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Quellenangaben |
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IV Von der Politischen
Wahrscheinlichkeit.¶ |
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Die Politische Wahrscheinlichkeit, von der
schon oben in dem XXIIX
Bande,
p. 1230 u.f.
gedacht worden ist, die wir aber allhier etwas
ausführlicher abhandeln müssen, hat die
menschl.
Thaten zu ihrem
Objecte, deren
Wesen, Absichten
und Moralische
Grund-Ursachen zu
untersuchen
sind. Wer darinnen eine
Geschicklichkeit erlangt,
der hat einen guten
Grund der
Klugheit zu leben,
und insonderheit einen
vernünfftigen
Umgang mit
andern Leuten zuhaben, welches die
Ursache,
warum diese Wahrscheinlichkeit die Politische
genennet wird. |
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Indem wir sagen, es beruhe auf dieser
Wahrscheinlichkeit die Klugheit zu leben, folglich
ein grosser Theil des menschlichen
Glücks und
Unglücks, so haben wir von ihrem
Nutzen gnug
gesaget. Denn hiedurch
erkennen wir, wie weit
uns Jemand nützlich, oder
schädlich, seyn kan,
folglich, so lange wir unter andern Menschen
leben, und durch dieselben unser Glück in der
Welt mit machen müssen, haben wir dadurch
Gelegenheit, uns in die Leute schicken zu lernen,
damit sie uns nützen, oder doch nicht schaden
mögen. |
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Der vielfältige Unterschied, den wir in den
Thaten und
Arten zu verfahren |
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{Sp. 1052} |
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bey unterschiedenen Menschen gewahr
werden, zeiget sattsam an, daß sie aus
unterschiedenen Grund-Ursachen entspringen
müssen. Alle Ursachen aber, durch welche das
menschliche
Gemüth zu willkührlichem
Thun
determiniret wird, lassen sich füglich unter
folgende, deren eine aus der andern ordentlich
entstehet, bringen: |
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Die erste und näheste ist ein gewisser
Zweck,
wegen welches das Gemüth zu einer
That sich
entschliesset, und sie auf denselben abrichtet;
Welcher allezeit etwas zukünfftiges ist. |
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Die andere ist die
antreibende Ursache,
(Causa impulsiva) durch welche das Gemüth,
solchen Zweck sich vorzusetzen, determiniret
wird; Welche allezeit etwas gegenwärtiges ist:
Und zwar theils ein in dem Gemüthe erregter
Affect, welchen man die innerliche antreibende
Ursache, (Causam impulsivam internam, oder [ein
Wort Griechisch]) nennet; Theils das Object, oder
vielmehr dessen
Idee in dem
Verstande, die den
Affect erreget, welche die äusserliche, (externa,
oder [ein Wort Griechisch]) heisset. |
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Folglich können wir alsdenn
sagen, daß wir
das moralische
Wesen der
Thaten, oder des
Verfahrens der
Menschen, verstehen, wenn wir
erstlich die
Zwecke, wegen welcher sie sich zu
gewissen Thaten entschliessen, zweytens die
Affecten, durch deren Trieb sie solche Zwecke
suchen, drittens die
Ideen, oder Vorstellungen des
Verstandes, durch welche die Affecten erreget
werden, einsehen. |
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Nun ist die Beschaffenheit, oder Fähigkeit,
des Verstandes, in Ansehung des Gedächtnisses,
Judicii und Ingenii, so wohl von der
Natur, als
auch in Betrachtung der Cultur, in so unzähligen
Gemüthern auf unzähliche Art unterschieden,
daher leicht zu erachten ist, daß, nach solchem
Unterschiede, die Überlegungen des Verstandes,
welche die Menschen anstellen müssen, ehe ihre
menschlichen Thaten aus denselbigen
entspringen, nicht in aller Menschen Gemüthern
einerley seyn können. |
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So sind auch die Affecten des
Willens, unter
welchen die drey herrschenden oder Haupt-Neigungen,
Wollust,
Ehrgeitz und
Geld-Geitz, der
Brunnquell der übrigen sind, in so vielerley
Gemüthern, von unterschiedener Stärcke und
Lebhafftigkeit. Dahero dann erfolget, daß, nach
den obgedachter massen, die Überlegungen des
Verstandes und Reitzungen der Affecten
unterschiedlich sind, die Menschen zu
unterschiedenen Zwecken sich entschliessen;
Welche Entschließungen so dann in eben so
vielerley äusserliche Thaten, und Arten zu
verfahren, ausbrechen. |
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Keine, von allen obgedachten Absichten,
Anschlägen, Überlegungen, Affecten, oder
Zuneigungen, und Entschliessungen der
Menschen zu gewissen Zwecken, die der Grund
ihrer Thaten sind, fället zugleich mit ihren Thaten
in die
Sinne, sondern sie sind in dem Innersten
ihres Hertzens verborgen. Über dieses ist das
Stellen und Verstellen der Menschen so gemein,
daß in dem menschlichen Verstande immer ein
und der andere Zweiffel übrig bleibet. Folglich kan
hier kein anderer
Schluß, als ein wahrscheinlicher,
Statt haben, in dem keine gewissen
Principia
vorhanden sind, sondern nur aus gewissen
Kennzeichen geschlossen werden muß, so, daß
noch allezeit eine gegenseitige
Möglichkeit statt
haben kan. |
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Es irren demnach diejenigen, welche in dieser
Kunst so weit gekommen zu seyn sich düncken
lassen, daß sie einem des andern Gemüths- |
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{Sp. 1053|S. 540} |
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Beschaffenheit gantz genau, nach allen
Graden, auf eine untrügliche Gewißheit,
entdecken wollen. Da wir nun aber gleichwohl, zu
kluger Einrichtung unsers Verfahrens, immerfort
von nöthen haben, von den Absichten anderer,
und von dem Grunde derselben, bey Zeiten
Nachricht zu haben: So müssen selbige unstreitig,
in Ermangelung mehrerer Gewißheit, nach den
Regeln der Wahrscheinlichkeit, aus der
Übereinstimmung gewisser Umstände,
erforschet
werden. |
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Es ist daher die Politische Wahrscheinlichkeit
diejenige
Art der Wahrscheinlichkeit, durch welche
wir, aus der Übereinstimmung gewisser Umstände
der Menschen, ihre
Gemüths-Arten, Absichten,
und geheimen Anschläge, vermuthen. Man
betrachtet hierbey: |
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1) |
Die
Sache, welche man
hier wahrscheinlich
erkennet. |
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Die verborgenen
Anschläge der Menschen sind die zu
vermutenden Hypotheses; Und wir haben so wohl
auf etwas gemeines, als auf etwas besonders, zu
sehen. |
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Das Gemeine ist
überhaupt die innerliche Gemüths-Art eines
Menschen, so fern sich selbige auf den
Verstand
und
Willen beziehet: Da wir denn die Art seiner
daher entspringenden Anschläge insgemein, ohne
Absicht auf eine besondere Begebenheit, zu
entdecken suchen. Was den Verstand anlanget,
so ist die Beschaffenheit oder Fähigkeit
desselbigen in Ansehung des Gedächtnisses,
Judicii und Ingenii so wohl von
Natur, als auch in
Betrachtung der Cultur in so unzähligen
Gemüthern auf unzehliche Art unterschieden. |
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In Ansehung des Willens
sind die drey Haupt-Neigungen,
Wollust,
Ehrgeitz
und
Geldgeitz auch in so vielerley Gemüthern von
unterschiedener Stärcke und Lebhafftigkeit.
Solche Gemüths-Art überhaupt untersuchet man
bey dieser Wahrscheinlichkeit, wie selbige so wohl
von Natur, als Cultur beschaffen, daß man
erkenne, |
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- ob jemand
vernünfftig
oder unvernünfftig; von einem guten oder
schlechten Judicium; von einem lebhafften oder
schläffrigen Ingenio; von einem hurtigen oder
langsamen Gedächtnisse sey:
- Ob man Ehrgeitzig
oder wollüstig, oder geldgeitzig, oder
gewinnsüchtig sey;
- wie weit man
Meister seiner
Affecten, sey,
- und wie weit es ein Mensch in der
Cultur der Gaben seines Verstandes gebracht
habe;
- wie gerecht und redlich, oder ungerecht,
falsch und boshafft; klug oder arglistig, oder alber;
weise, oder unweise,man sey?
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Dergleichen generale
Hypothesin, von der
Gemüths-Art eines Menschen
insgemein, nennet man sein Portrait, Genie,
Character, und
moralisches Temperament. Dieses
Temperament, oder die Vermischung der
unterschiedenen Fähigkeit, in Ansehung ihrer
Lebhafftigkeit unter einander, betrachten wir |
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a) |
an und vor sich selbst. |
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Der menschliche Verstand ist, wie gedacht, mit
drey Fähigkeiten, als dem Gedächtnisse, Ingenio, und Judicio versehen,
welche in Ansehung ihrer Lebhafftigkeit, auf dreyerley Arten vermischet
seyn können; |
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- Daß einmahl nur eine von diesen dreyen die Oberhand habe,
- hernach zwey in gleichem Grade stehen,
- und dann alle drey in gleicher Lebhafftigkeit sich befinden.€
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In dem
Willen sind die drey Haupt-Neigungen
Ehrgeitz,
Geld-€ |
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{Sp. 1054} |
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geitz
und
Wollust,
welche eben, wie bey dem Verstande, auf dreyerley Art, ihrer
Lebhafftigkeit nach, vermischet seyn können. Wer demnach unter andern
weiß, daß Sempronius, dem Verstande nach, sehr
judicieus, mittelmäßig ingenieus, und mit dem Gedächtnisse schlecht
versehen; In dem Willen, in dem höchsten Grade hochmüthig, mittelmäßig
wollüstig, und am geringsten Geldgeitzig sey, der weiß dessen
Gemüths-Beschaffenheit. |
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b) |
In Relation gegeneinander, da man die
Beschaffenheit des Verstandes und Willens gegen einander halten muß, daß
man weiß, ob ein Mensch, bey seinem Ehrgeitze, judicieus, oder nicht
sey, u.s.w. |
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Diese Erkänntniß solcher
Verknüpffung ist um
desto nöthiger, weil die Neigungen in dem Willen, durch die Fähigkeiten
in dem Verstande, gar sehr gestärcket und modificiret werden können. Daß
also ein Hochmüthiger, der Verstand darbey hat, noch einmahl so mächtig,
einem entweder zu helffen, oder zu schaden, als ein anderer, der, bey
seinem Hochmuthe, dumm und einfältig ist. |
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Zwar pfleget man insgemein die drey Fähigkeiten
des Verstandes, nach den drey Neigungen in dem Willen, so zu ordnen, daß
das Judicium bey dem Ehrgeitzigen, das Ingenium bey dem Wollüstigen, und
das Gedächtniß bey dem Geldgeitzigen sey; Allein es ist dieses nicht
allgemein, und man hat aus der
Erfahrung
viel gegenseitige Exempel. |
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Die andere oder speciale
Art der politischen Wahrscheinlichkeit, zeiget sich
bey allen besondern vorfallenden Begebenheiten,
da, aus dem Grunde der
Gemüths-Art eines
Menschen, ingleichen der gegenwärtigen
Conjuncturen, und seines würcklichen Bezeigens
bey denselben, vernünfftig zu vermuthen ist, wie
er, bey einer gewissen jetzt vorfallenden
Begebenheit, vielleicht gesinnet seyn möge; Was
vor Überlegungen er wohl dabey, allem Ansehen
nach, haben möge; Was vor Erregungen der
Affecten dabey in ihm entstehen, und was vor
Absichten er wohl, nach aller Wahrscheinlichkeit,
dabey haben müsse. |
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2) |
Der
Grund bestehet in
dieser politischen Wahrscheinlichkeit ebenfalls in
der Übereinstimmung gewisser Umstände,
wodurch wir hier
moralische Umstände, oder das
äusserliche Verfahren, verstehen: Mit Zuziehung
der Sachen, oder Begebenheiten selbst, in
Ansehung deren sich solches Verfahren
äussert. |
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Nach dem zweyfachen
Objecte, so vermuthet wird, sind also die
Umstände unterschieden. Denn die
Gemüths-Arten eines Menschen schliesset man aus
solchen Umständen, die dessen
Reden und
Thaten betreffen; Fallen nun besondere
Begebenheiten vor, und man will vermuthen, wie
sich ein Mensch dabey aufführen, was er vor
Absichten führen, vor Rathschläge und
Überlegungen anstellen, werde, wie sich die
Affecten bey ihm verhalten dürfften, so lässet sich
dieses gar wahrscheinlich aus der erkannten
Gemüths-Art schliessen. Denn die würcklichen
Thaten und die Gemüths-Art verhalten sich
gegeneinander, wie eine
Würckung gegen ihre
Ursache, daß daher man von der Gemüths-Art auf
die Verrichtungen, und von diesen wider auf die
Gemüths-Art, schliessen kan. |
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Die nöthigsten
Regeln,
die etwa bey der politi- |
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{Sp. 1055|S. 541} |
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schen Wahrscheinlichkeit
zu beobachten sind, gehören zwar eigentlich zu
den Grundlehren der
Klugheit überhaupt und
insonderheit der
Erkänntniß der menschlichen
Gemüther; Weil sie aber daselbst nicht
abgehandelt worden sind, wollen wir sie allhier,
nach dem Exempel der vorhergehenden Arten der
Wahrscheinlichkeit, mit wenigem berühren. |
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Unsere erste Anmerckung
wird theoretisch seyn: Aus was für
Zeichen des
Gemüths-Beschaffenheit zu
erforschen sey? Bey
der Erkänntniß der Fähigkeiten und
Kräffte des
Verstandes, und zwar erstlich des Gedächtnisses,
ist zu mercken, daß derjenige, welcher in
Auswendig-Lernung gewisser Gedächtniß-Mittel,
dahin die Gedächtniß-Bilder gehören, von nöthen
hat, keine sonderliche Gedächtniß-Krafft besitzet,
sondern, wann ihm solche zustatten kommen, an
dem Ingenio mehr vermag. |
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Wer dasjenige, was er
verstehet, leichter erlernet, als das, was er nicht
verstehet, dessen Gedächtniß ist nicht so gut,
sondern mit dem Judicio
verknüpffet. Wer eben so
leichte dasjenige, was er nicht verstehet, als was
er verstehet, ohne Beyhülffe gewisser Bilder,
erlernet, dessen Gedächtniß wird entweder das
Ingenium, oder das Judicium bey sich haben. Wer
leicht etwas erlernet, und schwer vergisset,
dessen Gedächtniß ist an sich selbst sehr gut, und
zeiget entweder eine
Verknüpffung des Ingenii,
oder des Judicii, an. Wer etwas schwer erlernet,
und nicht leicht vergisset, dessen Gedächtniß ist
ebenfalls an sich sehr gut, einen solchen
Menschen fehlet es aber an dem Ingenio und
Judicio. |
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Was das Ingenium betrifft,
so kan man solches insonderheit an den Schertz-
Reden, die Jemand vorbringt, erkennen. Wer viel
schertzet, bey dem stehet das Ingenium entweder
oben, oder in der Mitte. Kommen einige Schertze
ungeschickt heraus, so ist es eine Anzeige, daß
ein solcher Mensch nicht gnugsames Judicium
habe; Ist dieses aber nicht, so kan man
schliessen, daß er so wohl ein Ingenium, als
Judicium, besitze: Und wenn er sich derselben
öffters, jedoch auf eine geschickte Art, bedienet,
so erhellet hieraus, daß bey ihm das Ingenium
lebhaffter, als das Judicium, ist. Die satyrische
Schreib-Art, wenn sie ungezwungen, fliessend
und natürlich ist, die Erdichtungen, die Poeterey,
die Verschlagenheit, sind ebenfalls Anzeigen
eines lebhafften Ingenii; Und je grösser jemand
ein Narr ist, je mehr Ingenium, und je weniger
Judicium, hat er. |
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In Ansehung des Judicii,
hat derjenige, welcher abstracte Sachen
verstehet, demonstrative Wahrheiten
erfinden, die
Wahrheiten einsehen und beurtheilen kan, ein
gutes Judicium. Wer in Erfindung wahrscheinlicher
Wahrheiten glücklich ist, bey dem ist das
Ingenium mit dem Judicio vermischet. Wer das
wahrscheinlich-Wahre mit dem gewiß-Wahren
vermischet, schlechterdings vor dem
Disputiren
einen Abscheu hat, die wahre
Philosophie
verachtet, (wofern dieses nicht aus einem
Vorurtheil geschiehet) derselbe ist mit einem sehr
schlechten Judicium versehen. |
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Die Hof-Leute müssen ein
gutes Ingenium, die Rechts-Gelehrten ein gutes
Judicium, der Pöbel ein Gedächtniß, die |
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{Sp. 1056} |
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Theologen ein Judicium
und ein Gedächtniß, die Medici ein Judicium und
Ingenium, und die
Philosophen alle drey
Fähigkeiten, in guter Lebhafftigkeit haben. |
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S. Rüdigern in Institut.
Erudition. p. 599. u.ff. Ausg. 3. |
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Von welcher
Materie auch
nachzulesen sind: |
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- Janus Huartus, in
Scrutinio ingeniorum,
- Richerius, in Obstetrice
animor.
- Tuldenus, de Cognitione sui …
- Lange, in
Protheoria Erud. human.
- nebst
andern.
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Was den
Willen betrifft, so
pfleget man hier allerhand Kennzeichen, deren
man sich bedienen soll, anzugeben, und solche in
die natürliche und
moralische, und die natürlichen
wieder in solche, die mit den
Neigungen
eine
Verwandtschafft haben, und in die, da dergleichen
Verwandtschafft nicht ist, einzutheilen. |
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Zu denjenigen
Kennzeichen, welche mit den Neigungen eine
Verknüpffung haben, rechnen sie |
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Das Temperament soll
man aus |
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- der Farbe des Gesichts,
- der Sprache,
- den Augen,
- Leibes-Gestalt,
- Beschaffenheit der Haut,
- aus dem Gang,
- u.s.w.
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Die Farbe anlangend, so
soll ein Cholericus schwärtzlich und röthlich, ein
Melancholicus schwartz und blaß, ein
Sanguinischer weiß und roth, ein Phlegmatischer
weiß und blaß, aussehen. |
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Ein Cholerischer soll
männlich, helle, geschwinde, ein Melancholischer
männlich, rauh und langsam, ein Sanguinischer,
weibisch, helle, geschwinde, ein Phlegmatischer
weibisch, rauh und langsam
reden. |
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Ein Cholericus sieht
ernsthafft und munter, ein Melancholischer
mürrisch und matt, ein Sanguinischer freundlich
und munter, ein Phlegmatischer freundlich und
matt. |
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Ein Cholerischer und
Melancholischer ist hager, ein Sanguinischer
mittelmäßig fett und wohl gewachsen, ein
Phlegmatischer sehr fett und schwülstig. |
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Ein Cholerischer fühlet
sich hart und warm, ein Melancholischer hart und
kalt, ein Sanguinischer weich und warm, ein
Phlegmatischer weich und kalt an. |
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Ein Cholerischer gehet
steiff und gravitätisch, ein Sanguinischer lustig
und hurtig, ein Phlegmatischer verdrossen und
negligent, ein Melancholischer geschwinde und
auch negligant. |
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Auf solche Weise,
sagen
sie nun, wenn man weiß, dieser oder jener, habe
ein sanguinisches Temperament, er ist sehr
weichlich erzogen worden, ist mit lauter üppigen
Leuten umgegangen, befindet sich in dem
Jugend-Alter, und lebet jetzo auf der
Universität,
u.s.w. So konnte man wahrscheinlich schliessen,
er müsse der Neigung zu der
Wollust, und den
damit verknüpfften
Begierden, ergeben seyn. |
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S. Heumann, in Polit.
Philosoph. Cap. 3. |
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Die
Zeichen, welche mit
denen Neigungen keine Verwandtschafft haben,
sind die, welche kurtz vorhero, bey
Erforschung
der Temperamenten, angegeben worden
sind. |
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Die
moralischen
Kennzeichen sind besser beschaffen, welche
hauptsächlich auf die Werthe und
Wercke
ankommen. Denn wessen das Hertz voll ist, gehet
der Mund über, und an ihren Früchten solt ihr sie
erkennen, heißt es aus dem Munde der ewigen
Weißheit. Ein jeder redet am liebsten und meisten
von dem, was mit sei- |
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{Sp. 1057|S. 542} |
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ner
Neigung
übereinkommt. Die Discourse eines
Wollüstigen,
handeln von dem Schmaussen, Spatziergehen,
schönen Raritäten, Spielwercken, Frauenzimmer;
eines
Geitzigen, von theuren u. wohlfeilen
Zeiten,
von Haußhaltungs-Sachen; eines
Ehrgeitzigen,
von Staats-Dingen. |
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Eben so ist es mit den
Wercken beschaffen, weil ein jeder dasjenige am
meisten thut, wozu er von seiner herrschenden
Meynung getrieben wird. Ein Wollüstiger
liebet
Gesellschafften,
Frauenzimmer, Essen und
Trincken; ein Geitziger bekümmert sich um sein
Interesse; Und ein Hochmüthiger um das, so ihm
Ehre bringt. |
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Es rechnen auch einige
zu den Kennzeichen die Kleidung, derselben
Farbe Manier, die
Bücher, die man lieset, die
Meublen und derselben
Ordnung, ingleichen das
Urtheil anderer von einer
Person, wiewohl dieses
letztere ohne
Grund hieher gezogen zu werden
scheinet. Denn eröffnen uns andere Leute blos ihr
Urtheil von einem
Menschen, so wär es eine
Einfalt, wenn wir das von einem andern Menschen
gefällte Urtheil annehmen wolten: Erzehlen sie
uns aber die Verrichtungen einer Person, und
machen darüber ihre Glossen, so können wir wohl
einige Merckmahle daraus nehmen, welche uns
einige
Idee von der Person geben können; Aber
unser
Schluß gründet sich im geringsten nicht auf
ihr Urtheil, sondern vielmehr auf die
Thaten,
welche erzehlet worden sind. |
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Die andere Betrachtung
ist eine practische, wie man sich nun zu verhalten
habe, wenn man anderer Gemüths-Beschaffenheit
ausforschen will. In diesem Stück haben wir
zweyerley Leute für uns. Etliche handeln in ihren
Reden u. Verrichtungen offenbar nach ihren
herrschenden
Neigungen; welches wieder auf
zweyerley Weise, in Ansehung der gedoppelten
Offenhertzigkeit, geschiehet. Denn einiger ihre
Offenhertzigkeit entspringet aus Unverstand;
anderer ihre aber aus einer vertraulichen
Liebe,
wie zwey treue Ehegatten sich gegen einander
nicht zu stellen, noch zu verstellen pflegen; und
bey diesen Leuten hat man keiner grossen
Kunst
nöthig, hinter ihre herrschenden Neigungen zu
kommen. |
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Andere hingegen pflegen
sich zu stellen u. zu verstellen, u. wollen
insonderheit ihre herrschenden
Paßionen
verbergen und halten mit denenjenigen Reden u.
Verrichtungen zurück, wodurch sie verrathen
werden könnten um eine gute Opinion entweder
zu erlangen, oder die erlangte zu erhalten, für
welche wir aber, durch die Kundmachung der
herrschenden Neigung,
Nachtheil besorgen, daher
man auch wahrnehmen wird daß man in diesem
Falle sonderlich vor diejenigen vor welche man
Respect hat, und an deren Gunst einem was
gelegen ist, sich zu stellen und zu verstellen
gewohnet ist. |
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Eben deswegen, weil die
Menschen, durch das Stellen u. Verstellen, mit
ihrem
Gemüthe hinter dem Berge halten, braucht
man die Kunst die menschlichen Gemüther zu
erforschen, welche auf drey Stücke
ankommt; |
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Erstlich ist die
Aufmercksamkeit nöthig, daß jemand auf anderer
Leute Reden und Thaten fleißig Achtung giebet,
und dabey bemühet ist, hinter die Absichten eines
Menschen zu kommen. |
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Zweytens die
Klugheit,
welche hier hauptsächlich darauf ankommt, daß
man solche Gelegenheiten mit Leuten, die wir
ausforschen wollen, umzugehen absiehet, da sie
ihr Stellen und Verstellen gemeiniglich an den
Nagel hängen, dahin solche Conversationen
gehören, da die Gesell- |
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{Sp. 1058} |
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schafften meistens aus
gleichen Personen bestehen, ingleichen das
Spielen, die Schmaussereyen, dabey die
Menschen offt ihren Neigungen verrathen; nur
muß man es sich nicht mercken lassen, daß man
das Absehen habe, andere auszuforschen. |
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Drittens die
Scharffsinnigkeit, daß wir die Kennzeichen, als die
Reden u. Thaten, wohl appliciren, und den
Unterschied der Menschen, in Ansehung ihres
Standes,
Alters,
Geschlechtes, nicht aus den
Augen setzen, Insonderheit sind dabey
unterschiedene Cautelen zu mercken: |
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- Man soll niemahls aus ein
und dem andern
Zeichen allein schliessen,
sondern sehen, ob deren viele mit einander
übereinstimmen.
- Man soll niemahls aus einem
eintzigen
Wercke und einer besondern
That
urtheilen, weil offt die unterste
Leidenschafft,
durch ausserordentliche Zufälle, gereitzet worden
seyn kan.
- Man vermische die Schein-Tugenden
nicht mit wahren
Tugenden, und wisse, daß
manche Schein-Tugend aus verschiedenen
Neigungen kommen könne.
- So hat man auch zu
unterscheiden, ob etwas von der
Natur, oder
Gewohnheit herrühre.
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Es können von dieser
Materie nachgelesen werden: |
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- Scipio Claramontius, de
conjectandis cujusque moribus et latitantibus
animi affectibus, in 10 Büchern, Venedig 1625,
welche
Conring wieder auflegen lassen,
Helmst.1665.
- Edo Neuhusens, in Theatro ingenii
humani … in zwey Büchern, Amst. 1664.
- de la
Chambre, in der
Frantzosischen
Schrifft:
l'art de
connoitre les hommes, Amst. 1660, in deren
andern Theil er die Kennzeichen durchgehet,
daraus man die Menschen kennen lernen müsse.
- Christian Thomasius, in der neuen Erfindung einer
wohlgegründeten Wissenschafft, das Verborgene
des Hertzens anderer Menschen, auch wider ihren
Willen, aus der täglichen Conversation zu
erkennen, welche Schrifft er besonders 1691.
heraus gab, und sie nachgehends in die
Sammlung seiner allerhand bisher publicirten
kleinen deutschen Schrifften, ... brachte. Tentzel
stellte darüber in den monatlichen Unterredungen,
1692 … eine Censur an, welches Thomasio
Gelegenheit gab, in eben dem Jahre, weitere
Erläuterung durch unterschiedene Exempel des
ohnlängst gethanen Vorschlages, wegen der
neuen Wissenschafft, anderer Menschen
Gemüther erkennen zu lernen, zu ediren.
- Julius
Bernhard von Rohr, in dem Unterricht von der
Kunst, der Menschen Gemüther zu erforschen,
1713. und 1715.
- Joh. Georg Leutmann, in einem
deutschen Tractat: Nosce te ipsum et alios,
genannt, der das andremahl 1723.
herausgekommen ist.
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Es können auch
verschiedene Dissertationen beygefüget werden.
Als |
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- Mülleri,
Utrum ex facie
hominis de animi inclinatione judicium ferre liceat?
Wittenb. 1676.
- Heineccii, de incessu animi indice.
- Und diejenige, welche, unter Johann George
Walchs Präsidio, de arte aliorum animos
cognoscendi, 1723. gehalten worden ist.
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Nicht weniger hat auch
diese Art der Wahrscheinlichkeit |
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3) |
ihre Grade, die nach der
Vielheit und Ermangelung der dabey nöthigen
Umstände, und ihrer Übereinstimmung mit dem
was hier wahrscheinlich zu erkennen,
abzumessen sind.¶ |
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V. Von der Practischen
Wahrscheinlichkeit.¶ |
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Es ist noch die Practische Wahrscheinlichkeit
zu |
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{Sp. 1059|S. 543} |
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erwegen, welche mit allen
Arten der
natürlichen und
moralischen
Dingen zu thun hat,
sofern sie nach dem betrachtet werden, was
künftig aus ihnen dürfte erfolgen. Eine solche
Erkänntniß nennet man eine Muthmassung, oder
eine Vermuthung, in engerem
Verstande. |
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Denn was erstlich die natürlichen Dinge
betrifft, so kan ein jedes, nicht allein als ein
Effect
nach seinen
Grund-Ursachen, (welche durch die
Physicalische Wahrscheinlichkeit zu
erfinden sind)
sondern auch wiederum als eine Grund-Ursache
anderer daher zu erwartenden
Würckungen, in
Erwegung des fortwährenden Zusammenhanges
der Natur, krafft dessen dasjenige, was eine
Würckung vorhergehender Grund-Ursachen ist,
immer wiederum eine Grund-Ursache zukünfftiger
Würckungen wird, betrachtet werden. |
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So nöthig und nützlich nun eine fürsichtige
Vorhersehung der Würckungen natürlicher Dinge
ist, selbige klüglich zu gebrauchen: so kan doch
solche Vorhersehung sehr selten mit
demonstrativer Gewißheit geschehen: indem die
Würckungen, die aus einer gegenwärtigen Grund-
Ursache bevorstehen, nach dem Unterschiede
einer Menge uns unbekannter Neben-Umstände,
sehr vielerley seyn können. Derowegen müssen
wir auch in diesem Stücke uns mehrentheils mit
vernünfftigen Vermuthungen behelffen. |
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|
Gleichergestalt, was die moralischen Dinge,
oder die willkührlichen
Thaten der Menschen,
anlanget, so sind selbige ebenfalls nicht allein als
Effecte nach ihren
moralischen Grund-Ursachen,
(welche durch die politische Wahrscheinlichkeit
erfunden werden) sondern auch wiederum als
moralische Grund-Ursachen eines zukünfftigen
Erfolges, zu betrachten. Da nun, solchen Erfolg
gründlich vorher zu sehen, in allen Geschäfften
des menschlichen
Lebens ungemein nützlich und
nöthig ist; und gleichwohl diese so unentbehrliche
Fürsichtigkeit auf das Zukünfftige um so viel
weniger apodictisch und gewiß seyn kan, je mehr
die Ungewißheit, in welcher das menschliche
Gemüth schon vorhin in Ansehung des
Zukünfftigen schwebet, durch die
Freyheit
und
Veränderlichkeit des menschlichen
Willens
vermehret wird: so müssen wir uns auch in
diesem Stücke mit vernünftigen Vermuthungen
begnügen lassen. |
|
|
Es ist demnach die Practische
Wahrscheinlichkeit diejenige Art der Wahrscheinlichkeit, durch welche wir, aus
der Übereinstimmung gewisser Umstände, einen zu erwartenden Erfolg vorher sehen,
oder vermuthen, damit wir, in unsern Unternehmungen, einen
vernünfftigen
Grund der
Hoffnung und
Furcht
haben mögen. |
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Was insonderheit |
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1) |
die
Sache, die hier
vermuthet und wahrscheinlich erkannt wird, oder
die zu vermuthende Hypothesis, anlanget, so ist
selbige einen Erfolg künfftiger Begebenheiten, die
entweder natürliche oder
moralische sind. |
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|
|
Jene werden aus der
Übereinstimmung der Umstände einer natürlichen
Ursache mit einem solchen Erfolg vermuthet, z.E.
Wenn man vermuthet ob man werde einen
heissen Sommer, oder einen harten Winter
bekommen: ob man werde ein fruchtbares
Jahr
haben, oder nicht; diese aber, nehmlich die
Moralische künfftige Begebenheiten, oder den
theils zu hoffenden, theils zu besorgenden Erfolg
menschlicher Thaten, schliesset man aus dem
Zusammenhange der moralischen Ursachen, z.E.
Ob die
Heyrath werde glücklich ablauffen: Ob der
Mensch in der
Weltt |
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{Sp. 1060} |
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werde sein
Glück bald
machen: Ob man von dem andern dürffe betrogen
werden, u.s.f. |
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In beyden kan der
Schluß
entweder Bejahungs- oder Verneinungs-Weise
geschehen, daß man schliesset, es werde sich
dieses zutragen: |
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2) |
Der
Grund dieser
Wahrscheinlichkeit beruhet auf der
Übereinstimmung solcher Umstände, die von dem
gegenwärtigen
Zustande einer natürlichen oder
moralischen Sache, sofern sie als eine
Ursache
angesehen wird, und ihre
Krafft etwas hervor zu
bringen hat, hergenommen werden. Insbesondere
sind die Umstände, oder Phänomena, der
natürlich-practischen Wahrscheinlichkeit, mit
denen solche Hypothesis, wenn sie vermuthlich
seyn soll, übereinstimmen muß, die Kräffte der
gegenwärtigen Ursachen, wie sie einander in
ihren Würckungen, auf unterschiedene Art,
verstärcken, oder hindern. |
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Die Umstände der
moralisch-practischen Wahrscheinlichkeit, durch
deren Übereinstimmung dergleichen Erfolg vor
vermuthlich zu achten ist, sind das gantze
Systema eines Unternehmens, und die darinnen
befindliche
Klugheit, oder Thorheit, mit Zuziehung
derer beylauffenden Glücks-Conjuncturen. |
|
|
|
|
Bey der ersten Art der
practischen Wahrscheinlichkeit, sind die
Regeln
der physicalischen, bey der andern hingegen, die
Regeln der politischen Wahrscheinlichkeit, zu
beobachten. Ferner sind die physicalischen, oder
moralischen Dinge, aus deren gegenwärtigem
Zustande wir ihren bevorstehenden Erfolg vorher
sehen, entweder ausser unserer
Gewalt, und also
blosse
Glücks-Begebenheiten; oder sie sind
unserer willkührlichen Einrichtung anheim
gegeben: dahero durch die practische
Wahrscheinlichkeit theils die zu gewartenden
Folgen des Glückes, theils auch die zu
gewartenden Folgen der Klugheit, vorher zu
sehen sind. |
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|
|
Man kan dahero sagen;
daß diese Wahrscheinlichkeit gleichsam die
Seele
der Klugheit in allen
Arten
menschlicher
Geschäffte sey, und daß auf derselben die
wahrhaffte Gründlichkeit aller klugen Rathschläge
beruhe. Ein Rathschlag ist ja nichts anders, als ein
probabler Schluß, durch welchen derjenige, der
einen gewissen
Zweck
zu erlangen wünschet, unter allerhand, durch das Ingenium ersonnenen,
möglichen Mitteln, und unter allerhand möglichen
Arten des Verfahrens mit denselben, zu
demjenigen sich entschliesset, welches ihm, unter
allem, am practicablesten zu seyn scheinet, das
ist, aus welchem der gesuchte Zweck, als ein
Effect, am wahrscheinlichsten zu gewarten seyn
wird: welches alsdenn zu hoffen ist, wenn ein
jeder Umstand, so wohl des Rathschlages selbst,
als der beylauffenden Glücks-Conjuncturen, eine
Grund Ursache ist, die, durch ihre Kräffte, zu
Erlangung des gesuchten Zweckes, oder Effectes,
etwas beytragen wird, so, daß in allen solchen
Umständen zusammen eine zulängliche Krafft
sey, mit Überwiegung der etwa mit
unterlauffenden verhindernden Umstände, den
gesuchten Effect hervor zu bringen. |
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|
|
|
Da bey der practischen
Wahrscheinlichkeit |
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3) |
auch gewisse Grade statt
finden, wie leicht aus dem obigen zu erkennen, so
ist ein Rathschlag, in welchem diese
Wahrscheinlichkeit in gar geringem Grade zu
befinden, wenn er, aus allzufeuriger Hitze,
dennoch ergriffen wird, ein verwegener, oder
übereilter Rathschlag. Wenn, an statt der
Wahrscheinlichkeit, eine blosse
Möglichkeit des
gesuchten Erfolges vorhanden ist, und man |
|
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|
{Sp. 1061|S. 544} |
|
|
|
auf diese, als auf eine
Wahrscheinlichkeit, hoffet; so ist er schon ein
alberer Rathschlag. Ist der Erfolg gar
unwahrscheinlich, so ist er noch um einen Grade
thörichter. Ist endlich der gesuchte Erfolg gantz
und gar unmöglich, so ist der Rathschlag in dem
äussersten Grade närrisch und unsinnig. |
|
|
|
|
Diejenigen demnach, die
von der Wahrscheinlichkeit keinen Geschmack
haben, verfallen in ihrem Rathschlagen, nachdem
sie von Natur muthig, oder
furchtsam sind, in
einen zweyfachen Fehler: indem sie entweder den
befundenen Grund guter Wahrscheinlichkeit vor
einen Grund gäntzlicher Gewißheit ansehen, und
dadurch in eine schädliche Sicherheit verfallen;
Oder, bey Gewahrwerdung der Möglichkeit eines
widrigen Erfolgs, wohl die besten Rathschläge,
unter dem Vorwande, der Ungewißheit, als
ungegründet verwerffen. |
|
|
|
|
Dieses ist eine der
fürnehmsten Ursachen desjenigen Fehlers, den
weltkluge Leute an den meisten
Gelehrten
wahrgenommen haben, daß sie sich nehmlich, mit
aller ihrer
Gelehrsamkeit, zu politischen
Geschäfften aus dermassen übel schicken: Weil
nehmlich diejenigen unter ihnen, die in der
Scharffsinnigkeit des
Verstandes es am höchsten
gebracht zu haben vermeynen, mit
geometrischen, oder metaphysischen
Demonstrationen gantz und gar eingenommen
sind; Von der Wahrscheinlichkeit aber, als der
Seele politischer Rathschläge, keinen Geschmack
haben.¶ |
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|
|
|
|
VI. Von der gemeinen
Wahrscheinlichkeit.¶ |
|
|
Es ist schließlich noch eine
Art der
Wahrscheinlichkeit, die man die gemeine
Wahrscheinlichkeit (Probabilitatem vulgarem)
nennen könnte, welche nicht auf eine Einsicht in
das
Wesen physicalischer und moralischer Dinge
abzielet, sondern nur einigen
Grund in sich hat,
die
Existentz derselben uns zur Noth glaublich zu
machen. Sie beruhet theils auf die
Erfahrung,
theils auf die Auctorität. Denn wenn die Existentz
einer
Würckung durch öfftere Erfahrung bewähret
wird, so ist zu vermuthen, daß solcher Effect auch
in gegenwärtigem Falle existiren werde, wenn
man gleich die
Grund-Ursachen, und die Art und
Weise, wie es damit zugehet, nicht einsehen
kan. |
|
|
Dasjenige also, was hier wahrscheinlich
erkannt wird, oder die Hypothesis der gemeinen
Wahrscheinlichkeit, ist allezeit die Existentz eines
Effects; Die Umstände aber, durch deren
Übereinstimmung sie wahrscheinlich wird, sind die
beständigen Zeugnisse der Erfahrung, z.E. Man
widerräth einem
Menschen, jähling auf die Hitze
zu trincken, weil man aus dem Grunde öffterer
Erfahrung vermuthet, daß es ihm
schädlich seyn
möchte. Man vermuthet in dem Sommer, aus
öffterer Erfahrung, daß es an einem
Orte
gedonnert haben möge, weil die Lufft jähling sehr
kühle geworden ist. Man besorget, daß eine
Person dieses, oder jenes Geheimniß, verrathen
werde, weil man aus der Erfahrung weiß, daß sie
alles auszuschwatzen pflege. |
|
|
Gleiche Bewandniß hat es mit der
Wahrscheinlichkeit die sich auf die Auctorität
gründet. Wenn nehmlich die Existentz eines
Effects von einem Kunsterfahrnen, der sattsame
Proben seiner
Geschicklichkeit an den
Tag
geleget hat, uns versichert wird, so sind die
Proben seiner Kunsterfahrenheit die Umstände,
aus deren Grunde ein anderer der
Kunst
unerfahrner die Aussage des Kunsterfahrnen
billig
vor glaublicher |
|
|
{Sp. 1062} |
|
|
hält, als was ihn selber, oder andern
Unerfahrnen, etwa düncken möchte. Aus diesem
Grunde, glauben wir, z.E. billig wenn von der
Tödlichkeit einer Wunde Zweiffel vorfällt, der
Aussage und Autorität der
Ärtzte: Auf ihre Treu
und Glauben nehmen wir die uns von ihnen
gereichten Artzneyen, u.s.w. |
|
|
Wir
sagen, daß die gemeine
Wahrscheinlichkeit die Existentz eines Effect uns
zur Noth glaublich mache: Und wollen damit so
viel sagen, daß ihr nur allein in dem Nothfalle zu
trauen sey, wenn uns die
gelehrte
Wahrscheinlichkeit, dadurch wir das innerliche
Wesen der
Dinge nach ihren
Grund-Ursachen
einsehen können, abgehet: Welches dem
gemeinen Manne, wie auch denen
Gelehrten,
oder Künstlern, in
Sachen, die ausser ihrer
Kunst
sind, ja auch zuweilen denen Kunst-Erfahrnen
selbst, in Dingen, deren innerstes noch durch
keine Kunst genüglich hat erforschet werden
können, öffters begegnet. Aus diesem Grunde hat,
z.E. in Haußhaltungs Sachen die gemeine
Wahrscheinlichkeit, die sich auf die blosse
Erfahrung gründet, fast gäntzlich die Oberhand.
|
|
|
Doch ist gewiß, daß, sonderlich in natürlichen
Dingen, keine Wahrscheinlichkeit betrüglicher sey,
als eben diese, wie solches
Rüdiger (de Sens.
Ver. et Fal. …) sehr wohl ausgeführet hat. Dahero
ist es ein grosser Fehler, mit derselben zufrieden
seyn wo, durch eine gründliche gelehrte
Wahrscheinlichkeit, das innere Wesen der Dinge
so gar unerforschlich nicht ist: Denn in diesem
Fall, ist der
Vernunfft gemäß, die gelehrte
Wahrscheinlichkeit mit der gemeinen zu verbinden
und diese, durch jene, auf einen sichern Grund zu
setzen: Ob wohl auch dieses nicht zu leugnen ist,
daß, wenn hingegen die Hypotheses der
Gelehrten nicht gründlich sind, (welches
insgemein geschiehet, wenn ein vermeyneter
Künstler in den Regeln der Wahrscheinlichkeit
übel erfahren ist) man mit der gemeinen
Wahrscheinlichkeit, durch die Erfahrung, oder mit
einem Manne, der in derselben wohl geübet ist,
tausendmahl besser fahre, als mit einem
närrischen Raisonneur. |
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|
|
|
Vor allen
verdienet des berühmten
Herrn
Prof. Ludwig Martin Kahlens Elementa Logicae
Probabilium (Halle
1735
in 8) von der
Wahrscheinlichkeit nachgelesen zu werden, wel- |
|
{Sp. 1063|S. 545} |
|
|
|
cher diese
Materie so vollständig als
gründlich vorgetragen. |
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