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Zedler: Tugend [3] HIS-Data
5028-45-1471-4-03
Titel: Tugend [3]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 45 Sp. 1490
Jahr: 1745
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 45 S. 758
Vorheriger Artikel: Tugend [2]
Folgender Artikel: Tugend, (Christliche)
Hinweise:
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  Erweckung der Tugend

Stichworte Text Quellenangaben
Kirchenlehrer Denen alten Kirchen-Lehrern gefiel die Meynung von den vier Haupt-Tugenden, von denen solche etliche Scholastici bekommen, die auch unter diesem Titul eigene Wercke herausgehen lassen. So lange die Aristotelische Philosophie geherrschet, hat man keine andere Tugend-Lehre,  
  {Sp. 1491|S. 759}  
  als die Aristoteles aufgesetzet, auch in den Christlichen Schulen getrieben, worüber man sich Billig zu verwundern hat. Denn Christen hätten sich schämen sollen, eine Heydnische Tugend-Lehre anzunehmen, und zwar die Aristotelische, welche nach der Vorstellung, die wir oben davon gemacht, nicht einmahl zur Sitten-Lehre gehöret, sondern nur einen Theil der Politick ausmachet.  
  Nachdem die Zeiten einer solchen Sclaverey vorbey waren, und der Anfang der Philosophischen Reformation gemacht wurde, so ist auch die Lehre von der Tugend nach und nach in einen bessern Stand gesetzet worden. Dieses geschahe desto glücklicher; ie mehr man Fleiß anwendete, die natürliche Rechts-Gelehrsamkeit hervor zu suchen. Denn obwol die Sitten-Lehre und die natürliche Rechts-Gelehrsamkeit, als zwey unterschiedene Disciplinen der Philosophen angesehen werden; so sind jedoch dermassen mit einander verbunden, daß keine von der andern kan getrennet werden.  
  Gleichwie die Tugend die Göttlichen Gesetze voraus setzet, also muß die Tugend in dem Gemüthe desjenigen wohnen, welcher nach den Göttlichen Gesetzen sein Leben einzurichten gedencket. Unter den Teutschen ist Thomasius der erste, welcher die gantze Sitten-Lehre, und mit derselbigen die Materie von der Tugend, in einem bessern Stand gesetzet. Denn er hat nicht nur in einem Programmate, welches p. 67 der kleinen Teutschen Schrifften stehet, von den Mängeln der Aristotelischen Ethick gehandelt; sondern auch seine vortreffliche Sitten-Lehre heraus gegeben.  
  Nach ihm folgete Buddeus in dem ersten Theile der Elementor. philosophiae practicae, dem wir beyfügen Gundlingen in via ad veritatem moralem … anderer, die auch ihre Verdienste haben nicht zu gedencken. Rüdiger hat in der Anweisung zu der Zufriedenheit der Seelen die Ethic auf einen gantz andern Fuß, als bisher üblich gewesen, setzen wollen, daher er auch von der Tugend hin und wieder besondere Gedancken hat. Walchs Philosophisches Lexicon.  
  Nachdem wir also nicht nur des Socratis seine Meynung von der Tugend vernommen, sondern auch der vier Haupt-Secten Lehr-Sätze davon angesehen; so wollen wir noch anderer, theils gantzer Secten, theils grosser Männer Gedancken davon anführen.  
Eklektiker Wir machen von der Ecklectischen Secte den Anfang, die sich nach Christi Geburt, unter Anführung und Beförderung des Ammonius Saccas zu Alexandrien hervorgethan. Diese Weltweisen machten 8 Classen der Tugenden, nemlich:  
 
1) natürliche,
2) sittliche,
3) bürgerliche,
4) reinigende,
5) des gereinigten Gemüths,
6) beschauliche,
7) theurgische,
8) göttliche Tugenden
 
  Immer ist eine Stuffe höher als die andere, die letztere aber die allerhöchste, zu welcher niemand leichtlich gelanget.  
  Es ist zwar dieser Eintheilung schon in vorhergehenden, bey Erzehlung der Meynungen der Platonicker kürtzlich erwähnet worden: Doch da die Ecklecticker, ungeachtet sie das meiste von Platone angenommen, dennoch auch in vielen  
  {Sp. 1492}  
  eine Änderung getroffen, und von ihnen zu dem Pythagora übergangen, so gebühret billig ihnen der Name einer besondern Secte, und haben folglich auch ihre Lehren von der Tugend noch besonders müssen angeführet werden.  
  Die natürlichen Tugenden sind die Natur-Gaben, welche den Menschen mitgetheilet sind, daß sie Werckzeuge der Seele werden mögen, z.E. Gesundheit, Schönheit, Stärcke. Diese Art der Tugend trägt nur uneigentlich diesen Namen. Die sittlichen und bürgerlichen Tugenden sind diejenigen practischen Tugenden, welche in dem menschlichen Leben entweder an sich, oder in der bürgerlichen Gesellschafft nöthig sind, und eigentlich unter dem Namen der Tugend bekannt, deren sind die schon in vorhergehenden erwähnten vier Haupt-Tugenden, Klugheit, Tapfferkeit, Mäßigkeit und Gerechtigkeit.  
  Die nach diesen kommenden Stuffen der Tugenden sind schon von höherm Rang, und gehören eigentlich zur Weltweisheit. Denn die reinigenden Tugenden sind diejenigen Vollkommenheiten eines Menschen, der nach der Beschaulichkeit trachtet, und sich von denen untern Dingen und Verrichtungen, wo der Leib mit zu thun hat, und von aller Neigung gegen den Leib und dessen Bewegungen los macht.  
  Kommt man aber darzu, daß man solche philosophische Reinigung erlanget hat, und gehet zu der Vereinigung mit GOtt, so entstehen daraus Tugenden des gereinigten Gemüths, welche sich ebenfalls nach der Haupt-Eintheilung der Tugenden richten. Wenn aber die Seele dahin gekommen, daß sie geistlich (intellectualiter) würcket und handelt, so entstehen daraus die beschaulichen Tugenden, da nemlich die Klugheit die wesentlichen Dinge beschauet, die Gerechtigkeit allein mit denen der Seele zukommenden Dingen umgehet: die Mäßigkeit sich allein zu der Seele kehret, die Tapfferkeit alle Leidenschafften vermeidet, und sich nach demjenigen richtet, das keiner Leidenschafft noch begierlichen Bewegung fähig ist.  
  Theurgische Tugenden sind endlich diejenigen, wodurch ein Diener der Götter tüchtig gemacht wird, mit ihnen in Gemeinschafft zu leben, ihre Erscheinungen zuwege bringen, sie zu seinen Diensten zu haben, und durch ihre Hülffe Wunderwercke zu thun. Und dahin gehören Epoptae u.a.m.  
  Und wer zum höchsten Gut gekommen ist, der hat endlich die göttliche Tugend, oder, welches eben so viel ist, die Gottheit selbst.  
  Diese Tugenden auszuüben, stunde nach ihrer Meynung in des Menschen Gewalt, weil seine Seele einen freyen Willen hat, sich entweder durch die Tugenden zu GOtt zu schwingen, oder dem Laster und dem Cörperlichen anzuhangen. S.
  • Jamblichum von den Geheimnissen der Egyptier…
  • Plotinus Ennead. …
  • Simplicius Commentar. in Enchirid. Epict.
Scholastiker Von denen Eclectickern gehen wir zu denen Scholastischen Weltweisen. Bey diesen war es nun, die Wahrheit zu gestehen, gar übel mit der Tugend bestellt. Denn an statt daß man auf die Verbesserung des Hertzens hätte dringen, und den Leuten weisen sollen, wie sie recht leben und sich vernünfftig aufführen sollen, so disputirte man auf eine Dialectische  
  {Sp. 1493|S. 760}  
  Weise von den Pflichten und Gewissens-Fällen, und theilte die Tugenden auf Aristotelische Art in eilf Classen, denen man Glaube, Liebe und Hoffnung als Theologische Tugenden beysetzte, und wurde also die Ethica des Aristoteles, welche eigentlich einen Griechischen Bürger unterrichtet, in der Gesellschafft wohl und ehrbar zu leben, zu einer Sitten-Lehre gemacht, aus welcher man das Hertz hat sollen verbessern, ja wol gar selig werden können.  
  Zu dem kam, daß man dem Namen der Tugenden gantz andere Bedeutungen beylegte, und dieselbigen nach dem Interesse des Römischen Hofs und der Clerisey überhaupt abmaß, so daß z.E. derjenige gottselig ist, der viel Klöster und Kirchen aufbauete, deren Geistlichen tapffer spendirte, dem Römischen Papst gehorsam war, Creutz-Züge verrichtete, u.s.w. wer aber dieses unterließ, für gottlos geachtet wurde. S. Bruckers Philosoph. Hist. V. Th. …
Barbaren Ehe wir zu denen Verbesserern der Philosophie in den neuern Zeiten schreiten, wollen wir noch mit wenigen der Meynungen, die gewisse Barbaren von der Tugend geheget haben, gedencken.  
  Der erste, der uns von diesen die Tugend lehren soll, mag Locmann, der Arabische Aesop seyn. Als dieser einst gefraget wurde, von wem er die Tugend gelernet, gab er zur Antwort: von denen, die sie nicht gehabt, indem ich mich alles dessen enthalten, was ich an ihnen lasterhafftes erblicket. S. Gallands les paroles remarquables … Paris 1634 …
  Als es an dem war, daß er sterben solte, ließ er seine Söhne vor sein Bette kommen, gab ihnen den Segen, und redete sie dabey folgender gestalt an: Meine Kinder, was ich euch vor allen Dingen zu sagen habe, ist, daß ihr diese 6. Regeln in acht nehmt, welche die gantze Sitten-Lehre der alten und neuen Weisen in sich fassen:  
 
1) Hänget euch nicht mehr an die Welt, als es die Kürtze eures Lebens zuläst.
2) Dienet dem HErrn eurem GOtt, so eifrig, als es euer eigen Bestes erfordert.
3) Arbeitet vor das andere Leben, das auf euch wartet, und erwägt die die Zeit, wie lange dasselbe währen soll.
4) Bemühet euch, dem Feuer zu entgehen, daraus man nicht wieder zurück kommt, wenn man einmal hinein gestürtzet ist.
5) Habt ihr die Verwegenheit zu sündigen: so meßt zuvor, ob eure Kräffte auch zulangen, das Feuer der Hölle und die Strafen Gottes auszustehen. Und
6) wenn ihr sündigen wollet, so sucht euch einen Ort, da er euch nicht siehet.
S. Stollens Historie der Heydnischen Moral…
  Der Chinesische Weltweise, der grosse Confucius, lässet sich hierüber folgender gestalt vernehmen: Will man die Tugend kennen, und zu derselben zu gelangen suchen; so muß man ei-  
  {Sp. 1494}  
  nen festen Entschluß fassen, und unaufhörlich nach diesem Ziel trachten, auch dahero die Wege, so dahin führen, fleißig gehen: Man muß dabey den gefaßten Entschluß, dahin zu gelangen, in seinem Hertzen von Tage zu Tage befestigen, und zwar dergestalt, daß nichts in der Welt denselben auch nur wanckend zu machen vermögend sey. S. La Moral de Confucius
  Und wenn ihr euer Gemüthe in solchem wichtigen Vorsatz dergestalt befestiget habt, so ergebt euch der Betrachtung. Urtheilet bey euch selbst über alle Dinge; bemühet euch, davon einen klaren Begriff zu bekommen; betrachtet alles, was euch vor Augen kömmt, mit Unterscheid; urtheilet davon ohne Vorurtheil und gründlich; erwäget und untersuchet alles mit Fleiß. Nach einer solchen Untersuchung könnet ihr leichte zu den Zwecke gelangen, dabey ihr euch aufzuhalten habt; ich will sagen zu dem Endzwecke, bey dem ihr fest bleiben sollt, das ist, zu einer vollkommenen Ubereinstimmung aller eurer Handlungen mit dem, was euch die Vernunfft eingiebet; welches man Tugend nennt. Ebend.
  Ein vollkommener, d.i. tugendhaffter Mensch, muß allezeit bemühet seyn, sich selbst zu überwinden. Er muß sich nach den Sitten und Sinn anderer Leute richten; aber wie er dennoch allezeit Herr über sein Hertze und sein Thun und Lassen seyn muß; also muß er sich den Umgang oder die Exempel feiger und weibischer Kerle nicht anstecken lassen. Denn er muß nie gehorchen, er habe denn zuvor, was man ihn heißt, wohl untersuchet: er muß also niemals ohne Unterscheid andern was nachthun. Er muß mitten unter so vielen Thoren und Blinden, welche verkehrt wandeln, gerade zugehen, und auf keine Seite ausweichen, denn darinnen bestehet die rechte Stärcke. Ebend.
  Es giebt Leute, welche darum die Grentzen der Mittel-Strasse überschreiten, weil sie nach ausserordentlichen Tugenden trachten; sie wollen in ihrem Thun und Lassen was verwunderungs-würdiges sehen lassen, damit sie die Nachkommen loben und erheben. Was mich betrifft, so werde ich mit dergleichen Thaten nie den Kopff einnehmen lassen, an denen der Hochmuth und die Eigen-Liebe allezeit mehr Antheil hat, als die Tugend. Ich will nichts wissen noch thun, als was ich wissen soll, und überall ausüben kan. Ebend.
  Es sind vier Regeln, nach welchen sich ein vollkommener oder tugendhaffter Mensch richten soll.  
 
1) Er muß das, was er von seinem Sohn fordert, selbst in Ansehen seines Vaters ins Werck stellen.
2) Er muß seinem Fürsten eben so treu dienen, als er will, daß ihm diejenigen dienen sollen, die ihnen unterworffen sind.
3) Soll er sich gegen seinen ältern Bruder so aufführen, wie er will, daß sich sein jüngerer Bruder gegen ihn aufführen möge.
4) Soll er sich so gegen seine Freunde verhalten, wie er will, daß sich seine Freunde gegen ihn verhalten sollen.
 
  {Sp. 1495|S. 761}  
  Ein Tugendhaffter und Vollkommener nimmt diese Pflichten unaufhörlich in acht, so gemein als sie auch aussehen. Wird er gewahr, daß er was versehen, so kan er nicht eher ruhen, bis er solches Versehen wieder gut gemacht. Erkennet er, daß er eine Schuldigkeit, die wichtig ist, unterlassen, so ist keine Gewalt so groß, die er sich nicht anthut, solchen Mangel vollkommen zu ersetzen, u.d.m. S.Stollens Historie der Heydnischen Moral …
Neuere Zeit Auf die neuern Zeiten zu kommen, so haben Cartesii und Malebranche Nachfolger, in Betrachtung, daß so viele Böses aus den Irrthümern und verkehrten Meynungen fliesse, die Tugenden und Laster in der Wahrheit und in dem Irrthum zu finden vermeynet. Mit welchen in dem Puncte der Seneca übereinzustimmen scheint, in dem er in seinem 71 Brieffe fragt, was ist die Tugend? und antwortet: ein wahres und unbewegliches Urtheil.  
  Es scheinet auch hierauf der bekannte Engeländische Vertheidiger der natürlichen Religion, Wolaston, gesehen zu haben, welcher zur Tugend vornehmlich erfordert, daß unsere Handlungen die Wahrheit andeuten, d.i. daß sie nicht nur mit der Meynung unsers Hertzens übereinkommen, sondern auch von dem wahren und richtigen Urtheile zeugen. Unter andern hat einer darwider Inquiry into the Original of our ideas of Beatuy and Virtus, ingleichen: Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections … zu Londen 1728 geschrieben, er ist aber selbst von seinen Lands-Leuten widerleget worden. Er hält davor, die Vollkommenheit der Tugend bestehe in nichts anders, als in einer ruhigen und sich weit erstreckenden Wohlgewogenheit, welche zur Beförderung des Guten bey vielen Menschen, und zur Unterdrückung der eigenen Liebe diene. Er setzt eine gemeine Empfindung von des Nächsten Glück und Unglück zum Grunde. Es haben auch schon die Alten von der Empfindung der Tugend geredet.  
  Malebranche gehet wenig davon ab, in dem Tractat de morale Th. I C. 1. 3. besiehe auch ebend. Buch de la recherche de la verité, und seine Abhandlung de la Nature et Grace.
  Dieser giebet zwar Gattungen der natürlichen Neigungen in dem Menschen an, so gantz unterschieden seyn sollen, als die Begierde und die Liebe, oder die Eigen-Liebe oder die Liebe der Ordnung und Gerechtigkeit. Die letzte hält er vor den eintzigen Quell aller Tugenden. Allein wenn die Eigen-Liebe von der gesunden Vernunfft regieret wird, so streitet sie nicht wider die Liebe gegen andere, ja sie ist entweder mit dieser gantz einerley, oder zeiget zum wenigsten dieselbe aus sich. Bisweilen dienen rechtschaffene Leute andern, und setzen ihre Vortheile hinten an.  
  Büffier Tr. de la Soc. civ. … antwortet, dieses bestehe gar wohl mit der Eigen-Liebe. Denn ein solcher Mensch beweise die Eigen-Liebe auf sehr kluge Weise, dieweil er sich einem Freund also wiedme, daß er sich selbst, vielmehr sich selbst, nemlich sich selbst als einen, der weniger weise sey, sich selbst, da er weise sey; sich selbst, der weniger und nicht so vollkommen Gutes verlange,  
  {Sp. 1496}  
  sich selbst, da er ein vortrefflicher und beständiger Gut suche, wiedme. Allein wer andern aus gutem Hertzen wohlthut, der hat nicht dergleichen Betrachtungen; sondern gedencket nur an das Vergnügen, wenn der andere ihm was zu dancken habe.  
  Ubrigens hat Wolaston schöne Gedancken, und widerlegt nicht unbillig diejenigen, welche mit Sam. Clarck, dem bekannten Gegner von Leibnitzen, die Tugend vor eine geschickte Einrichtung der Handlungen, welche von den Engeländern Fitness genennet wird, halten.  
  Es sind noch viele Meynungen gelehrter Männer von der Tugend übrig; wir wollen aber nur einiger gedencken. Lock de intell. hum. … hält davor, man heisse diejenigen Handlungen Tugenden oder Laster, welche nach eines jeden Volckes Sitten, Ordnungen und Meynungen einmüthig vor gut oder böse angesehen, gelobet oder getadelt werden. Er setzt noch hinzu, obgleich die Meynung derer Völcker in vielen Dingen unterschieden sey; so kommen sie doch in den meisten Puncten, die wahrhafftig Vortheil oder Schaden brächten, überein. Sie soll auch eine solche Macht haben, daß sie offt mehr als Göttliche und menschliche Gesetze vermag. Überhaupt kan dieses von der Tugend nicht gesagt werden. Solte sie denn nichts anders seyn, als was nach der Meynung eines Volckes gelobet wird? Hobbesius hat vorher dergleichen vorgegeben, und Aristippus soll unter den Alten ein solcher Tugend-Lehrer gewesen seyn.  
  Doch Cartesius hat hiervon andere Gedancken. Er schreibt in seinem Buche de Pass. Th. II. Art. 144. 148: dieser sey ein tugendhaffter Mann, welchem sein Gewissen nichts vorwerffen könne, daß er iemals zu thun unterlassen, was er vor besser gehalten.  
  Leibnitz Theodic. Th. II. … sagt: die Tugenden wären darum Tugenden, weil sie zur Vollkommenheit führen, oder doch zum wenigsten von der Unvollkommenheit abführen.  
  Christian Wolff in den vernünfftigen der Gedancken von der Menschen Thun und Lassen … setzet die Tugend darinnen, daß wir bereit seyn, unsere Handlungen nach denen Gesetzen der Natur einzurichten, d.i. dasjenige zu thun, was unsern oder anderer Leute Zustand vollkommen macht.  
  Christian Thomasius in der Einleitung und Ausübung der Sitten-Lehre lobet die vernünfftige Liebe gegen andere als die einzige Sache, die zur Glückseligkeit führe, und als die einzige Tugend.  
  Hieronymus Gundling Ethic. oder Phil. mor. C. 9. lehret, die der menschlichen Natur zukommende Proportion beobachten, und dieselbe nach der Regel einrichten, sey die erste und einzige Tugend.  
  Andreas Rüdiger Philos. pragm. B. III. Abschnidt I. Th. II. C. II. in der Anmerckung bey dem §. 705. nennet die Tugend eine Fertigkeit, die Gemüths-Bewegungen nach der Vorschrifft der Gerechtigkeit zu regieren.  
  August Friedrich Müller in der Einleitung in die Philosophischen Wissenschafften Th. II. … beweiset, daß die Tugend in einer Fertigkeit, die natürlichen Kräffte nach der in der Natur gegründeten Ordnung der Mittell  
  {Sp. 1497|S. 762}  
  und Absichten zu gebrauchen, bestehe.  
  Eduard Corsini, ein neuer Weltweise in Italien, Institut. Philos. Band V. … beschreibet die Tugend, daß sie eine Vollkommenheit der Seele sey, welche durch gute oder vollkommener Handlungen erlanget werde, und das Gemüthe dieselben Handlungen wieder auszuüben neige.  
  Viele sagen auch, die Tugend sey nichts anders als ein standhaffter Vorsatz, nach der gesunden Vernunfft und nach dem Willen GOttes zu leben. S. George Friedrich Richters Progr. de virtute hominum morali placita philosophorum, Leipzig 1735.  
  Zum Beschluß wollen wir noch die wunderliche Meynung, die der beruffene GOttes-Läugner Spinoza von der Tugend hat, anführen. Die Tugend ist bey ihm eben so viel als die Krafft, und erklärt er sich davon in seiner Sitten-Lehre Th. IV. folgendergestalt: Die Tugend, so ferne sie sich auf den Menschen beziehet, ist das Wesen oder Natur des Menschen selbst, so ferne dieselbe die Macht besitzet einige Dinge zu thun, welche sich bloß allein aus den Gesetzen seiner Natur verstehen lassen. Die Bemühung sich selbst zu erhalten, hält er vor die erste und eintzige Quelle der Tugend. Weil nach seinem Vorgeben sich keine andere Quelle eher als diese gedencken liesse, und ohne dieselbe auch keine Tugend gedacht werden könte. Ebend. IV. Th. Art. 449. u.f.
  Er hält davor, daß man von einem Menschen, soferne derselbe etwas zu thun daher determiniret würde, weil er unvollständige Begriffe hätte, nicht schlechterdings sagen könte, daß derselbe die Tugend ausübe, sondern nur, soferne er daher determiniret wird, weil er etwas deutlich erkennet, IV. Th. Art. 451.
  Die Tugend schlechterdings auszuüben ist, nach dem Spinoza, in uns nichts anders, als nach Anleitung der Vernunfft handeln, leben, sein Wesen erhalten, welche drey Dinge (wie er hier anmercket) einerley bedeuten, und dieses aus dem Grunde, seinen Nutzen zu befördern. Ebend. Art. 452.  
  Er bringt ferner vor, daß ie mehr iemand bemühet und vermögend wäre seinen Nutzen zu befördern, d.i. sein Wesen zu erhalten; destomehr Tugend besässe derselbe: und im Gegentheile, in soferne als iemand seinen Nutzen zu suchen, oder sein Wesen zu erhalten verabsäumte; destoweniger Tugend hätte derselbe, und desto unvermögender wäre er. Ebend. Art. 446.
  Im 444. Art. dringt er darauf, daß man die Tugend um ihrer selbst willen begehren müsse; und daß in der Natur nichts vortrefflicheres und für uns nützlicheres anzutreffen sey, um wessentwillen man sie begehren solle, als eben dieselbe.  
Theologie Bey denen GOttes-Gelehrten ist die Tugend nichts anders als ein ernstliches und beständiges Bemühen, sich in allen Stücken nach dem Willen GOttes anzuschicken. Denn wer GOtt liebet, dessen erste und vornehmste Sorge muß billig diese seyn, wie er ihme gefallen, und nach dessen Winck und Willen sein gantzes Leben einrichten wolle. Gleichwie aber die Liebe eine Tochter des Glaubens, und also nicht ein Werck der Natur, sondern eine Frucht des Geistes ist: also muß man auch eben dieses von der Tugend sagen,
  • Gal, V, 22.
  {Sp. 1498}  
   
  • 2 Petr. I, 5.
  • Ebr. XI, 6.
  Daher kömmt es auch, daß Paulus sagt, er bethe vor seine Ephesier, daß sie erfüllet würden mit allerley GOttes-Fülle, d.i. mit allen Tugenden, welche Gaben GOttes sind,
  • im III. Cap. 19.
  • Röm. XV, 13.
  • Philipp. I, 9.
  Diese Bemühung muß beständig und ernstlich seyn. Denn die fliegende Hitze bisweilen etwas zu thun, was recht ist, die aber bald wieder nachläst, verdienet den schönen Namen der Tugend im geringsten nicht. Es ist nur eine einzige Tugend, wenn man von der Sache genau reden will. Massen nicht mehr als eine Bemühung ist, sich und seine Handlungen nach dem Willen GOttes anzuschicken. Doch weil diese Bemühung nach dem Unterscheide der mannigfaltigen Dinge, damit sie zu thun hat, sich mancherley erweiset, so bekommet sie unterschiedliche Benennungen. Und in diesem Verstande kan man allerdings sagen, daß mancherley Tugenden, gleichwie auch mancherley Pflichten der Menschen sind,
  • Philipp. IV, 8.
  • 2. Petr. I, 5. u.ff.
  Man kan es mit dem Gleichnisse von der Sonne erläutern; es ist zwar nur eine Sonne, aber nach dem Unterscheide der Dinge, in welche sie würcket, sind auch ihre Würckungen sehr unterschieden. Die Personen, gegen welche sich die Tugend vornemlich erweist, sind dreyerley: GOtt, der tugendhaffte Mensch selbst, und andere Menschen oder der Nächste. Denn was gegen die guten Engel in acht zu nehmen, und was ihnen zu erweisen ist, das kan zu den Pflichten eines Menschen gegen seinen Nächsten gezogen werden: gleichwie das, so man in Ansehung des Viehes zu beobachten hat, zu den Pflichten des Menschen gegen sich selbst zu rechnen ist.  
  Demnach sind drey Haupt-Tugenden: Gottseligkeit, Mäßigkeit und Gerechtigkeit, worinnen uns der heil. Apostel selbst Beyfall giebt, Tit. II, 12.
  Die aber so  
 
  • aus Aristotele eilff;
 
 
  • ingleichen zwölff (oder vielmehr neun) Haupt-Tugenden aus Gal. V, 24. Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanfftmuth, Keuschheit, worzu die gemeine Lat. Übersetzung noch drey andere setzet, als Langmuth, Bescheidenheit und Enthaltsamkeit;
 
  Es. XI, 2.
 
  • oder achte,
aus Matth. V, 3 u.f.
  machen wollen, denen fehlet es am gewissen Grunde. Denn die Meynung derer, welche 4 Haupt-Tugenden, als Klugheit, Tapfferkeit, Mäßigkeit, Gerechtigkeit setzen, kan gar leicht mit der unseren verglichen werden.  
  Die Gottseligkeit ist die Bemühung sich in allem, was zum Dienste GOttes gehört, nach dem göttlichen Willen zu richten. Und da auch der Gottesdienst die richtige Meynung von GOtt und göttlichen Dingen in sich schliesset, und entweder innerlich oder äusserlich ist, so ist dieses alles unter dem Namen der Gottseligkeit begriffen. Denn es ist nichts ungewöhnliches, daß das Wort pietas, Gottseligkeit, also genommen wird, womit auch das Griechische Wort eusebeia Tit. I, 12. übereinkommt.  
  Das Wort Mäßigkeit nehmen wir gleichfalls in weitläufftigem Verstande, in soferne es sich auf alle Pflichten des Menschen gegen sich selbst erstrecket. Denn die Mäßigkeit ist nicht allein beym Essen und Trincken nöthig, sondern auch in der ehelichen Freundschafft, überdieß in Beherrschung der Affecten, endlich auch in Erduldung  
  {Sp. 1499|S. 763}  
  der Widerwärtigkeit und anderen Dingen; dieses alles aber zu unserer eigenen Erhaltung. Die Bemühung nun, in diesem allen sich nach dem Willen GOttes zu verhalten, heisset mit einem Worte, Mäßigkeit. Wie denn auch der Apostel Tit. 2, 12. alle hieher gehörige Pflichten durch das Wort sophronous, züchtig oder mäßig, ausdruckt.  
  Gleichergestalt nehmen wir das Wort Gerechtigkeit in dem allerweitläufftigsten Begriffe, wie es theils insgemein, die Pflichten gegen einander, wir mögen nun vollkommen, oder unvollkommener weise darzu verbunden werden; theils insonderheit, die Pflichten so aus einem gewissen Stande entspringen; in sich begreiffet. Heisset demnach Gerechtigkeit in dieser Bedeutung, eben so viel als Liebe, wenn dieses Wort gleichfalls weitläufftig genommen wird. Denn sonst, wenn man beyde Wörter Gerechtigkeit und Liebe in besondern Verstande nimmt, gehet die Gerechtigkeit auf die Pflichten, so eine vollkommene Verbindlichkeit haben: die Liebe aber auf die, dabey die Verbindlichkeit nur unvollkommen ist. Wir nennen also die Gerechtigkeit eine Bemühung, sein Thun und Lassen in allen Pflichten gegen den Nechsten, sie mögen allgemein oder absonderlich seyn, nach dem Willen GOttes anzustellen.  
  Aus dieser bisher abgehandelten Lehre der Tugenden ist gar leicht dieses zu ersehen, daß sie allerseits unauflöslich mit einander verbunden sind: wer eine hat, der hat die andern alle; wem eine einzige fehlt, dem fehlen sie alle mit einander. Denn wenn die beständige und ernstliche Bemühung, sich nach dem Willen GOttes anzuschicken, in einer einigen Sache, die ihr oblieget, nicht das ihrige thut, so kan sie auch in den übrigen nicht zugegen seyn. Wäre sie da, so würde sie sich gewiß allenthalben äussern, und in allen Dingen, darauf sie gewiesen ist, hervorthun. In Wahrheit, wer sich stellen will, als wäre er dem göttlichen Willen gehorsam, und doch seinen Gehorsam nicht, wie er solte, erweiset, der ist in der That nichts weniger als gehorsam. Eben das bestätiget auch die Heil. Schrifft, wenn sie sagt: So iemand spricht: ich liebe GOtt, und hasset seinen Bruder, der ist ein Lügner, I. Joh. IV, 20. besiehe auch I. Joh. III, 17. Jacob II, 10. Buddei Sitten-Lehre P. I. Abtheil. V.
Jura Endlich auf die Rechts-Gelehrten zu kommen, so gehöret deren Ausübung und Belohnung allerdings auch vor sie. Nur daß bey diesen das Wort Tugend in einem etwas andern Verstande, als bey denen Moralisten, oder sonst insgemein, genommen wird, ob sie gleich in denen Haupt-Begriffen und der darunter angedeuteten Sache auf das genaueste mit einander überein kommen.  
  Es heisset nemlich bey jenen alles dasjenige, was diese Tugend nennen, nur Gerechtigkeit, und zwar in sofern man dieses letztere Wort nicht in einem so engen und eingeschränckten Verstande annimmt, als man selbigem insgemein beylegt, sondern da man solchem einen etwas weitläufftigern Umfang zuschreibt, dessen Inbegriff sich überhaupt auf alle menschlichen Handlungen, so im gemeinen Leben vorkommen, erstrecket, oder da  
  {Sp. 1500}  
  man, besser zu reden, die Gerechtigkeit auf zweyerley Art, das heist, in allgemeinem und sonderlichem Verstande, betrachtet.  
  Und kan man also gar wohl sagen, daß, wie überhaupt der Zweck der Rechts-Lehre darinne bestehet, daß die Gerechtigkeit in allen und ieden menschlichen Handlungen in Acht genommen, und dieselben nach der Richtschnur derer Gesetze und Rechte abgemessen und eingerichtet werden sollen, also auch eben diese Gerechtigkeit nichts anders, als die Tugend, oder eine würckliche und unaufhörliche Bemühung ist, denen Gesetzen gemäß zu leben und zu handeln, und dieselben auf keinerley Weise zu verletzen.  
  Doch theilet man dieselbe, die Sache desto begreifflicher zu machen, in die allgemeine und sonderliche Gerechtigkeit.  
  Jene, oder die allgemeine, begreiffet überhaupt alle und iede Tugenden in sich, wenn nemlich ein Mensch sich dererselben nach der Ordnung derer Gesetze befleißiget, und solche zum Nutzen des gemeinen Wesens richtet. Es meynen zwar einige, daß die allgemeine Gerechtigkeit eine von denen übrigen Tugenden unterschiedene Tugend sey, und ihr Amt darinnen bestehe, daß sie die Tugenden befördere, und solche zu einer Würckung bringe. Andere aber lassen keinen andern Unterscheid zu, als in der Art, sich solche einzubilden, und sagen, wenn man die Tugend an sich selbst betrachte, und auf den Besitzer, welcher davon tugendhafft genannt wird, sehe, so heisse es eine Tugend; wenn man aber die Tugend in ihrer Würckung betrachte, und da man andern dasjenige, was man ihnen in Ansehung der Tugenden schuldig ist, leistet, alsdenn heisse es eine Gerechtigkeit.  
  Die sonderliche Gerechtigkeit aber bestehet darinne, daß ein Mensch in denen Sachen, in welchen einer dem andern zu viel oder zu wenig thun, oder Schaden und Vortheil zufügen kan, einem ieden dasjenige zueigne, was ihm, denen Rechten und der Billigkeit nach, gebühret.  
  Wovon, wie auch von der weitern Eintheilung der Gerechtigkeit in die Austheilungs- und Handlungs- oder Vergleichs-Gerechtigkeit (Lat. Justitiam distributivam et commutativam sive correctoriam) bereits unter dem Artickel Gerechtigkeit, im X. Bande. p. 1080. u.f. gehandelt worden.  
Erweckung der Tugend Gegenwärtig wollen wir also nur noch mit wenigem untersuchen, ob und in wie fern durch besondere Belohnungen derer guten Thaten irgend noch die Tugend erweckt, und deren Ausübung befördert werden könne. Ob wol nicht zu läugnen, daß die durch die Gesetze eingeführten Strafen die bösen Thaten, welche sonst, da sie nemlich entweder gar nicht, oder allzu gelinde bestrafet würden, allzusehr überhand nehmen möchten, zurücke halten, und so nach die guten einiger massen befördern; so können sie doch nicht zuwege bringen, daß die Menschen nach allen Kräfften gutes thun, sondern dieses entstehet nur aus zweyen Ursachen, entweder aus dem Affect derer Menschen, oder aus der Tugend dererselben.  
  Was die Tugend anbelanget,  
  {Sp. 1501|S. 764}  
  die hat ein Regent nicht so in seiner Gewalt; aber durch die Affecten kan er die Menschen kräfftig zum Guten antreiben, welches geschiehet, wenn er diejenigen, die zum Nutzen des allgemeinen Wesens, folglich auch des Regenten, etwas mehrers gethan, als ihre Schuldigkeit erfordert, belohnet, indem er ihnen von Ehre, Geld oder Vergnügen etwas zuwendet. Weil nun aber viel Vergnügen die Leute wollüstig, viel Ehre die Ehre selbst geringschätzig machet, das Geld aber der Regent, und die Republick sonst gebrauchen; so hat jener seine Klugheit vornemlich dahin zu richten, wie durch die Belohnungen die Tugend erweckt, und doch die Republick nicht sonderlich beschwert werde. Beydes erfordert die Klugheit.  
  Die Mittel darzu sind dreyerley,  
 
(1) die kluge Belohnung mit Geld, daß es dem Regenten und allgemeinenm Wesen nichts koste;
(2) die kluge Belohnung mit Ehren;
(3) die kluge Belohnung mit Lust.
 
  Was die erste anbelanget, die bestehet darinnen, daß man wohlverdienten Leuten diejenigen Chargen der Republick gebe, welche austräglich sind, und keine sonderbare Mühe brauchen. Denn solche Chargen, wenn sie wohlverdienten Männern gegeben werden, sind eben so gut, als ob ihnen Pension gereichet würde: dahin gehören alle Chargen, da man nur seine Person präsentiren darff, oder sich iemanden halten kan, der die Arbeit thut.  
  Auch belohnet man sie einiger massen mit Gelde, wenn man ihnen die Ämter, worzu die Sache gehöret, darinnen sie sich sonderbar hervor gethan, vor andern conferiret.  
  Zu denen Ehren-Belohnungen gehören diejenigen, wenn man iemanden, der sich wohl gehalten, solche Ehre giebt, dabey er nichts einzunehmen hat. Denn wenn Geld bey der Ehre zu machen ist; so pflegt man die Betrachtung des Geldes vorzuziehen, weil, wie bekannt, wer Geld hat, sich Ehre kauffen, nicht aber wer Ehre hat, gewiß Geld dadurch erwerben kan.  
  Nun besitzt ein Regent einen unerschöpfflichen Schatz der Ehre, daß er alle seine Unterthanen damit erfreuen könte. Denn ob er sie wol nicht alle zum Doctorn machen könte; wenigstens diejenigen nicht, welche weder lesen noch schreiben könten; so vermöchte er sie doch alle in den Adel-Stand zu erheben. Die Klugheit erfordert aber, daß man die Ehre nicht lasse allgemein werden, weil sie sonst nichts mehr geachtet wird, und also auch die Unterthanen zu sonderbaren Thaten nicht anfrischet. Und deswegen muß der Regent nicht also die Ehre ertheilen, daß sie durch die Geburt fortgepflantzet werde. Denn sonst werden der Geehrten in kurtzer Zeit eine solche Menge, daß, wenn die Ehre nicht verächtlich werden soll, er durch dergleichen Ertheilung die Unterthanen nicht mehr ermuntern kan.  
  Deswegen aber sagen wir nicht, daß, wenn in einem Lande einige Dignitäten, von langen Zeiten her, erblich sind, daß man denen Besitzern dieses Recht benehmen solle; sondern wir halten allerdings davor, daß, solches zu thun, sowol der Klugheit, als der Gerechtigkeit, zuwider wäre: Unterdessen hat man nicht Ursache, von neuem solche Dignitäten erblich zu machen, sondern es also zu halten, wie man bey denen Rittern zu thun pfleget, welche, wegen ihrer hohen Meriten, diesen oder jenen Orden erlangen, aber deswegen auf ihre Kinder nicht fortpflantzen können.  
  {Sp. 1501}  
  Wenn zwar ein wohlverdienter Vater allezeit Kinder seinesgleichen zeugte, welches bey denen Thieren, in Ansehen des Leibes, noch so ziemlich geschicht; so können dergleichen erbliche Dignitäten dem gemeinen Wesen so wohl zu statten kommen, daß, weil die vor Zeiten bey denen Ahnen durch Ehre erweckte Tugend noch in denen Nachkommen immer fort grünete, der Republick allenfalls eine dergleichen weitere Erweckung entbehren könte.  
  Wer weiß aber nicht, wie viel und artige Kinder auch von denen besten Eltern entsprossen? Ob auch schon der Leib bey denen Menschen, wie bey denen Thieren, gesunden Eltern nachschlägt; so ist es doch, wie die Erfahrung bezeuget, mit dem wesentlichen Theile des Menschen, der Seele, gantz anders. Sie scheinet zwar manchmahl der Seele derer Eltern nachzuarten; aber offt zeugen die besten Eltern die schlechtesten, und die schlechtesten Eltern die besten Kinder, deren Seelen-Kräffte, zum Nutzen des gemeinen Wesens, mit Hoffnung der Ehre, aufzumuntern, allezeit nützlich ist. Denn ein kluger Regent muß die Kräffte der Natur, zu seinem und der Republick Nutzen, ohne Ansehen anderer Umstände, wo er sie findet, zu gebrauchen wissen.  
  Nicht allein aber verliehret die Ehre ihrer Krafft zur Aufmunterung der Tugend, wenn sie gar zu gemein, sondern auch wenn sie offenbar Unwürdigen gegeben wird. Also sind gründliche Studien zwar nicht eine gar zu ausserordentliche, jedoch auch nicht gar zu gemeine, indessen doch der Republick und dem Regenten gar nützliche Beschaffenheit, worzu man vor Zeiten, durch Verleihung derer Academischen Würden, muntere Köpfe antriebe. Nun aber ist die Sache dergestalt verfallen, daß niemand Ursache hat deswegen eine Zeile mehr zu studiren, als er sonst etwa zu der Brod-Kunst benöthiget ist. Denn wenn er ein bis zwey hundert Thaler bey sich, und nur so viel Wissenschafft hat, als ein mittelmäßiger Studiosus in einem Jahre lernen kan; so kan er nur auf gewisse Academien reisen, und gewiß versichert seyn, daß er den höchsten Academischen Titel zurück bringen werde. An manchen Orten aber braucht man zwar mehr Geld; iedoch nicht mehr Gelehrsamkeit.  
  Die leeren Würden sind eine Sache, damit sich ein Fürst, dem sie weder Mühe noch Geld kosten, ungemeine Dienste von seinen Unterthanen erwerben kan. Denn wenn sie sehen, daß dieselben nur denenjenigen ertheilet werden, die was sonderbahres prästiren; so finden sich unendlich viel edle Gemüther, welche alle Jugend-Lust, ja Leben und Vermögen, zum Nutz des Regenten und der Republick aufopffern. Von welchem man ohnstreitig mehr Nutzen hat, als wenn man sie vor etliche hundert Reichs-Thaler einigen reichen, sonst aber nicht viel nützen, oder doch lange nicht zu geschickten Köpfen, verhandelt.  
  Zu dem ist es auch darzu höchst nützlich, daß solche Würden nicht verkaufft, sondern denen, die es verdienen, ertheilet werden, weil dadurch eine gantze Nation zur Ehre gereitzet wird. Es kan aber eine Nation, wie man an denen alten Römern gesehen, nicht vortrefflicher werden, als wenn man die meisten darunter die Mittel der Ehre zu ergreiffen sich bemühen.  
  Im übrigen haben wir  
  {Sp. 1503|S. 765}  
  von denen Belohnungen mit Lust, als der dritten Art, nicht viel zu gedencken. Denn sie ist eine Belohnung vor arme Leute, die sich vor ihr eigenes Geld keine Lust machen können, als wenn man einem Regiment Soldaten, die sich wohl gehalten, etliche Faß Bier schencket, u.d.g. Sie ist unterdessen, so schlecht sie ist, von gar guter Würckung.  
     

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HIS-Data 5028-45-1471-4-02: Zedler: Tugend [3] HIS-Data Home
Stand: 30. März 2013 © Hans-Walter Pries