigen betrachtet man  
 
  • erstlich die Fähigkeit des Willens, nebst den dahin gehörigen Eigenschafften,
  • und dann die Würckungen desselbigen, welche man wieder in gedoppelten Verstande nimmt:
    • einmahl in weitläufftigen, so ferne sie alle Regungen des Willens in sich fassen, folglich auch die Neigungen und Affecten begreiffen;
    • denn in engern, so ferne sie den Neigungen und Affecten entgegengesetzt würden, und alle Verrichtungen des Willens bedeuteten.
 
  Diese Verrichtungen werden nun eingetheilet  
 
  • in actus elicitos, welche in den Willen entstünden, auch darinnen zur vollkommenen Ausübung kämen,
  • und in actus imperatos, die zwar auch im Willen entstünden, und von ihm dirigirt würden, welche aber ordentlich der Leib zur Ausübung brächte,
 
  z.E. nähme ich mir vor spatzieren zu gehen, so sey der Vorsatz ein actus elicitus, gieng ich aber würcklich spatzieren, so hiessen dieses ein actus imperatus, der gleichsam von dem Willen dem Leibe anbefohlen worden.  
  Von jenen werden wieder sechs Arten gemacht,  
 
  • deren drey auf den Endzweck, oder auf das Gut so wir zu erlangen suchten, giengen, als
    • volitio, welches das Wohlgefallen, so man an dem erkannten Endzwecke habe;
    • intentio, so das Bemühen nach demselbigen und
    • fruitio, wenn man den Endzweck erlangt, und in dem Genuß des Guten stünde;
  • drey aber auf die Mittel, so zur Erhaltung

    {Sp. 64}

    des Endzwecks dienlich, als
    • consensus, wenn man versichert sey, daß diese oder jene Mittel, so zur Erlangung eines Endzwecks dienten;
    • electio, wenn man die Besten auslese,
    • und usus, wenn man selbige anwende und applicire.
 
  Diese Lehre halten wir in vielen Stücken vor ungegründet und unordentlich. Denn die gemeine Eintheilung der Würckungen des Willens in actus elicitos und imperatos kommt uns deswegen bedencklich vor, weil auch diejenigen Würckungen, die man als elicitos angiebt, in gewissen Stücken imperati sind, da die Imagination dem Gemüthe die Vorstellung von dem Objecto thut, vermöge welcher Vorstellung das Gemüth entweder eine Begierde, oder Eckel bekommen muß, welches eben die Leidenschafft des Willens ist; hernach werden bey dieser Eintheilung die Würckungen selbst des Willens und dasjenige, so darauf folgt, und wozu sie Gelegenheit gegeben, mit einander vermischet. Denn daß ich spatzieren gehe, solches kan ich eigentlich vor keine Würckungen des Willens ansehen, obschon freylich der Wille vorher gegangen, soferne ich mir vorgenommen, und den Schluß gefast hatte, spatzieren zu gehen.  
  Theilet man ferner die actus elicitos in sechs Arten ab, als in  
 
  • volitionem,
  • intentionem,
  • fruitionem,
  • electionem,
  • consensum und
  • usum,
 
  so werden hier die Würckungen des Verstandes und des Willens untereinander vermenget. Denn die electio ist ein Werck des Judicii, daß wenn vermittelst des Ingenii allerhand Mittel ausgesonnen worden, aus demselbigen durch Hülffe des Judicii die besten heraus gelesen werden; wie nun das Judicium beschaffen, nach dem geschicht auch die Wahl: consensus ist nur die Determination von der Election, und usus gehört zu dem Ingenio und Judicio zugleich, daß man das auserlesene Mittel applicire, da man denn wahrnimmt, daß nach der Beschaffenheit des Ingenii und Judicii auch die Application angestellet werde.  
  Die anderen drey, als  
 
  • volitio,
  • intentio und
  • fruitio
 
  halten eine Vermischung desjenigen, was so wohl bey der eigentlichen Würckung des Willens vorher geht, als nachfolget, mit der Würckung selbst in sich. Denn die volitio ist, wie man sie hier nimmt, eine angenehme Empfindung, und die daher entstehende Begünstigung; hierauf folgt die intentio, so die eigentliche Würckung, oder das Verlangen des Willens ist, worauf denn fruitio, oder der Genuß kommt.  
  Es folgen noch die Eigenschafften des menschlichen Willens, deren wir sonderlich bey den willkührlichen Begierden zwey antreffen. Einmahl können wir in unsern Willen nicht etwas wollen, oder nicht wollen, es sey denn ein Bewegungs-Grund vorhanden, daß nehmlich in dem Verstande eine Vorstellung vorhergegangen, wie sich an einer Sache entweder was gutes, oder was böses befinde, welches eben den Grund, oder die Ursach in sich hält, warum sich der Wille entweder zu etwas lencket, oder davon zurücke ziehet.  
  Diese Regul ist sattsam in der Erfahrung gegründet, und man wird keine Exempel aufweisen können, daß man bey solchen willkührlichen Bewegungen des Willens etwas gewolt, oder nicht  
  {Sp. 65|S. 46}  
  gewolt, ohne eine Ursache dazu zu haben. Zwar geschicht es öffters, daß man Dinge will, oder nicht will, ohne daß man vorher eine Vorstellung hat, und durch dieselbige den Grund erkennet; welches sich aber nur alsdenn zuträgt, wenn man schon öfters etwas gewolt, oder nicht gewolt, da sich der Wille alsbald regt, so bald nur einem die Sache vorkommt oder einfällt, ohne daß der Verstand vorher determiniret hat, ob an der Sache was gutes, oder was böses sey, z.E. wenn jemand schon öfters Caffe getruncken und befunden hat, daß er ihm wohl schmecke, und also daran was gutes angetroffen, so kriegt er eine Begierde, davon zu trincken, so bald ihm dieses Geträncke vor die Augen kommt, und er gedenckt nicht vorher, ob das selbige was gutes, oder was böses in sich hat.  
  Allein hier ist der Bewegungs-Grund schon ausgemacht, und wird gleichsam voraus gesetzet, daß weil der Mensch einmahl die Gedancken von dem Caffe hat, er sey was gutes, so braucht er nicht allezeit, so oft ihm dergleichen Sache vorkommt, sich neue Vorstellungen zu machen. Setzt man hingegen einen Caffe vor, der niemahls etwas davon gehört, noch denselbigen getruncken, so wird vorher, ehe er den Schluß faßt, davon zu trincken, eine Überlegung in dem Verstande geschehen, und wenn man genaue Achtung giebt, wird man befinden, daß einen eine Ursach zu solchem Schlusse bewogen hat.  
  Es liegt hier nicht dran, ob die Bewegungs-Gründe gegründet, oder ungegründet sind: jene sind judicieuse Vorstellungen, wenn man eine Sache, wie sie ihrer Natur nach beschaffen, als was gutes, oder als was böses betrachtet; Diese hingegen werden entweder blos nach der Sinnlichkeit, oder nach den Affecten eingerichtet, z.E. wenn man ein Essen, welches an sich der Gesundheit nicht zuträglich, deswegen vor gut hält, weil es einen angenehmen Geschmack erwecket; oder ein Ehrgeitziger hat eine Begierde, sich an seinem Feinde zu rächen, ob er sich schon dadurch in ein grösser Unglück stürtzet, da ihm denn den Bewegungs-Grund, als könnte er auf solche Art seine Ehre am besten retten, der Ehrgeitz, oder ein aus demselbigen entstehendes falsches Principium an die Hand giebt.  
  Weiter finden wir bey den willkührlichen Begierden diese Eigenschaft, daß der Mensch das Vermögen hat, sich selbige zu erregen, und wieder vergehen zu lassen. Wie sie durch eine Vorstellung erweckt werden, also müssen sie durch eine Gegenvorstellung, die einen gegenseitigen Bewegungs-Grund, der den ersten überwieget, in sich hält, gedämpfet werden, z.E. Jetzo habe ich Lust ein Buch zu kauffen, welche Lust diesen Bewegungs-Grund hat, daß ich solches bey einem Collegio, so ich ietzo höre,  wol brauchen kan; ich lasse mir aber die Lust vergehen, und kauffe selbiges nicht, welches auch seine Ursachen hat, weil ich gedacht, wie ich ietzo kein Geld übrig hätte, und das Buch von einem guten Freunde zu meinem Gebrauche auf eine Zeitlang könne geborgt bekommen. Dieser Bewegungs-Grund, warum ich das Buch nicht kauffen soll, überwiegt denjenigen, warum ichs kauffen soll, mithin da vorher in meinem Willen ein Wollen gewesen, so  
  {Sp. 66}  
  entsteht nunmehro ein Nichtwollen. Hierinnen beruhet eben die menschliche Freyheit, die wir eigentlich darinnen setzen müssen, daß der Mensch das Vermögen hat, sich eine Sache bald auf diese, bald auf jene Art vorzustellen, und dadurch den Willen bald dahin, bald dorthin zu lencken.  
  Das Wollen und Nichtwollen ist an sich in dem Willen allezeit nothwendig. Denn dieses ist die gemeine Eigenschaft des menschlichen Willens bey allen seinen Begierden, daß er eine facultas necessaria, das ist, er muß das Gute lieben und das Böse hassen, und in so weit kan man ihm selbst keine Freyheit beylegen, womit aber der Mensch seine Freyheit noch nicht verliert, indem es nur darauf ankommt, worinnen man dieselbige setzen soll, von welcher Materie wir in einem besondern Artickel: Willens, (Freyheit des) handeln wollen.  
     
  b) Des verderbten Willens.  
  So verhält sich der Wille nach seinem natürlichen Stand. Nun müssen wir auch 2) dessen verderbten Stand erwegen. Daß der menschliche Wille verderbt sey, kan ein ieglicher durch die eigene Empfindung der bey ihm aufsteigenden bösen Lüste und Begierden fühlen, und aus denen Folgerungen der Laster, die ihn unglücklich machen, erkennen. Seine Natur bringt mit sich, daß er das Gute liebt und das Böse hasset. Man hat wahre und Schein-Güter und Übel, unter denen eins grösser und wichtiger, als das andere seyn kan.  
  Wenn nun die Bewegungen des Willens so eingerichtet werden, daß er die wahrhaftigen Güter liebet, und die wahrhaftigen Übel hasset, und bey beyden eine Proportion zwischen diesen Bewegungen und den Objectis, darauf sie gehen, in Acht genommen wird, so sagt man, der Wille befinde sich in einem gesunden Zustande, in welchem er sich, philosophisch davon zu reden, allezeit nach der Vorschrift der gesunden Vernunft richten muß.  
  Aus diesen können wir leichte erkennen, worauf dessen Verderbniß oder Kranckheit ankomme, wenn nemlich seine Bewegungen unordentlich sind, sie kommen aber aus der Ordnung, wenn sich der Wille zu dem Bösen neiget und liebt, was zu hassen, und von dem Guten zurück zieht, und hasset, was zu lieben; ingleichen wenn man bey denenjenigen Gütern, die man lieben kan, und bey denenjenigen Übeln, welche zu hassen sind, keine Proportion hält, und unter andern ein geringes Gut mehr liebet, als ein grössers.  
  Bey solchen unordentlichen Bewegungen, welche das Verderbniß des menschlichen Willens ausmachen, sieht der Mensch vornemlich auf sich selbst, daher die Moralisten nicht unrecht lehren, wenn sie sagen, es bestehe die Kranckheit des menschlichen Willens in der verderbten Eigenliebe, da der Mensch sich selbst auf solche Art liebet, daß, da er sich glücklich machen will, er in der That seinen Zustand verschlimmert.  
  Dieses geschicht auf dreyerley Weise, als  
 
  • einmahl, wenn man diejenigen Mittel, durch deren Gebrauch man glücklich werden soll, als den Endzweck selber ansiehet, mithin die von GOtt ausersehene Glückseligkeit nicht erreichet, als wenn ein Geitziger aus Eigenliebe nach grossem Reichthum strebet, und gleichwol das Geld, so nur ein Mittel ist, nicht brauchet,

    {Sp. 67|S. 47}

    sondern solches nur als den Endzweck ansiehet,
  • hernach wenn man aus Irrthum schädliche Dinge vor was gutes hält, als wenn Wollüstige dencken, sie wolten ihrem Leibe durch den Gebrauch hitziger Geträncke was zu gute thun, da sie doch ihre Gesundheit damit verderben,
  • und denn, wenn man die Dinge, die zu lieben sind, nicht in gehöriger Ordnung liebt. Denn daß ein Mensch sich selber liebt, ist an sich nicht unrecht; liebt er sich aber mehr, als GOtt und seinen Nächsten, so wird durch diese Unordnung seiner Eigenliebe unvernünftig; oder daß man vor seinen Leib sorget ist gantz gut, zieht man ihn aber der Seelen vor, so wird dadurch diese Eigenliebe auch mangelhaft, welche Materie von der Eigenliebe oben im VIII Bande, p. 510 u.f. ausführlicher und ordentlicher vorgestellet worden.
 
  Aus solcher Eigenliebe entstehen unmittelbar die drey Haupt-böse Neigungen,  
 
  • der Ehrgeitz,
  • Geldgeitz und
  • die Wollust,
 
  die nichts anders als Arten derselben sind, und nach dem Unterscheid der Dinge, darauf sie gerichtet wird, modificiret werden, daß sie gleichsam bald diese, bald jene Gestalt annimmt. Denn fällt der Mensch mit seiner Eigenliebe auf Dinge, wodurch die Sinnen ergötzet werden, so heißt sie die Wollust; erlangt er dabey Sachen so zur Ehre gehören, so ist sie der Ehrgeitz, und wenn er sich zu Geld und Gut dabey neiget, der Geldgeitz. Dieses können wir auch daher sehen, daß ein jeglicher bey diesen Neigungen bemühet ist, sich ein Vergnügen zu machen, welches aus der Eigenliebe herkommt.  
  Nach diesen drey Neigungen entstehen die unterschiedenen Arten der Menschen in der Verderbniß ihres Willens, daß obwohl bey einem jeden Menschen alle drey Neigungen anzutreffen, sie gleichwol auf verschiedene Weise in ihrer Lebhaftigkeit unter einander vermischt sind, welches man das Naturell des Willens zu nennen pfleget. Denn nachdem die menschliche Natur durch den Fall so sehr verderbet worden, so werden alle Menschen mit einer unvernünftigen Eigenliebe, und insonderheit mit einer verderblichen Neigung zur Wollust, Ehre und Geld gebohren, dergestalt, daß solche Neigungen nunmehro allgemein und erblich worden, wovon oben der Artickel: Naturell des Willens, in dem XXIII Bande, p. 1251 u.f. zu lesen stehet.  
  Eine jede dieser Neigung hat gewisse Laster neben sich; Als wenn  
 
  • Wollüstige verschwenderisch, unmäßig, faul, leichtsinnig, schwatzhaftig, veränderlich;
  • Ehrgeitzige zornig, rachgierig;
  • Geldgeitzige mißtrauisch, lieblos, neidisch, und so ferner,
 
  sind.  
  Hiernächst siehet man alle Tage, daß, wie der Verstand, also auch der Wille des Menschen, nach dem Unterschied der Jahre und des Alters, unterschieden zu seyn pflege. Kleine Kinder lieben insgemein den Müßiggang, schlafen gern lange, haben ein gut Gedächtniß, sind in ihren Reden und Thun unbedächtig, u.s.w. Junge Leute sind offenhertzig, leichttrauisch, tollkühne, den Lüsten ergeben, belustigen sich an Sachen, so den äusserlichen Sinnen schmeicheln, depensiren gerne, u.s.w. die in männlichen Jahren fangen nunmehro an, ordentlich zu leben, sich auf Verrichtungen zu appliciren, gute Haushalter zu seyn, und so ferner. Wenn aber das hohe Alter eintritt, so werden die Leute karg, verdrüßlich, achten den Schlaf nicht,  
  {Sp. 68}  
  das Judicium beginnet abzunehmen, verachten die fleischlichen Lüste, und dergleichen.  
  Nehmen wir nun dieses alles zusammen, und erwegen, wie in dem Willen die unvernünfftige Eigenliebe sitzet, und aus derselbigen die drey bösen Neigungen aus diesen aber so viele Laster, und aus den Lastern so viele unvernünfftige würckliche Thaten entspringen, so können wir uns einen gar leichten Concept von dem Verderbniß des Willens machen. Solches ist was allgemeines, von dessen Ursprunge uns zwar die heilige Schrift einen deutlichen Unterricht ertheilet; wenn aber ein Philosophe mit seiner Vernunft über die Lehre vom Ursprung des Bösen kommt, so kan er wenig, oder nichts davon erkennen, wie oben in dem Artickel vom Bösen im IV Bande, p. 392 u.f. ist gezeiget worden.  
  Daß solches Verderben bey einem Menschen grösser, als bey den andern, und in der menschlichen Bosheit und Thorheit gewisse Stuffen angetroffen werden, solches rühret von besondern Ursachen her, nachdem iemand eine Auferziehung, Unterweisung und Umgang mit andern Leuten gehabt, wodurch das natürliche Übel kan vergrössert und verringert werden.  
     
  (c) Des verbesserten Willens.  
  Ist der Wille so sehr verderbt, so ist der Mensch, wenn er überhaupt verbunden, seinen Zustand vollkommen zu machen, auch verpflichtet, sich um die Verbesserung des Willens zu bemühen. Besonders haben Eltern dahin zu sehen, wie sie von Jugend auf den Willen ihrer Kinder verbessern, und ihnen eine Begierde nach dem Guten, hingegen einen Abscheu für dem Bösen, folglich eine Liebe zu der Tugend, und einen Haß gegen die Laster, bey Zeiten einpflantzen, auch alle Begierde zu dem Bösen und allen Widerwillen gegen das Gute, ausrotten mögen; Worzu Wolff in dem gesellschafftlichen Leben der Menschen, p. 71 u.f. Anweisung gegeben hat.
  Betrachten wir nun 3) den verbesserten Stand des Willens etwas genauer, so haben wir dabey zwey Stücke zu erwegen. Einmahl, wohin solche Verbesserung ziele, und denn: durch was vor Mittel selbige zu Stande zu bringen?  
  Die Absicht dieser Verbesserung kan zweyerley seyn, entweder daß man den Willen dahin zu bringen suchet, daß er in dem äusserlichen Thun und Lassen der Vorschrift der gesunden Vernunft folge; oder daß in demselbigen die bösen Triebe und Neigungen würcklich gedämpffet, und hingegen eine wahre Liebe gegen das Gute und deren Grade gepflantzet werde. Das letztere kan durch natürliche Mittel nicht bewerckstelliget werden, und wird dazu eine höhere Kraft, so die Natur übersteigt, erfordert, daß also ein Philosophe selbige nicht zum Zweck seiner Moral setzet, und sie vielmehr einen Theologen überlässet. Er suchet nur eine solche Verbesserung des Willens, daß der Mensch geneigt werde äusserlich einen erbaren und vernünftigen Wandel zu führen.  
  Es theilen sonst einige den Stand des Menschen in den viehischen, menschlichen und christlichen ein, und haben einige behaupten wollen, als wenn bereits Hyeronimus in dem Buche de viro perfecto von dieser Eintheilung  
  {Sp. 69|S. 48}  
  Meldung gethan, wie denn auch unter seinem Nahmen T. IV. oper. p. 32. in der Auflage, so zu Franckfurt am Mayn 1684 heraus kommen, ein Buch mit solchem Titel vorhanden; es ist aber ausgemacht, daß selbiges ihm fälschlich zugeeignet wird. Dem sey wie ihm wolle, so kan man diese Eintheilung, wenn sie recht erkläret wird, beybehalten, und hier so appliciren, daß man sagt, die Philosophische Verbesserung ziele dahin ab, daß sie einen Menschen aus dem bestialischen Stande in den menschlichen setze, und das geschicht, wenn man der Vorschrifft der gesunden Vernunfft folgt, und eine solche Herrschafft über die böse Neigungen und Affecten erlanget, daß sie äusserlich in grobe sündliche Thaten nicht ausbrechen.  
  Die Mittel, die hierzu können gebraucht werden, sind zweyerley. Etliche sind insonderheit von ein und dem andern Philosophen vor gut befunden worden, wie die alten Philosophen der Gymnosophisten und Pythagoräer ihre besondere Tugend-Übungen hatten, die dahin abgesehen, die Laster, vornemlich die Wollust, den Geldgeitz und denen Ehrgeitz zu zähmen, und unter den Fuß zu bringen.  
  Andere werden von der sich selbst gelassenen Vernunfft erkannt, und von einem vernünfftigen Philosophen vorgeschlagen. Diese theilen wir in gemeine und besondere, davon jene zu diesem Zwecke dienen müssen, daß man dem Willen überhaupt eine Neigung zu einem vernünfftigen Leben, mithin den Regeln der gesunden Vernunfft zu folgen, beybringe; jene aber zielen insonderheit zur Verbesserung eines besondern Moralischen Fehlers, Lasters und Affects ab.  
  Die allgemeinen können wir wieder in zwey Arten theilen.  
  Denn etliche sind schlechterdings nöthig, wodurch das Werck der Verbesserung selbst zu Stande gebracht wird, welche darauf ankommen, daß man kräfftige Vorstellungen des Guten und Bösen erlange, mithin muß der Wille durch den Verstand verbessert werden. Hiezu kan man nicht nur Regeln, sondern auch wahre und erdichtete Exempel brauchen, und an denselbigen die Bewegungs-Gründe dem Gemüthe vorstellen.  
  Äusserliche Zwangs-Mittel thun hier zur Sache nichts. Denn wenn gleich der Mensch aus Furcht vor dieselbige das Böse unterläst, und das Gute vollbringt, so thut er dieses doch nur gezwungen, und der Wille selbst wird dadurch nicht verbessert, der in dem wahrhafftig verbesserten Stand freywillig das Gute verlangen, und das Böse fliehen muß, welches weiter Wolff in den vernünftigen Gedancken von der Menschen Thun und Lassen ... ausgeführet. Siehe auch Desselben Nachricht von seinen eigenen Schrifften ...
  Andere Mittel der gemeinen Verbesserung erleichtern das Werck. Denn es wollen bisweilen die blossen Vorstellungen der Vernunfft, wenn sie auch noch so kräfftig sind, nicht hinreichen, den Willen zum Guten zu bringen, daher die Moralisten diese Regeln gegeben haben, man könne zu den Betrachtungen der Vernunfft die Vorstellungen der Affecten, die mit der Vernunfft in so weit auf gleichen Zweck zielten, nützlich hinzu fügen, um das Gemüth wider denjenigen Fehler, dem man widerstehe, desto stärcker einzunehmen.  
  Also sey es z. E. nicht unrecht, daß ein Mensch, der  
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  unter seinen Vollkommenheiten den Fehler an sich habe, daß er ein Knicker sey, und vermittelst blos vernünftiger Betrachtung nicht fähig, solchem Fehler abzuhelffen, ein und andere Reitzungen der Wollust, oder des Ehrgeitzes dabey zu Hülffe nehme, so viel nemlich die Vernunfft zu ihren Zwecke vor nöthig befinde. Es wären zwar solche Verrichtungen noch keine wahre Tugenden, weil sie nicht auf die bloß reine Vorstellung der Vernunfft zu des Menschen wahrer Glückseligkeit und zu anderer Nutzen nach GOttes Willen gegründet, sondern aus anderen eiteln Affecten herkämen; allein es sey doch sonder Zweiffel weit leichter, ein solches simulacrum virtutis, oder Schein-Tugend mit der Zeit in eine wahre Tugend zu verwandeln, und durch Abthuung der annoch anklebenden Eitelkeit, ihr die zu einer wahren Tugend erforderte Formalität der Vernunfft vollends zu geben, als wenn man ein in lasterhaftem Geitz ersoffenes Gemüth sofort unmittelbar und auf einmahl auf eine Tugend richten wolte.  
  Dieses Mittel läst sich nicht nur bey eintzeln Fehlern, wie in dem angeführten Exempel angegeben worden; sondern auch bey der gantzen Verderbniß des Gemüths brauchen, als wenn ein Wollüstiger seine ihm wegen der Wollust anklebende Fehler durch Erregung des Ehrgeitzes zu verbessern suchet; ob man aber damit so viel ausrichte, ist eine andere Frage. Denn Theologisch davon zu reden, so treibt man hier einen Teuffel durch den andern Teuffel aus, daß wenn man gleich unter anderen wollüstige Fehler durch Erregung des Ehrgeitzes wegschaffet, so kommen doch an ihre Statt in dem Gemüthe die ehrgeitzigen Fehler. Doch weil man hier nur auf das äusserliche sieht, und eine Neigung vor der andern durch die äusserliche Würckungen und Thaten schlimmer und schädlicher ist, so kan man in so weit dergleichen Verbesserung einräumen. Denn es ist endlich besser, wenn eine äusserliche grobe That, wie bey der Wollust Fressen und Sauffen unterbleibt, man mag nun dieses aus Ehrgeitz, oder aus einer andern Absicht thun, als wenn sie würcklich übernommen wird.  
  Ein solches Mittel ist auch dasjenige, daß man die anklebende Fehler nur nach und nach abzulegen, sich bemühen müsse, so daß man auf einmahl nicht mehr, als ein weniges davon wegthue, so viel man auf einmahl nach Proportion der Macht, die man über sich hat, beständig zu unterlassen gedencket. Denn solche anklebende Fehler sind allezeit Habitus; wie nun ein Habitus nicht anders als nach und nach durch unterschiedene auf einander folgende Grade sich angewöhnen lässet, deren jeder nur um eine Kleinigkeit höher ist, als der andere, also läst sich auch kein Habitus anders, als nach und nach durch unterschiedene auf einander folgende Stuffen abgewöhnen.  
  Man fängt von geringen an, und wenn man befindet, daß einem, hierinnen seinen Affect durch die Vernunfft zu zwingen, leichter mit der Zeit wird, so schreitet man nach und nach zu mehrern. Wie wenig man insgemein ausrichte, wenn man diese Regel hindan setzet, sieht man vielfältig an denen vergebenen Bemühungen derjenigen, die z.E. den Müßiggang, die Schwelgerey u.d.g. sich abzugewöhnen suchen, und dieses an sich selbst gute Vorhaben damit verderben, daß sie von nun an den gantzen Tag der  
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  Arbeit wiedmen, oder auf einmahl Muster der Mäßigkeit werden wollen, da man denn wenige siehet, die viel über eine Woche ausgehalten.  
  Nicht weniger gehört zu solchen Erleichterungs-Mitteln, daß man die Gelegenheit meide, wodurch die Neigung und Affecten äusserlich ausbrechen können. Denn sagt man sonst im Sprichwort: Gelegenheit macht Diebe, so kan man auch sagen: Gelegenheit macht Trunckenbolde, Hurer, Müßiggänger u.s.f. welches seine natürliche Ursachen hat. Durch die Gelegenheit kommen einem allerhand Objecta vor die äusserlichen Sinnen, welche die Empfindungen; die Empfindungen die Gedancken, und die Gedancken die Begierden reitzen.  
  Bey der besondern Verbesserung des Willens, welcher auf eintzelne und besondere Fehler gerichtet, wenn man z.E. seine Neigung zum Zorn, zur Unmäßigkeit ablegen will, können auch die gemeinen Mittel, wie wir sie jetzo vorgestellt, gebraucht; aber auch zugleich noch besondere, die aus der Natur des abzulegenden Fehlers fliessen, und besondere Bewegungs-Gründe abgeben müssen, genommen werden, welche sich hier nicht erklären lassen. Eine solche natürliche oder Philosophische Verbesserung ist von keinem sonderlichen Nachdruck. Denn wenn man gleich den Neigungen und Affecten dadurch den Weg verlegen kan, daß sie äusserlich in grobe Schandthaten nicht ausbrechen, so kan man doch die Kranckheiten des Gemüths selbst nicht heilen, noch die Laster aus dem Grunde heben; Und daher müssen die Theologischen Mittel darzu genommen werden.  
  Es wird aber diese Verbesserung des Willens in der Schwachheit dieses Lebens, auch durch die Theologischen Mittel, zu keiner solchen Vollkommenheit gebracht, als die Fanaticker sich fälschlich einbilden. So wird z.E. in der Berlenburgischen Bibel, und zwar deren erstem Theile, von 1726, bey 1 B. Mos. I, 28. gelehret:  
  "Wie Christo alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben, so habe auch der Mensch, welcher sein Ebenbild und lebendiger Ausdruck sey, alle Macht auf Erden, und deswegen befinde er sich in der Übergabe, Vereinigung und Verwandelung seines Willens, in den göttlichen, so befestiget, daß er gar keinen eigenen Willen in sich mehr finden könne. Christus würde uns nicht befohlen haben, im Vater Unser zu beten: Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden; wenn es nicht möglich wäre, diese Versenckung des Willens in GOttes Willen hier in dieser Welt zu erlangen, wie es die Seligen in dem Himmel besitzen." Unschuld. Nachr. von 1727, p. 1170 u.f.
     

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HIS-Data 5028-57-59-6-01: Zedler: Wille des Menschen [1] HIS-Data Home
Stand: 5. April 2013 © Hans-Walter Pries